Vor über fünfzig Jahren diagnostizierte Alvin Toffler eine Krankheit, an der die deutsche Wirtschaft heute stirbt: die Unfähigkeit, Lernen zu lernen. Seine Prognosen lesen sich wie eine präzise Obduktion des deutschen Industriemodells. Dabei ist die Diagnose noch älter: Schon Alfred Marshall beschrieb in den 1880er Jahren, wie Großbritannien den industriellen Vorsprung verlor, weil es aufgehört hatte, von anderen zu lernen. Deutschland war damals der hungrige Aufsteiger. Heute ist es das saturierte Empire.
Die vergessene Prophezeiung
Als Alvin Toffler 1970 seinen »Zukunftsschock« veröffentlichte, war die Bundesrepublik auf dem Höhepunkt ihres Wirtschaftswunders. Deutsche Ingenieure bauten die besten Autos der Welt, deutsche Maschinenbauer exportierten in jeden Winkel des Globus, deutsche Banken finanzierten den industriellen Aufstieg mit der Zuverlässigkeit eines Uhrwerks. Tofflers Warnungen vor einer Welt, in der »Individuum und Institutionen vor Grenzen der Anpassungsfähigkeit stehen, die bisher unbekannt waren«, mussten den deutschen Managern jener Zeit als typisch amerikanische Hysterie erscheinen.
Fünfzig Jahre später zeigt sich, dass Toffler nicht übertrieben hatte – er war lediglich zu früh. Was er als »Zukunftsschock« beschrieb, die systematische Überforderung menschlicher und institutioneller Anpassungsfähigkeit durch beschleunigten technologischen Wandel, ist heute die Diagnose für das Scheitern der deutschen Digitalisierung, den Niedergang der Automobilindustrie und die strukturelle Reformunfähigkeit deutscher Institutionen.
Eine viktorianische Parallele
Die Geschichte kennt Präzedenzfälle. Als Alfred Marshall in den 1880er Jahren die Verlangsamung des britischen Industriewachstums analysierte, identifizierte er Ursachen, die heute erschreckend vertraut klingen: ein ungenügendes Bildungssystem, die geringe Verknüpfung mit wissenschaftlicher Forschung und eine erlahmte Innovationsorientierung. Großbritannien, einst Werkstatt der Welt, hatte aufgehört zu lernen.
Marshall forderte seine Landsleute auf, zu einer Kultur des Lernens zurückzukehren: »The time had passed at which they could afford merely to teach foreigners and not to learn from them in return.« Die Zeit war vorbei, in der man es sich leisten konnte, Ausländer nur zu belehren, ohne im Gegenzug von ihnen zu lernen.
Deutschland war damals einer jener lernenden Aufsteiger, die Großbritannien überholten. Deutsche Ingenieure studierten britische Fabriken, deutsche Universitäten verknüpften Wissenschaft und Industrie, deutsche Unternehmer kopierten und verbesserten. Heute befindet sich Deutschland in der Position des viktorianischen England: saturiert, selbstzufrieden, unfähig zu akzeptieren, dass die Schüler von einst – diesmal Amerikaner und Chinesen – längst die Lehrmeister geworden sind.
Die kombinatorische Explosion
Tofflers zentrale Einsicht betrifft die Natur technologischer Innovation selbst. Während die Zahl neuer Technologien arithmetisch wächst, vermehren sich die möglichen Kombinationen progressiv. Der Computer, schreibt Toffler, sei nicht einfach eine weitere Maschine, sondern Bestandteil einer »Supermaschine« – gekoppelt mit Messinstrumenten, Kommunikationsanlagen und Energiequellen. Entscheidend ist: »Jeder Versuch, Maschinen zu Supermaschinen zu machen, zwingt uns also zu weiteren technologischen Neuerungen.«
Diese Beschleunigungsdynamik erklärt, warum deutsche Unternehmen systematisch den Anschluss verlieren. Sie verstehen Innovation als linearen Prozess: Ein Problem wird identifiziert, eine Lösung entwickelt, ein Produkt verbessert. Die digitale Transformation folgt jedoch einer kombinatorischen Logik. Plattformökonomien wie Amazon oder Alibaba wachsen nicht, weil sie bessere Produkte anbieten, sondern weil jede neue Funktion, jeder zusätzliche Nutzer, jede…

