Deutschland meldet weltweit die zweitmeisten Patente an – und feiert dies als Beleg für Innovationskraft. Doch ein Blick auf die technische Struktur der Anmeldungen offenbart ein anderes Bild: Die Zahlen dokumentieren vor allem die intensive Optimierung ausgereifter Technologien, nicht die Erschließung neuer Wachstumsfelder.


Das Europäische Patentamt bescheinigt Deutschland auch 2024 eine Spitzenposition im internationalen Vergleich. Mit rund 25.000 Anmeldungen liegt das Land hinter den USA auf Platz zwei, die Wachstumsraten bewegen sich im niedrigen einstelligen Bereich. Wirtschaftsverbände und Medien leiten daraus regelmäßig eine ungebrochene Innovationsstärke des Standorts ab. Diese Lesart verkennt allerdings, was Patentstatistiken tatsächlich messen – und was nicht.

Ein Patent dokumentiert eine technische Erfindung, die neu, gewerblich anwendbar und nicht trivial ist. Über den ökonomischen Wert, das Marktpotenzial oder die strategische Relevanz der geschützten Technologie sagt die bloße Anmeldung nichts aus. Ein Detailpatent zur Abgasnachbehandlung im Dieselmotor zählt statistisch ebenso wie ein Basispatent in der Leistungselektronik oder ein grundlegender Algorithmus für maschinelles Lernen. Die Hebelwirkung für künftige Wertschöpfung könnte unterschiedlicher kaum sein.

Aufschlussreicher als die Gesamtzahl ist daher die technische Struktur der deutschen Anmeldungen. Hier zeigt sich ein Bild beharrlicher Kontinuität: Der Maschinenbau stellt mit etwa 40 Prozent weiterhin den größten Anteil, gefolgt von Elektrotechnik und Instrumententechnik. Besonders dynamisch entwickelt sich das Feld Transport – ein Segment, das vor allem automobile Anwendungen umfasst und damit strukturell bestehende Stärken verlängert, statt neue Pfade zu eröffnen.

Diese Konzentration spiegelt sich auch in der Rangfolge der Anmelder. Bosch führt die deutsche Statistik seit Jahren mit deutlichem Abstand an, gefolgt von BMW und Mercedes-Benz. Die Portfolios dieser Unternehmen liegen traditionell im Automobilbereich: Antriebstechnik, Sensorik, Fertigungsprozesse, Fahrerassistenzsysteme. Es handelt sich überwiegend um inkrementelle Verbesserungen in ausgereiften Märkten, nicht um die Erschließung grundlegend neuer Technologiefelder.

Die Interpretation dieser Befunde führt zu einem Paradox. Was auf den ersten Blick als Stärke erscheint – eine hohe und stabile Erfindungstätigkeit etablierter Unternehmen –, erweist sich bei näherer Betrachtung als Ausdruck struktureller Pfadabhängigkeit. Konzerne wie Bosch haben über Jahrzehnte enorme Forschungskapazitäten in klassischer Mechatronik und Verbrennungstechnologie aufgebaut: Prüfstände, Simulationsumgebungen, hochspezialisiertes Personal. Diese Infrastruktur erzeugt einen inneren Zwang zur fortgesetzten Nutzung, selbst wenn die Zukunftsrelevanz der Ergebnisse fraglich wird. Das Patent wird zum Rechtfertigungsdokument für Ressourcenbindung, nicht zum strategischen Wettbewerbsinstrument.

International verschieben sich die Gewichte derweil erkennbar. In den Vereinigten Staaten und China wächst der Anteil von Patenten in Feldern wie künstlicher Intelligenz, Halbleitertechnologie, Batteriematerialien und Biotechnologie deutlich schneller als in klassischen Industriesektoren. Diese Verschiebung signalisiert nicht nur veränderte Forschungsprioritäten, sondern auch eine strategische Positionierung für die Wachstumsmärkte der kommenden Dekade. Deutschland dagegen optimiert mit hohem Aufwand Technologien, deren Lebenszyklus sich dem Ende zuneigt.

Die Qualitätsdimension verstärkt diesen Befund. Internationale Patentanalysen bewerten zunehmend nicht nur die Menge, sondern auch die Zitationshäufigkeit und die geografische Reichweite von Patentfamilien. Deutsche Patente in traditionellen Feldern zeigen hier durchaus hohe Zitationsraten – allerdings vorwiegend durch andere deutsche Anmelder in denselben Branchen. Es entsteht ein selbstreferenzielles System, das interne Kohärenz mit externer Relevanz verwechselt. Die eigentlich aufschlussreiche Frage lautet: Wie oft greifen chinesische oder amerikanische Technologieunternehmen auf deutsche Patente zurück, wenn sie Produkte in Zukunftsfeldern entwickeln?

Die kommunikative Verwertung der Patentstatistik folgt einem Muster, das sich auch in anderen Bereichen der Standortdebatte beobachten lässt. Je fragiler die tatsächliche Wettbewerbsposition wird, desto intensiver werden Surrogatindikatoren betont, die das gewünschte Bild bestätigen. Die Patentzahl eignet sich dafür besonders gut: Sie ist eindeutig messbar, international vergleichbar und positiv konnotiert. Dass sie über die wirtschaftlich relevanten Fragen – technologische Führerschaft in Wachstumsmärkten, Skalierbarkeit von Geschäftsmodellen, Produktivitätseffekte – keine Auskunft gibt, bleibt in der medialen Verkürzung regelmäßig unerwähnt.

Aus einer hohen Zahl an Patenten, zumal stark konzentriert in Automobil und Maschinenbau, lässt sich letztlich nur ablesen, dass deutsche Unternehmen ihr bestehendes Technologie- und Geschäftsmodell intensiv pflegen. Das ist legitim und kurzfristig rational. Es ist aber keine Innovationsstrategie für die nächsten zwanzig Jahre. Die Frage, die sich stellt, ist nicht, ob Deutschland erfinderisch bleibt. Sie lautet, ob es das Richtige erfindet.


Quellen:

Handelsblatt: „Deutschland bei Patenten weltweite Nummer zwei nach USA“ (24.03.2025)
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/patente-deutschland-bei-patenten-weltweite-nummer-zwei-nach-usa/100116151.html​

Tagesschau: „Rang zwei hinter den USA – Deutschland holt bei Patenten auf“ (25.03.2025)
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/patente-eu-deutschland-usa-100.html​

Deutschlandfunk: „Deutschland bei Patenten weltweite Nummer zwei nach USA“ (25.03.2025)
https://www.deutschlandfunk.de/deutschland-bei-patenten-weltweite-nummer-zwei-nach-usa-114.html​

Manager Magazin: „Deutschland weltweit auf Platz zwei bei Patentanmeldungen“ (24.03.2025)
https://www.manager-magazin.de/unternehmen/siemens-basf-und-co-deutschland-weltweit-auf-platz-zwei-bei-patentanmeldungen-a-69ce5.html​

ZDH (Zentralverband des Deutschen Handwerks): „Platz zwei für Deutschland bei Patentanmeldungen weltweit“ (12.05.2025)
https://www.zdh.de/themen-und-positionen/handwerk-international/aussenwirtschaft/newsletter-export-info-service/aussenhandel/platz-zwei-fuer-deutschland-bei-patentanmeldungen-weltweit​

AHK Slowenien: „Deutschland weltweit auf Platz zwei bei Patentanmeldungen“ (17.04.2025)
https://slowenien.ahk.de/de/news/news-2025—2030/news-2025/deutschland-weltweit-auf-platz-zwei-bei-patentanmeldungen-slowenien​

DPMA – Jahresbericht 2024 (offizielle Statistik zu deutschen Patentanmeldungen und -beständen)
https://www.dpma.de/jb2024/​

Übersicht/Analyse zum DPMA-Jahresbericht 2024 (Blog Leckel)
https://www.leckel.com/jahresbericht-2024-des-deutschen-patentamts/​

Ingenieur.de: „Diese deutschen Unternehmen melden am meisten Patente an“ (24.03.2025) – inkl. Rangfolgen Bosch, Autoindustrie etc.
https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/rekorde/diese-deutschen-unternehmen-melden-am-meisten-patente-an/​