Wie XING sein Differenzierungsmerkmal zerstörte und Burda den Rest erledigte
Im Dezember 2025 entlässt die New Work SE erneut 260 Mitarbeiter – nach bereits 400 Kündigungen im Vorjahr. Doch der Todesstoß für das einstige LinkedIn Europas fiel nicht in der Hamburger Konzernzentrale, sondern vor über einem Jahrzehnt, als ein ehemaliger Unternehmensberater beschloss, genau das abzuschaffen, was XING einzigartig machte: seine Communities.
Von Ralf Keuper
Die Anatomie eines Plattformsterbens
Wer heute über das Scheitern von XING spricht, verweist reflexhaft auf LinkedIn, den übermächtigen amerikanischen Konkurrenten. Doch diese Erklärung greift zu kurz. XING hatte einen First-Mover-Advantage im deutschsprachigen Raum, eine treue Nutzerbasis und – entscheidend – ein Alleinstellungsmerkmal, das LinkedIn bis heute nicht replizieren konnte: ein lebendiges Ökosystem aus über 50.000 Fachgruppen, betreut von Hunderten ehrenamtlichen Moderatoren und Ambassadoren, die regionale und themenspezifische Communities pflegten.
Dieses organisch gewachsene Netzwerk war unbezahlbar. Es sorgte für lokale Verankerung, fachlichen Austausch, regelmäßige Events. Die Gruppen waren der eigentliche Netzwerkeffekt – der Grund, warum Menschen bei XING blieben, auch wenn LinkedIn international dominierte. Und genau dieses Differenzierungsmerkmal wurde systematisch marginalisiert, bis es 2023 endgültig abgeschafft wurde.
Der BCG-Mann und der verhängnisvolle Relaunch
Die strategische Weichenstellung fiel nicht schleichend, sondern mit einem konkreten Datum: Mai 2011, der Relaunch unter CEO Stefan Groß-Selbeck. Groß-Selbeck kam von der Boston Consulting Group und hatte zuvor eBay Deutschland geleitet – ein Transaktionsgeschäft, kein Community-Modell. Was er mit XING anstellte, folgte dieser Logik.
Der Relaunch 2011 war der Moment, in dem XING sein Differenzierungsmerkmal aktiv demontierte. Die Änderungen lesen sich wie ein Handbuch zur Community-Zerstörung: Die Box „Meine letzten Gruppenartikel“ verschwand von der Startseite. Der Ticker für schnelle Navigation in Gruppen wurde abgeschafft. Newsletter und Termineinladungen der Moderatoren wurden faktisch unsichtbar gemacht. Die Apps wurden abgeschaltet. Ein Experte bilanzierte damals: „Ich finde, dass die Gruppen hier etwas gelitten haben. Ich persönlich bedauere den Wegfall der Ticker. Leider habe ich keine Ersatzlösung gefunden.“
Die Nutzerreaktion war verheerend: In Umfragen hielten zwei Drittel das neue Design für einen „Flop“ oder „Megaflop“. Ein typischer Kommentar: „Ich bin schockiert. Mit diesem Xing kann ich nichts mehr anfangen.“ Die WirtschaftsWoche titelte: „Zoff um den eigenen Relaunch“. Selbst Groß-Selbeck musste in einem Forum einräumen: „Unter den Moderatoren gibt es eine große Unzufriedenheit – und die ist in weiten Teilen auch berechtigt.“
Die unterdrückte Rebellion
Was folgte, war bezeichnend. Kritische Diskussionen in der Moderatoren-Gruppe wurden von den XING-eigenen Administratoren sofort geschlossen. Der Hinweis: Die Kritik dürfe nur in der allgemeinen XING-Gruppe geführt werden – in der aber einige kritische Moderatoren gesperrt waren. Ein Blog-Beitrag vom Juni 2011 dokumentiert das Muster: „Es gibt unter den Moderatoren einige linientreue, die jede Kritik an xing persönlich nehmen und über jene herfallen, die sie üben.“ Die Folge: „Es gibt inzwischen etliche Moderatoren, die keine Lust mehr haben mit dem neuen xing zu arbeiten, die ihre Gruppen schließen, xing komplett verlassen oder nur die Premiummitgliedschaft kündigen.“
Das Management versuchte, die Krise auszusitzen. Offiziell hieß es, der Relaunch komme gut an. Die „Auswertungen bei Twitter und im Callcenter“ hätten positive Rückmeldungen gezeigt. Eine klassische Unternehmenskommunikations-Blase: Man hört nur, was man hören will.
Kurz nach dem gescheiterten Relaunch, als der Aktienkurs eingebrochen war, veräußerte Groß-Selbeck 25.000 XING-Aktien für rund 1,4 Millionen Euro. Das Unternehmen begründete das Timing mit der Hauptversammlung. Eine technisch korrekte Erklärung, die inhaltlich wenig erklärt.
Wir haben die Digitalisierung in Europa verschlafen <<, sagt Groß-Selbeck heute als CEO von BCG Digital Ventures. Das sagt ausgerechnet jemand, der eine der wenigen erfolgreichen europäischen Plattformen geleitet und deren Differenzierungsmerkmal mit einem einzigen Relaunch systematisch abgebaut hat.
Die schleichende Strangulierung
Der Relaunch 2011 war der Wendepunkt, aber nicht das Ende. Was folgte, war eine über ein Jahrzehnt andauernde systematische Vernachlässigung. Groß-Selbecks Nachfolger Thomas Vollmoeller – McKinsey-Veteran – setzte den Kurs fort. Die Umbenennung in „New Work SE“ war symptomatisch: Statt das Kerngeschäft gegen LinkedIn zu verteidigen, flüchtete man in einen Trendbegriff.
Die Gruppen-Features wurden nie wieder auf den Stand vor 2011 gebracht. Stattdessen erfolgte weitere Reduktion: 2017 wurde die Co-Moderatoren-Funktion abgeschafft, die Newsletter-Funktion durch eine unzureichende „Moderator-Info“ ersetzt, die maximale Anzahl von Foren auf zehn begrenzt. Jede einzelne Änderung war für sich genommen erklärbar – in Summe war es der Tod auf Raten für ein Community-Ökosystem, das einst 245 regionale Ambassadoren, 63 Xpert Ambassadoren und über 50.000 Gruppen umfasste.
Die endgültige Abschaltung 2022 war kein strategischer Schwenk mehr – sie war die späte Beerdigung eines längst ausgehungerten Systems.
Burdas digitale Friedhofsruhe
Die Übernahme durch Hubert Burda Media war der letzte Sargnagel. Der Münchner Medienkonzern hat bislang jedes größere Digitalengagement vor die Wand gefahren. Die Liste der gescheiterten Projekte ist lang: Die ostdeutsche Boulevardzeitung »Super!« scheiterte 1992 so spektakulär, dass Burda die Konzernzentrale am Arabellapark verkaufen musste. Der Browser Cliqz wurde nach Jahren eingestellt. Und nun die Zerschlagung von New Work.
Das Muster ist klassisch: Ein Printkonzern kauft eine digitale Plattform, versteht deren Kernwert nicht, wendet die falschen Steuerungslogiken an und zerstört systematisch das, was er eigentlich erwerben wollte. Die Multimarkenstrategie mit Plattformen wie Onlyfy und Honeypot floppte, die Umsätze brachen zweistellig ein, die teuerste Werbekampagne der Firmengeschichte verpuffte wirkungslos.
Heute ist New Work von der Börse genommen, Burda hält 100 Prozent und plant den Verkauf von Kununu – dem einzigen noch profitablen Asset – für geschätzte 500 Millionen Euro. Was aus XING wird? Die einstige Karriereplattform »gilt intern als nicht überlebensfähig«, berichten Insider. Der CEO steht vor der Aufgabe, »die Reststrukturen abzuwickeln«.
Die Lehre für deutsche Digitalstrategen
Der Fall XING ist mehr als eine Unternehmensgeschichte. Er ist ein Lehrstück über das systematische Versagen deutscher Digitalunternehmen im Plattformwettbewerb. Die Fehler wiederholen sich mit bestürzender Regelmäßigkeit: Einzigartige lokale Stärken werden aufgegeben, um internationale Vorbilder zu kopieren. Community-Wert wird zugunsten von Transaktionslogik geopfert. Berater ohne Plattformverständnis treffen strategische Entscheidungen, die der Finanzlogik entsprechen, aber den Netzwerkeffekt zerstören.
XING war das LinkedIn Europas – mit einem Alleinstellungsmerkmal, das der amerikanische Konkurrent nie hatte. Die Gruppen waren kein Anhängsel, sie waren das Produkt. Hätte man sie 2011 nicht dem Relaunch geopfert, sondern gepflegt, modernisiert, als Kern der Differenzierungsstrategie verstanden, stünde XING heute anders da.
Stattdessen wurde ein organisch gewachsenes Ökosystem mit einem einzigen Update demontiert. Die 260 Entlassungen im Dezember 2025 sind nicht der Anfang vom Ende. Sie sind das späte Echo einer strategischen Fehlentscheidung, die im Mai 2011 fiel – als ein ehemaliger Unternehmensberater beschloss, eine Community-Plattform in eine Transaktionsmaschine zu verwandeln. Auf dem Reißbrett sah das vernünftig aus. In der Realität einer Plattformökonomie war es ein Todesurteil auf Raten.
Quellen
Aktuelle Entwicklungen (Dezember 2025)
Entlassungswelle bei XING: 260 Kündigungen im Dezember 2025
AbfindungsHero, 10. Dezember 2025
https://abfindungshero.de/entlassungswelle-bei-xing-kuendigungen-im-dezember-2025/
Job-Schock bei New Work SE und XING: 260 Stellen weg, vor allem in Hamburg
Hamburger Morgenpost, Dezember 2025
https://www.mopo.de/hamburg/job-schock-bei-new-work-se-und-xing-260-stellen-weg-vor-allem-in-hamburg/
Stellenabbau und Restrukturierung 2024
Xing baut hunderte Stellen ab
Personalwirtschaft, Januar 2024
https://www.personalwirtschaft.de/news/recruiting/xing-baut-hunderte-stellen-ab-168648/
New Work SE: Xing-Mutter streicht 400 Jobs
Horizont, 12. Januar 2024
https://www.horizont.net/medien/nachrichten/new-work-se-xing-mutter-streicht-400-jobs—ex-burda-chef-weiter-im-aufsichtsrat-217155
New Work-Aktie -26%: XING-Mutter New Work hat Ausblick zusammengestutzt
finanzen.net, Januar 2024
https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/konzernumbau-new-work-aktie-26-xing-mutter-new-work-hat-ausblick-zusammengestutzt-stellenabbau-13171408
Delisting und Burda-Übernahme
Xing ist nun zu 100 Prozent im Besitz von Burda
Meedia, 26. Juni 2025
https://meedia.de/news/beitrag/19575-xing-ist-nun-zu-100-prozent-im-besitz-von-burda.html
Freshfields und Gleiss Lutz begleiten Delisting bei New Work
Legal Tribune Online, Juni 2024
https://www.lto.de/recht/kanzleien-unternehmen/k/delisting-erwerbsangebot-burda-digital-new-work
Burda zerschlägt die Xing-Mutter – Verkauf von Kununu soll Millionen bringen
GEWINNERmagazin, 21. Oktober 2025
https://gewinnermagazin.de/burda-zerschlaegt-die-xing-mutter-verkauf-von-kununu-soll-millionen-bringen/
Burda macht Kasse: Kununu soll für 500 Millionen den Besitzer wechseln
Business Punk, 17. Oktober 2025
https://www.business-punk.com/business/burda-macht-kasse-kununu-soll-fuer-500-millionen-den-besitzer-wechseln/
Abschaffung der XING-Gruppen
Xing stellt Gruppen und Events-Seite ein: Fokus liegt auf Jobvermittlung
Heise Online, 11. Januar 2023
https://www.heise.de/news/Xing-stellt-Gruppen-und-Events-Seite-ein-Fokus-liegt-auf-Jobvermittlung-7455581.html
Aufstand der Moderatoren: Xing stellt Gruppen und Events ein
iBusiness, August 2022
https://www.ibusiness.de/aktuell/db/225413jg.html
Xing schafft Gruppen ab – der Anfang vom Ende?
Online Durchstarter, 11. August 2022
https://online-durchstarter.de/2022/08/11/xing-schafft-gruppen-ab-anfang-vom-ende/
Xing stellt die Gruppenfunktion und damit auch alle Übersetzerforen ein
UEPO.de, August 2022
https://uepo.de/2022/08/11/xing-stellt-die-gruppenfunktion-und-damit-auch-alle-uebersetzerforen-ein/
Große Aufregung um drastische Xing-Änderungen
W&V, 28. Dezember 2022
https://www.wuv.de/Themen/People-Skills/Grosse-Aufregung-um-drastische-Xing-Aenderungen
Relaunch 2011 – Der Wendepunkt
Xing: Zoff um den eigenen Relaunch
WirtschaftsWoche, 27. Juni 2011
https://www.wiwo.de/unternehmen/xing-zoff-um-den-eigenen-relaunch/5298646.html
Das neue XING: Relaunch 2011
PR-Blogger, 17. Mai 2011
https://pr-blogger.de/2011/05/17/das-neue-xing-relaunch-2011/
Das Gleiche in grün – Erste Ansichten des Xing Relaunch
LinkedInsiders Deutschland, 6. Juni 2011
https://linkedinsiders.wordpress.com/2011/06/06/xing_2011/
Gruppenaufbau bei Xing und LinkedIn in Deutschland 2011 – Ein Vergleich
LinkedInsiders Deutschland, 13. Juni 2011
https://linkedinsiders.wordpress.com/2011/06/13/gruppen_xing_linkedin/
Das neue xing – Top oder Flop? (Dokumentation der Zensur)
Mobbing-Zentrale Blog, 10. Juni 2011
http://blog.mobbing-zentrale.de/allgemein/das-neue-xing-top-oder-flop.html/comment-page-1
Das verschlimmbesserte XING
RalfHeinrich.de, 27. Oktober 2011
http://www.ralfheinrich.de/2011/10/das-verschlimmbesserte-xing/
Xing-CEO Dr. Stefan Groß-Selbeck im Interview
Förderland/Netzwertig, 2011
https://www.foerderland.de/digitale-wirtschaft/netzwertig/news/artikel/xing-ceo-dr-stefan-gros-selbeck-xing-ist-eben-nicht-nur-eine-ansammlung-von-lebenslaufen/
Die Probleme der Business-Netzwerke: Das Xing Drama in 4 Akten
Recruiting Nerd, Februar 2021
https://recruitingnerd.de/die-probleme-der-business-netzwerke-teil-1-das-xing-drama-in-4-akten
CEO Stefan Groß-Selbeck
Xing-Chef verkauft Aktien für 1,4 Mio
Gründerszene, Mai 2013
https://www.gruenderszene.de/news/xing-chef-aktien-ebay-magento-airbnb-hamburg
Stefan Groß-Selbeck: Disruptive Innovationen und Deutschlands Zukunft
Steinbeis Augsburg Business School, Februar 2025
https://steinbeis-ifem.de/dr-stefan-gross-selbeck/
Stefan Groß-Selbeck verlässt Xing
W&V, Mai 2012
https://www.wuv.de/digital/stefan_gross_selbeck_verlaesst_xing
CEO Thomas Vollmoeller
Exklusiv-Interview mit XING CEO Thomas Vollmoeller
Saatkorn, Oktober 2019
https://www.saatkorn.com/exklusiv-interview-mit-xing-ceo-thomas-vollmoeller/
Exklusiv: XING CEO Vollmoeller zur Umbenennung
Saatkorn, Februar 2019
https://www.saatkorn.com/exklusiv-xing-ceo-vollmoeller-zur-umbenennung/
Hintergrund Burda und XING
Xing: Burda wird Hauptaktionär
Horizont, November 2009
https://www.horizont.net/medien/nachrichten/-Xing-Burda-wird-Hauptaktionaer-88568
Erstes Halbjahr 2024: Umbau der New Work SE schreitet gut und nach Plan voran
Presseportal, 6. August 2024
https://www.presseportal.de/pm/56177/5837923

