Unternehmenskrisen kommen selten überraschend – sie werden nur überraschend spät erkannt. Der vielversprechendste Frühwarnindikator ist die wachsende Diskrepanz zwischen dem, was ein Unternehmen über sich kommuniziert, und dem, was es tatsächlich leistet.
Der Anwendungsbereich
Die PR-Schere ist kein universelles Diagnoseinstrument. Der Handwerksbetrieb um die Ecke, der lokale Steuerberater, der mittelständische Zulieferer ohne öffentliches Profil – sie alle fallen aus dem Raster. Nicht weil sie immun gegen Selbstüberschätzung wären, sondern weil sie schlicht keine PR betreiben. Wo keine Kommunikation ist, kann keine Schere entstehen.
Der Indikator funktioniert dort, wo Unternehmen aktiv um öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren: börsennotierte Konzerne, die ihre »Equity Story« pflegen müssen; größere Familienunternehmen, deren Patriarchen auf Titelseiten streben; Startups, die Investoren mit Narrativen ködern; »Hidden Champions«, die entdeckt werden wollen und dabei aufhören, hidden zu sein. Kurz: Unternehmen, die groß genug sind, um eine Kommunikationsabteilung zu unterhalten, und ehrgeizig genug, um sie zu nutzen.
Das ist keine kleine Gruppe. Es sind die Unternehmen, über die geschrieben wird, die Preise gewinnen, deren CEOs auf Podien sitzen. Es sind auch die Unternehmen, deren Scheitern Schlagzeilen macht – während der insolvente Handwerksbetrieb höchstens in der Lokalzeitung erscheint. Die PR-Schere misst ein Problem der Sichtbaren, nicht der Unsichtbaren.
Die Logik der Kompensation
Die konventionelle Sicht behandelt Unternehmenskommunikation als neutrale Informationsvermittlung oder als legitimes Marketing-Instrument. Diese Sicht ist naiv. Public Relations folgt einer eigenen Logik, die sich von der operativen Realität entkoppeln kann – und genau diese Entkopplung ist diagnostisch wertvoll.
Die Grundüberlegung ist einfach: Wozu braucht ein gutes Unternehmen intensive PR? Wenn Produkte überzeugen, Preise fair sind und der Service funktioniert, sollte die Kommunikation sich von selbst ergeben – durch zufriedene Kunden, durch Mundpropaganda, durch Fakten statt durch Inszenierung. PR wird dann notwendig, wenn etwas kompensiert werden muss: mangelnde Qualität, organisatorische Defizite oder die schlichte Tatsache, dass ein Unternehmen gewöhnlich ist und diese Gewöhnlichkeit nicht akzeptieren kann.
Das Unmöglichkeits-Theorem der Exzellenz
Wenn alle Unternehmen kommunizieren, sie seien Innovationsführer, beste Arbeitgeber, Nachhaltigkeitspioniere, kundenzentriert wie kein anderer – dann ist das mathematisch unmöglich. Die meisten Unternehmen sind per Definition durchschnittlich. Das ist keine Schande, sondern Statistik. Sobald alle überdurchschnittlich kommunizieren, ist niemand mehr überdurchschnittlich.
Die Konsequenzen sind gravierend: Begriffe wie »Innovation«, »Exzellenz« und »Weltklasse« werden bedeutungslos. Niemand glaubt mehr irgendwem. Es entsteht eine Eskalationsspirale – man muss noch mehr übertreiben, um wahrgenommen zu werden. Und am Ende verlieren die Unternehmen den Kontakt zur Realität und glauben irgendwann ihre eigene Kommunikation. Der letzte Punkt ist der gefährlichste: die Selbsttäuschung.
Der Halo-Effekt als Verstärker
Phil Rosenzweig hat in seinem Buch »The Halo Effect« gezeigt, warum Wirtschaftsjournalismus und Business-Literatur systematisch versagen: Wenn ein Unternehmen erfolgreich ist, wird alles positiv interpretiert – die Strategie war brillant, die Kultur innovativ, die Führung visionär. Wenn dasselbe Unternehmen scheitert, wird rückwirkend alles negativ umgedeutet: Die Strategie war verfehlt, die Kultur toxisch, die Führung blind. Es sind dieselben Fakten – nur die Interpretation ändert sich mit dem Ergebnis.
Der Halo-Effekt erklärt, warum intensive PR so lange funktioniert: Solange die Zahlen stimmen, verstärkt positive Berichterstattung das positive Bild. Die Führungskraft wird zum »Visionär«, die Organisation zur »Innovationsschmiede«. Das Problem: Diese Zuschreibungen beschreiben nicht die Ursachen des Erfolgs, sondern nur den Erfolg selbst mit anderen Worten. Noch problematischer ist, dass die Unternehmen und ihre Führung beginnen, selbst daran zu glauben, was über sie geschrieben wird. Die externe Wahrnehmung wird zur internen Realität – und verdrängt die tatsächliche.
Der Lebenszyklus der Diskrepanz
Die Schere zwischen Kommunikation und Substanz entwickelt sich typischerweise in Phasen. In der Gründungs- und Wachstumsphase übersteigt die Substanz meist die Kommunikation. Das Unternehmen ist zu beschäftigt mit dem operativen Geschäft, um viel PR zu betreiben. Die Ergebnisse sprechen für sich. Im etablierten Zustand stehen PR und Substanz in einem ausgewogenen Verhältnis.
Dann, oft unbemerkt, beginnt die Substanz zu stagnieren, während die PR-Intensität steigt. Die Gründe sind vielfältig: Die Gründergeneration geht, die Erben haben weniger operative Kompetenz. Neue Märkte oder Technologien werden unterschätzt. Inkrementelle Verbesserungen werden als »Innovation« verkauft. Die Führung kompensiert fehlende Ergebnisse durch Präsenz.
Die gefährlichste Phase folgt danach: Das Unternehmen beginnt, seine eigene PR zu glauben. Kritische interne Stimmen werden marginalisiert, externe Kritik als »Unverständnis« abgetan. Die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität wächst weiter. Irgendwann erzwingt die Realität eine Korrektur – meist schmerzhaft und meist zu spät. Die Zahlen brechen ein, die Medien schwenken um, und dieselben Führungskräfte, die gestern als »Visionäre« galten, werden heute als »überheblich« beschrieben.
Das Familienunternehmen als Paradox
Bei Familienunternehmen ist die PR-Schere besonders gefährlich – und das ist paradox, denn gerade sie sollten anders sein. Sie müssten langfristig denken, Substanz über Show stellen, bescheiden bleiben. Stattdessen verfallen sie oft besonders intensiv der Selbstinszenierung.
Die Gründe liegen in der Struktur: Familie und Unternehmen verschmelzen zur Identität. Kritik am Unternehmen wird zu Kritik an der Person. Die Unfähigkeit, Unternehmensprobleme von persönlichem Versagen zu trennen, verhindert nüchterne Analyse. Dynastisches Denken erzeugt Druck: »Der Großvater hat das aufgebaut – ich muss würdig sein.« Wenn die eigene Leistung nicht mit der des Gründers mithalten kann, entsteht kompensatorische PR.
Dazu kommt das fehlende externe Korrektiv. Kein Aufsichtsrat widerspricht wirklich, keine Aktionäre fordern unbequeme Zahlen ein. Niemand sagt: »Du bist gewöhnlich, und das ist okay.« Und dann die Erben-Problematik: Wenn der Gründer ein Genie war, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Erben es nicht sind – das ist statistisch normal, aber psychologisch unerträglich. Die PR-Intensität steigt, um die Kompetenzlücke zu überbrücken.
Der CEO-Hintergrund als Warnsignal
Ein besonders aussagekräftiger Einzelindikator ist der berufliche Hintergrund der Führungsspitze. Wenn ein CEO aus dem Kerngeschäft kommt – Produktion, Entwicklung, Vertrieb – versteht er die operative Realität aus eigener Erfahrung. Seine Kommunikation ist in der Regel durch dieses Verständnis geerdet.
Wenn ein CEO aus PR, Finanzen oder Beratung kommt, fehlt diese Erdung oft. Schlimmer noch: Die Kernkompetenz ist die Kommunikation. Es ist kein Zufall, dass die problematischsten Fälle von PR-Überhöhung häufig von Führungskräften verantwortet werden, deren Karriere in der Unternehmenskommunikation begann. Das ist keine absolute Regel – es gibt exzellente CEOs aus allen Hintergründen. Aber es ist ein statistisch relevantes Muster.
Der Wirtschaftsjournalismus als Kontraindikator
Die Mechanik des Wirtschaftsjournalismus verstärkt die PR-Schere. Journalisten brauchen Stories – »CEO transformiert Konzern« ist eine bessere Headline als »Konzern profitiert von günstigen Marktbedingungen«. Journalisten haben keine Zeit; Tiefenrecherche ist unwirtschaftlich, Pressemitteilungen sind kostenlos. Journalisten brauchen Zugang; kritische Berichterstattung beendet den Zugang zu Führungskräften und exklusiven Informationen. Und Erfolg validiert sich selbst: Wenn die Zahlen stimmen, muss die Story stimmen – niemand hinterfragt die Kausalität.
Das führt zu einem kontraintuitiven Ergebnis: Intensive positive Berichterstattung kann ein Warnsignal sein. Der CEO auf der Titelseite als »Manager des Jahres« markiert oft den Peak. Die Meldung »Transformation gelungen« kommt meist zu früh. Wenn ein »Hidden Champion« entdeckt wird, steht er oft kurz vor Problemen. Kaum Berichterstattung hingegen deutet auf Fokus auf Arbeit statt PR – neutral bis positiv. Die empirische Evidenz ist beunruhigend: Die Liste der medial gefeierten Unternehmen und Führungskräfte, die kurz darauf kollabierten, ist lang.
Zwei Lehrstücke
Die deutsche Wirtschaftsgeschichte liefert zwei Fallbeispiele, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und doch dieselbe Mechanik zeigen.
Thomas Middelhoff war der Prototyp des Medien-CEOs: eloquent, weltläufig, mit einem Gespür für die große Geste. Bei Bertelsmann galt er als Visionär der digitalen Transformation, sein Investition in AOL wurde gefeiert. Bei Arcandor sollte er das Wunder wiederholen. Die Inszenierung war makellos – der Privatjet, die internationalen Kontakte, die Auftritte. Die Substanz dahinter war hohl. Als das Unternehmen kollabierte, kollabierte auch das Selbstbild. Middelhoff wurde verurteilt, saß in Haft, und hat seitdem eine bemerkenswerte Selbstkritik formuliert. Er beschreibt heute, wie er seiner eigenen Inszenierung verfiel, wie die Grenze zwischen Person und Rolle verschwamm, wie der Applaus zur Droge wurde. Es ist das seltene Eingeständnis eines Protagonisten, dass die PR-Schere nicht nur die Beobachter täuschte, sondern auch ihn selbst.
Markus Braun ist der dunklere Fall. Bei Wirecard ging es nicht um Selbsttäuschung, sondern um systematischen Betrug – aber die PR-Mechanik funktionierte identisch. Der schweigsame Technokrat mit dem akkuraten Seitenscheitel, der »deutsche Antwort auf PayPal«, der DAX-Aufsteiger aus dem Nichts. Die Wirtschaftspresse schrieb die Story, die Braun ihr lieferte. Wer Zweifel äußerte, wurde verklagt oder als Shortseller diffamiert. Die Schere zwischen Kommunikation und Realität war hier keine schleichende Entwicklung, sondern ein bewusst konstruiertes Trugbild. Dass es so lange hielt, liegt auch an der Bereitschaft des Publikums, eine gute Geschichte zu glauben.
Middelhoff und Braun markieren die Extreme: Der eine verlor sich in seiner Rolle und erkennt es heute. Der andere spielte eine Rolle und wusste es immer. Gemeinsam ist beiden, dass die Diskrepanz zwischen Darstellung und Wirklichkeit jahrelang unsichtbar blieb – weil niemand sie messen wollte.
Die paradoxe Wahrheit
Die PR-Schere ist letztlich ein Proxy für etwas Fundamentaleres: die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Ein Unternehmen, das seine Stärken und Schwächen realistisch einschätzt, braucht keine überhöhte Kommunikation. Es kann seine Erfolge angemessen darstellen und seine Probleme offen adressieren. Ein Unternehmen, das sich selbst überschätzt – oder dessen Führung sich selbst überschätzt –, kompensiert die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit durch Kommunikation.
Die paradoxe Wahrheit lautet: Je weniger ein Unternehmen über sich selbst redet, desto gesünder ist es wahrscheinlich. Und je mehr es redet, desto genauer sollte man hinsehen. Die beste PR ist keine PR. Oder präziser: Die beste PR ist die, die man nicht als solche wahrnimmt – weil sie sich auf Fakten beschränkt, die für sich sprechen.
Einfach machen. Arbeiten. Schweigen. Und die Ergebnisse sprechen lassen.
Aber genau diese Bescheidenheit ist psychologisch fast unmöglich für Menschen, die ihr Leben in ein Unternehmen investiert haben – oder für solche, die von einem investierten Leben geerbt haben, ohne selbst investiert zu haben. Die PR-Schere ist keine Anklage gegen Unternehmenskommunikation als solche. Sie ist ein diagnostisches Instrument, das eine unbequeme Wahrheit quantifiziert: Wenn die Worte größer werden als die Taten, stimmt etwas nicht. Die Schwierigkeit liegt darin, dies zu erkennen, bevor es alle erkennen, z.B. Wirtschaftsjournalisten oder Aktienanalysten, – denn dann ist es zu spät.

