Die Nachricht klingt zunächst nach einer cleveren Diversifikationsstrategie: Mercedes-Benz plant gemeinsam mit dem Entwickler Binghatti ein gewaltiges Immobilienprojekt in Dubai. Unter dem Namen „Mercedes-Benz Places | Binghatti City“ soll ein „Stadt in der Stadt“-Konzept entstehen – über 836.000 Quadratmeter mit Luxusresidenzen, Einkaufsstraßen, Wellnessbereichen und sogenannten Mobilitätszentren. Bereits in Bau befindet sich der 341 Meter hohe Mercedes-Benz Tower mit Apartments für bis zu 23,5 Millionen Dollar, Fertigstellung 2026.
Bei näherer Betrachtung offenbart dieses Engagement jedoch weniger strategische Weitsicht als vielmehr ein Symptom tiefgreifender Probleme im Kerngeschäft.
Das Automobil-Desaster im Hintergrund
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im ersten Halbjahr 2025 brach der Gewinn um 55,8 Prozent auf 2,7 Milliarden Euro ein. In China, dem lange wichtigsten Wachstumsmarkt, sanken die Verkäufe um 19 Prozent – die heimische E-Auto-Konkurrenz von BYD, NIO und anderen macht Mercedes zunehmend das Leben schwer. US-Zölle belasten zusätzlich, die Umsatzrendite im Pkw-Bereich wurde auf magere 4 bis 6 Prozent korrigiert.
Besonders bemerkenswert: Die 2022 mit großem Aplomb verkündete Luxusstrategie wurde still beerdigt. Das „L-Wort“, wie es intern mittlerweile spöttisch heißt, erwies sich als Sackgasse. Die Fokussierung auf das oberste Preissegment kostete Marktanteile, ohne die erhofften Margen zu liefern. Nun spricht man wieder von „Premium in allen Preisklassen“ – eine rhetorische Kapitulation.
Diversifikation als Schwächezeichen
Druckers berühmte Frage „What is our business?“ stellt sich bei Mercedes-Benz mit neuer Dringlichkeit. Wenn ein Automobilhersteller sein Heil in Immobilienprojekten sucht, hat er offenbar keine überzeugende Antwort mehr. Statt die fundamentalen Herausforderungen der Elektrifizierung und der chinesischen Konkurrenz anzugehen, investiert man in Betongold am Persischen Golf.
Die „Sensual Purity“-Designphilosophie, die nun Wolkenkratzer statt Automobile prägen soll, wirkt in diesem Kontext wie eine Flucht nach vorn. Zwar boomen Dubais Immobilienmärkte, doch die Erinnerungen an 2008 – als die Emirate nur knapp der Staatspleite entgingen – sind nicht verblasst. Die Renditeversprechen, mit denen solche Projekte beworben werden, halten einer seriösen Prüfung selten stand.
Die Werte-Frage
Hinzu kommt ein Aspekt, der in der Hochglanz-Präsentation des Projekts keine Erwähnung findet: Dubai ist ein autoritär regiertes Emirat, in dem Pressefreiheit, Arbeitnehmerrechte und bürgerliche Freiheiten nach westlichen Maßstäben erheblich eingeschränkt sind. Die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen der Golfstaaten stehen seit Jahren in der Kritik. Mercedes-Benz, das sich in Europa gern mit Nachhaltigkeitsberichten, Diversity-Kampagnen und dem Bekenntnis zu einer „offenen Gesellschaft“ schmückt, geht über diese Widersprüche stillschweigend hinweg.
Das ist kein Einzelfall – zahlreiche westliche Konzerne operieren in der Region. Doch wer seine Marke derart prominent mit einem Stadtviertel in Dubai verknüpft, kann sich nicht mehr auf die übliche Distanz eines bloßen Handelspartners zurückziehen. Der Mercedes-Stern wird dann zum integralen Bestandteil einer Stadtlandschaft, deren gesellschaftliches Fundament den proklamierten Unternehmenswerten fundamental widerspricht. Entweder sind diese Werte ernst gemeint – oder sie sind Marketing.
Der schrumpfende Schatten eines Sterns
Mercedes-Benz rangiert zwar noch unter den wertvollsten Automarken der Welt, doch der Markenwert erodiert spürbar – je nach Ranking um 9 bis 11 Prozent. BMW holt auf, Toyota dominiert global, und aus China drängen Marken, die vor wenigen Jahren noch belächelt wurden.
Was bleibt, ist die Frage, was an Mercedes-Benz eigentlich noch Premium sein soll. Ein Unternehmen, das seinen Namen auf Immobilienprojekte in Dubai klebt, während das Kerngeschäft erodiert, betreibt keine Markenführung, sondern Markenverwertung. Oder – wie Al und Laura Ries in ihrem Buch Branding schreiben: „Mit der Programmerweiterung können sie kurzfristig Land gewinnen, aber das Brandingkonzept wird damit konterkariert. Wenn sie eine Marke mit starkem Profil im Gedächtnis der Käufer aufbauen wollen, sollten Sie Ihre Produktpalette nicht ausdehnen, sondern vielmehr auf den Punkt bringen“. Der Stern, einst Symbol für technische Exzellenz und automobile Innovation, droht zum dekorativen Element einer Projektentwicklung zu werden.
Die Stuttgarter täten gut daran, sich an einen anderen Satz von Drucker zu erinnern: „Das größte Risiko besteht darin, kein Risiko einzugehen.“ Gemeint war damit allerdings das Wagnis echter Innovation – nicht der Bau von Luxusapartments am Golf.
Quellen:
Branded Residence: Ein Hochhaus ist nicht genug – https://www.welt.de/wirtschaft/article69415c8f5d051a3e3193b066/branded-residence-ein-hochhaus-ist-nicht-genug-mercedes-plant-gan…
Mercedes baut Stadtviertel in Dubai –
https://www.kfz-betrieb.vogel.de/mercedes-baut-stadtviertel-in-dubai-a-5acef2f874eb439bf10c90cff170f290/
Mercedes-Benz und Binghatti: Neues Immobilienprojekt in… – https://www.mercedes-fans.de/magazin/news/mercedes-benz-und-binghatti-neues-immobilienprojekt-in-dubai-betongold-mercedes-weiter…
Mercedes-Benz Dubai – Luxury Passenger Cars –
https://www.mercedes-benz-mena.com/dubai/en/
Mercedes baut in Dubai gleich ein ganzes Stadtviertel –
https://www.handelszeitung.ch/panorama/mercedes-baut-in-dubai-gleich-ein-ganzes-stadtviertel-892529
Bericht: Mercedes-Benz verabschiedet sich von Luxusstrategie –
https://www.n-tv.de/wirtschaft/Bericht-Mercedes-Benz-verabschiedet-sich-von-Luxusstrategie-id30039584.html
Peter F. Drucker: Die Praxis des Managements
