Der langjährige China-Korrespondent Frank Sieren gilt als einer der einflussreichsten deutschen Stimmen zur Volksrepublik. Doch seine Analysen weisen systematische blinde Flecken auf, die grundlegende Fragen zur Validität seiner Prognosen aufwerfen.


Frank Sieren hat sich über Jahrzehnte als Interpret Chinas für das deutsche Publikum etabliert. Seine Bücher verkaufen sich gut, seine Auftritte in Podcasts und auf Konferenzen sind gefragt. Die Kernthese bleibt dabei konstant: China wird das 21. Jahrhundert dominieren, der Westen unterschätzt die Innovationskraft des Landes, Europa droht zum Vergnügungspark zu werden.

Diese Erzählung hat Anziehungskraft. Sie bedient das Bedürfnis nach klaren Orientierungslinien in einer unübersichtlichen geopolitischen Lage. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Sierens Analysen an entscheidenden Stellen selektiv bleiben.

Das Déjà-vu der Zukunftsprognosen

Wer in den 1980er und frühen 1990er Jahren die Wirtschaftspresse verfolgte, erlebte einen bemerkenswert ähnlichen Diskurs – nur mit Japan als Protagonisten. Ezra Vogels Bestseller „Japan as Number One“ von 1979 wurde zum Manifest einer Generation von Analysten, die den unaufhaltsamen Aufstieg Japans zur führenden Wirtschaftsmacht verkündeten. Das MIT galt als überholt, Toyota als unschlagbar, der amerikanische Kapitalismus als träge und dem Untergang geweiht. In Deutschland brillierte Günter Ederer mit „Das leise Lächeln des Siegers. Was wir von Japan lernen können“. Andere, wie Karl van Wolferen in „Vom Mythos der Unbesiegbaren. Anmerkungen zur Weltmacht Japan„, waren da deutlich zurückhaltender. Van Wolferen sollte recht behalten.

Die Parallelen zur heutigen China-Debatte sind frappierend: dieselbe Bewunderung für staatlich koordinierte Industriepolitik, dieselbe Faszination für technologische Aufholjagden, dieselbe Warnung an den Westen, er werde abgehängt, wenn er nicht umgehend reagiere. Und dieselbe systematische Unterschätzung struktureller Verwundbarkeiten.

Japan erlebte ab 1990 den Kollaps seiner Immobilien- und Aktienblase, gefolgt von drei verlorenen Jahrzehnten mit Deflation, stagnierendem Wachstum und demografischem Niedergang. Die Propheten des japanischen Jahrhunderts verstummten. Ihre Prognosen erwiesen sich nicht als falsch, weil sie Japans Stärken überschätzt hätten – sondern weil sie dessen Schwächen ignorierten.

China heute weist strukturelle Ähnlichkeiten auf, die nachdenklich stimmen sollten: eine geplatzte Immobilienblase, Überkapazitäten in der Industrie, eine alternde Gesellschaft, sinkende Geburtenraten, schwache Binnennachfrage. Wer diese Faktoren ausblendet und stattdessen auf Shenzhen, Patentanmeldungen und autonome Fahrzeuge verweist, wiederholt den methodischen Fehler der Japan-Enthusiasten von damals.

Die Falle des Geschichtsdeterminismus

Was Sieren mit den Japan-Enthusiasten von damals verbindet, ist mehr als thematische Ähnlichkeit. Es ist eine gemeinsame erkenntnistheoretische Prämisse: ein impliziter Geschichtsdeterminismus, der historische Entwicklungen als quasi-naturgesetzliche Abläufe begreift.

Wenn Sieren argumentiert, Chinas Aufstieg sei eine „Rückkehr zur historischen Normalität“, weil das Land über Jahrhunderte die führende Wirtschaftsmacht gewesen sei, dann unterstellt er einen Automatismus, der durch nichts gedeckt ist. Geschichte kennt keine Normalität, zu der sie zurückkehrt. Sie kennt keine vorgezeichneten Bahnen, auf denen Nationen unweigerlich zu Größe aufsteigen oder in Bedeutungslosigkeit versinken.

Schon Jacob Burckhardt hat in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ – als Antwort auf Hegels teleologische Geschichtsphilosophie – darauf hingewiesen, dass wir nicht eingeweiht sind in die Zwecke der ewigen Weisheit. Geschichte folgt keinem Plan, den der kundige Beobachter nur zu entziffern braucht. Wer behauptet, den Gang der Geschichte zu kennen, verwechselt Interpretation mit Offenbarung.

Diese deterministische Denkfigur immunisiert sich gegen Gegenargumente. Strukturelle Probleme werden zu vorübergehenden Friktionen auf dem Weg zum unvermeidlichen Ziel. Krisen sind Ausrutscher, nicht Symptome systemischer Dysfunktionen. Die Schlussfolgerung steht bereits fest; die Analyse dient nur noch der nachträglichen Bestätigung.

Karl Popper hat diese Form des Denkens als „Historizismus“ kritisiert: die Annahme, man könne aus historischen Gesetzmäßigkeiten die Zukunft vorhersagen. Die Japan-Prognosen der 1980er Jahre illustrieren, wohin das führt. Wer den Aufstieg für unvermeidlich hält, verliert die Fähigkeit, Wendepunkte zu erkennen.

Die strukturellen Widersprüche

Das größte Defizit in Sierens China-Bild betrifft die stillschweigende Annahme, das Land könne unbegrenzt produzieren, exportieren und dabei seine Bevölkerung dauerhaft beschäftigen und ernähren. Diese Vorstellung kollidiert mit empirischen Befunden: Die Jugendarbeitslosigkeit in China lag zeitweise bei über 20 Prozent – eine Zahl, die so brisant war, dass Peking die Statistik vorübergehend aus der Veröffentlichung nahm.

Hinzu kommen Überkapazitäten in Industrie und Immobiliensektor, eine chronisch schwache Binnennachfrage und demografische Probleme, die das exportgetriebene Wachstumsmodell an seine Grenzen bringen. Wer diese Faktoren ausblendet und stattdessen auf Tempo, Technologie und Skalierung verweist, beschreibt eher das Wunschbild chinesischer Industriepolitik als eine belastbare makroökonomische Analyse.

Die Nähe zur offiziellen Linie

Medienrecherchen haben aufgedeckt, dass Sieren Texte in der „China Rundschau“ veröffentlicht, einem Blatt, das nach Einschätzung von Experten Teil eines von Peking gesteuerten Einflussnetzwerks ist. Seine dort erschienenen Beiträge enthalten überwiegend wirtschaftliche Erfolgsmeldungen mit stark positivem Framing.

Besonders kontrovers war seine Einschätzung, die Niederschlagung der Proteste vom 4. Juni 1989 sei ein „Ausrutscher in der neuen chinesischen Geschichte“ gewesen. Die chinesische Journalistin Su Yutong warf ihm daraufhin öffentlich eine Relativierung des Massakers vor. Der Vorfall illustriert ein wiederkehrendes Muster: Dort, wo eine kritische Distanzierung angemessen wäre, neigt Sieren zur Einordnung, die den Ereignissen nicht gerecht wird.

Pragmatismus ohne Fundament

Sierens Forderung nach „Wandel durch Kooperation“ klingt strategisch vernünftig. Doch sie übersieht systemische Hindernisse: autoritäre Kontrolle, zunehmende Handelskonflikte, ideologische Verhärtung unter Xi Jinping. Die Annahme, partnerschaftliche Zusammenarbeit könne Chinas Entwicklung im Sinne westlicher Werte beeinflussen, erscheint vor diesem Hintergrund als Wunschdenken – ähnlich wie die inzwischen diskreditierte These vom „Wandel durch Handel“, die Sieren selbst für überholt erklärt.

Die Warnung vor Europas Abstieg zum Vergnügungspark ist berechtigt. Doch wer sie mit einem einseitigen Fokus auf Chinas Stärken verbindet und dessen strukturelle Schwächen minimiert, liefert keine brauchbare Grundlage für strategische Entscheidungen.

Ein Korrektiv, das selbst Korrektur braucht

Verteidiger Sierens betonen, seine Analysen seien ein notwendiges Korrektiv zu westlichen Klischees über China. Daran ist etwas Wahres. Die Unterschätzung chinesischer Innovationsfähigkeit war im Westen lange verbreitet und hat zu strategischen Fehleinschätzungen geführt.

Doch ein Korrektiv verliert seinen Wert, wenn es seinerseits in Einseitigkeit kippt.


Quellen: 

China-Experte: „Europa wird Freizeitpark, USA werden überholt“ | Frank Sieren (YouTube)

Chinas Zwickmühle: Zwischen Hochtechnologie und sozialer Erosion

Welt – „Deutschlands ‚führender China-Experte‘ im Netz der Einheitsfront“
https://www.welt.de/politik/deutschland/article253731828/Deutschlands-fuehrender-China-Experte-im-Netz-der-Einheitsfront.html​

DW – „Sierens Antwort auf Chang Ping – Fairness statt Wut“ (Replik auf Kritik)
https://www.dw.com/de/fairness-statt-wut/a-17702613​

Deutschlandfunk Kultur – „Eine differenzierte Betrachtungsweise“ (Debatte um China-Bilder)
https://www.deutschlandfunkkultur.de/eine-differenzierte-betrachtungsweise-100.html​

Wirtschaftswoche – „China: Zwischen Kritik und Kniefall“ (allgemein zum Umgang mit China, inkl. Debattenkontext)
https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/china-zwischen-kritik-und-kniefall/5838226.html​

Studie der Heinrich‑Böll‑Stiftung – „Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien“ (medienanalytischer Kontext, inkl. Einordnung von China‑Narrativen)
https://www.boell.de/sites/default/files/Endf_Studie_China-Berichterstattung.p