Das westliche Modernisierungspaket ist unteilbar – und der Preis wird fällig

China hat einen Pakt geschlossen. Es übernahm das westliche Modernisierungspaket – Wissenschaft, Technologie, Kapitalismus – und glaubt, nur die Vorteile nehmen zu können, ohne den Preis zu zahlen. Technologie ohne Freiheit, Wissenschaft ohne Kritik, Kapitalismus ohne Kontrollverlust. Aber wie bei Faust ist der Vertrag unteilbar. Das Paket kommt mit Regeln, die man nicht umschreiben kann. Die Frage ist nicht, ob die Rechnung kommt, sondern wann.


In David Landes‘ Wirtschaftsgeschichte „Wohlstand und Armut der Nationen“ findet sich eine Beobachtung, die für das Verständnis des heutigen China zentral ist. Landes beschreibt, wie das kaiserliche China trotz technologischer Überlegenheit – Papier, Buchdruck, Schießpulver, Kompass – die industrielle Revolution verpasste. Die Erklärung liegt nicht in mangelndem Wissen, sondern in der institutionellen Struktur: Der totalitäre Staat erstickte jede Innovation im Keim.

Der Sinologe Etienne Balazs, den Landes ausführlich zitiert, brachte es auf den Punkt: Keine private Initiative, keine Äußerung des öffentlichen Lebens blieb der amtlichen Kontrolle entzogen. Die Atmosphäre bürokratischer Routine und Traditionalismus machte jede nicht vorab genehmigte Initiative verdächtig. Das Entscheidende war nicht die aktive Unterdrückung einzelner Erfindungen, sondern die passive Erstickung des Erfindungsgeistes selbst.

Die Parallelen zum heutigen China sind offensichtlich. Xi Jinpings Tech-Crackdown gegen Alibaba, Didi und Ant Financial signalisierte unmissverständlich: Unternehmerischer Erfolg ist nur geduldet, solange er die Partei nicht herausfordert. Jack Ma verschwand monatelang, nachdem er die Regulierungsbehörden kritisiert hatte. Social Credit, Gesichtserkennung, Zensur – das sind nicht die Bedingungen, unter denen Nonkonformismus gedeiht.

Mill und die Ökonomie der Abweichung

John Stuart Mill lieferte bereits im 19. Jahrhundert die philosophische Grundierung für das, was Landes historisch beschreibt. In „On Liberty“ argumentiert Mill, dass Gesellschaften Nonkonformisten brauchen – nicht weil Abweichler immer recht haben, sondern weil ohne sie die Wahrheit verkümmert und der Fortschritt stagniert.

Mills Argument ist dabei nicht primär moralisch, sondern utilitaristisch. Selbst wenn eine Meinung falsch ist, schadet ihre Unterdrückung der Gesellschaft. Die herrschende Meinung verliert ohne Widerspruch ihre Lebendigkeit, wird zum toten Dogma, das niemand mehr wirklich versteht oder begründen kann. Und wenn die abweichende Meinung teilweise wahr ist – was häufig der Fall ist –, geht dieser Teil unwiederbringlich verloren.

Der Schlüsselbegriff bei Mill ist „experiments in living“ – Experimente in der Lebensführung. Gesellschaften, die solche Experimente erlauben, haben einen evolutionären Vorteil: Sie generieren Variation, aus der Selektion das Bessere auswählen kann. Gesellschaften, die Konformität erzwingen, schneiden sich von dieser Quelle der Erneuerung ab.

Das ist exakt, was Landes für China und Portugal beschreibt. Die konfuzianische Bürokratie und die Inquisition waren Maschinen zur Produktion von Konformität. Sie unterdrückten nicht nur einzelne Ideen, sondern die Fähigkeit zur Ideenproduktion selbst.

Mill warnte dabei ausdrücklich vor der „Tyrannei der vorherrschenden Meinung“ – auch in demokratischen Gesellschaften. Staatliche Repression ist nicht nötig, wenn der soziale Konformitätsdruck stark genug ist. Eine Gesellschaft, die Exzentriker duldet, aber verachtet, ist wenig besser als eine, die sie verfolgt.

Die Leistung des Kopierens

Nun könnte man einwenden, dass China seit vierzig Jahren spektakuläres Wachstum produziert hat – unter autoritären Bedingungen. Widerlegt das nicht Landes und Mill?

Die Antwort liegt in der Unterscheidung zwischen Kopieren und Erfinden. Chinas gesamtes Modernisierungsprojekt ist ein Import. Von der Ideologie über die Industrialisierung bis zur Wissenschaft – alles westlichen Ursprungs. Selbst die Ablehnung des Westens geschieht mit westlichen Kategorien. Der Nationalismus, der Entwicklungsstaat, die Parteistruktur – europäische Erfindungen des 19. und 20. Jahrhunderts, adaptiert für chinesische Verhältnisse.

Man denke nur an Marx und Engels. Die ideologische Grundlage der Kommunistischen Partei Chinas stammt aus Trier und Wuppertal. Der Marxismus ist eine durch und durch westliche Theorie – entstanden aus der Kritik der politischen Ökonomie, der Hegel’schen Dialektik, der französischen Revolutionstradition. China hat nicht einmal seine Revolutionstheorie selbst entwickelt, sondern importiert.

Das gilt nicht nur für China. Japan modernisierte sich nach 1868 durch systematisches Kopieren westlicher Institutionen. Südkorea, Taiwan, Singapur folgten demselben Muster. Die gesamte ostasiatische Erfolgsgeschichte ist eine Geschichte des gelungenen Technologietransfers, nicht der originären Innovation.

Kopieren erfordert andere Fähigkeiten als Erfinden. Es belohnt Disziplin, Fleiß, Lernbereitschaft, Organisation – Tugenden, die autoritäre Systeme durchaus hervorbringen können. Erfinden erfordert das Gegenteil: Respektlosigkeit gegenüber dem Bestehenden, Bereitschaft zum Scheitern, Toleranz für Chaos und Ambiguität.

Chinas Stärke war immer die Absorption und Skalierung. Eine Technologie verstehen, sie verbessern, sie billiger und in größerer Stückzahl produzieren – das kann China besser als fast jedes andere Land. Aber der erste Schritt, die Erfindung selbst, kam fast immer von woanders.

Das Disruptions-Problem

Der entscheidende Test steht noch aus. Disruption bedeutet: Das Bestehende muss zerstört werden, damit Neues entstehen kann. Schumpeter nannte es schöpferische Zerstörung, aber das Adjektiv täuscht über die Brutalität des Vorgangs hinweg. Disruption vernichtet Vermögen, Arbeitsplätze, ganze Industrien, etablierte Eliten.

Ein System, das auf Stabilität und Kontrolle setzt, kann das nicht zulassen. Die Partei ist nicht nur eine politische Organisation, sie ist ein Patronagenetzwerk, das Millionen von Funktionären versorgt. Jede echte Disruption gefährdet dieses Netzwerk. Also wird sie verhindert – nicht unbedingt durch explizites Verbot, sondern durch tausend kleine Widerstände, Genehmigungsverfahren, informelle Signale.

Das ist das Kodak-Problem im Staatsmaßstab. Kodak erfand die Digitalkamera – und unterdrückte sie, weil sie das eigene Geschäftsmodell bedrohte. Die Partei steht vor demselben Dilemma, nur größer: Echte Innovation bedroht ihr Machtmon…