Über James G. March und die Grenzen organisationaler Rationalität

I.

Es gehört zu den hartnäckigsten Überzeugungen der Managementlehre, dass Lernen ein Gut sei, von dem Organisationen nie genug haben können. Mehr Lernen, schnelleres Lernen, besseres Lernen – so lautet das Credo einer ganzen Beratungsindustrie, die den Unternehmen pausenlos einredet, sie müssten zu „lernenden Organisationen“ werden, wenn sie überleben wollten. James G. March, einer der einflussreichsten Organisationstheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, hat dieser Gewissheit eine Reihe von Beobachtungen entgegengestellt, die so kontraintuitiv sind, dass sie auch Jahrzehnte nach ihrer ersten Formulierung verstören.

March zeigt, dass organisationales Lernen keineswegs zu sinnvollen Handlungen führen muss. Schlimmer noch: Unter bestimmten Bedingungen kann schnelles Lernen eine schlechte Strategie sein, kann falsches Lernen Fehler verschlimmern statt sie zu korrigieren, kann die Fähigkeit zur Anpassung gerade jene Experimente verhindern, die für echte Anpassung notwendig wären. Was auf den ersten Blick paradox erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als Konsequenz einer nüchternen Analyse dessen, was Lernen tatsächlich bedeutet – und was es nicht leisten kann.

II.

Organisationen lernen, so March, in zwei Dimensionen. Erstens lernen sie, welche Allokationen, Strategien und Technologien zu nutzen sind. Dies geschieht durch einen simplen Mechanismus der Verstärkung: Was in der Vergangenheit zum Erfolg geführt hat, wird beibehalten; was zu Misserfolg geführt hat, wird gemieden. Zweitens erlernen sie Kompetenz: Was sie häufig tun, machen sie besser; was sie selten tun, schlechter. Beide Lernformen zusammen erzeugen jene Pfadabhängigkeiten, die das Verhalten von Organisationen über lange Zeiträume prägen.

Das Problem beginnt dort, wo diese Lernmechanismen auf ihre eigenen Grenzen stoßen. Denn die Rückmeldungen, auf die Organisationen reagieren, sind keineswegs eindeutig. Die Umwelt ist voller Rauschen. Ein Erfolg kann auf eine kluge Entscheidung zurückgehen oder auf glückliche Umstände, die mit der Entscheidung nichts zu tun haben. Ein Misserfolg kann eine falsche Strategie anzeigen oder bloß Pech. Je schneller eine Organisation auf solche Signale reagiert, desto stärker die Gefahr, dass sie auf Zufallsschwankungen reagiert statt auf echte kausale Zusammenhänge.

March formuliert dies mit charakteristischer Schärfe: Schnelles Lernen tendiert zu Überreaktionen auf Variationen in der Umwelt und verhindert das für das Auffinden guter Alternativen unerlässliche Experimentieren. Die Organisation, die am schnellsten lernt, ist nicht notwendigerweise die, die am besten handelt. Sie ist möglicherweise nur die, die am hektischsten auf Signale reagiert, deren Bedeutung sie nicht versteht.

III.

Noch radikaler wird March dort, wo er die Grundannahme strategischen Denkens in Frage stellt: die Vorstellung, dass organisatorisches Handeln und Umweltreaktion in einer engen, berechenbaren Beziehung zueinander stehen. March fordert stattdessen eine Theorie der Umwelt, die weniger organisationszentriert ist – eine Theorie, in der die Aktionen und Ereignisse in der Umwelt manchmal wenig mit dem zu tun haben, was die Organisation tut.

Dies ist keine bloße Einschränkung. Es ist eine fundamentale Kritik an der Vorstellung, Organisationen könnten ihre Umwelt durch kluges Handeln kontrollieren oder auch nur systematisch beeinflussen. March argumentiert, dass Umwelthandlungen in vielen Fällen vom Standpunkt der Beziehung zwischen Ereignissen, Handlungsträgern und Strukturen in der Umwelt verstanden werden müssen – und nicht als Reaktion auf das, was die Organisation tut. Die Umwelt lebt ihr eigenes Leben. Sie reagiert auf Impulse, die mit den Aktionen einer bestimmten Organisation nichts zu tun haben.

Die Konsequenz ist beunruhigend: Dieselbe organisatorische Handlung wird zu verschiedenen Zeiten verschiedene Reaktionen zur Folge haben. Und verschiedene organisatorische Handlungen werden dieselben Reaktionen zur Folge haben. Die Korrelation zwischen Aktion und Reaktion ist schwächer, als Manager glauben wollen. March geht so weit zu sagen, dass die Welt des Absurden für unser Verständnis organisatorischer Phänomene manchmal relevanter ist als die Vorstellung einer engen Verbindung zwischen Handlung und Reaktion.

IV.

March ergänzt diese Analyse durch eine Theorie der Aufmerksamkeit, die das Bild weiter kompliziert. Zeit und Energie sind knappe Ressourcen. Die Kapazität für Überzeugungen, Einstellungen und Interessen ist größer als die für Handlungen. Ein Individuum mag zwar eine Entscheidungssituation als relevant ansehen, dennoch kann es sein, dass es weder über die Zeit noch über die Energie für eine Aktion verfügt.

Diese Beobachtung hat weitreichende Konsequenzen. Unter derartigen Umständen, so March, werden wir beobachten, dass Überzeugungen und Werte keine Implikationen für das Verhalten haben. Selbst wenn Ziel und Energie vorhanden sind, gibt es alternative Wahlsituationen, in denen ein Individuum seine Interessen äußern kann. Der Aufmerksamkeitsfluss hängt nicht vom Inhalt einer einzelnen Auswahl allein ab, sondern von der Ansammlung der verfügbaren Auswahlsituationen.

Was folgt daraus? Wir sollten nicht erwarten, dass ein Set von Überzeugungen und Präferenzen in einer bestimmten Wahlsituation Implikationen für das Verhalten hat, die von den verfügbaren Ansprüchen an die Aufmerksamkeit unabhängig sind. Die Verbindung zwischen dem, was Menschen glauben, und dem, was sie tun, ist lockerer, als rationalistische Handlungstheorien unterstellen.

V.

Die komplexe Sozialstruktur jeder Organisation besitzt eine beträchtliche Kapazität, die Verbindung zwischen individuellem Verhalten und individuellen Überzeugungen und Präferenzen zu schwächen. March beschreibt dies ohne moralisches Urteil: Es wurde als wichtiges Mittel zur Bekämpfung persönlicher Begünstigung und zur Etablierung von Gleichheit und Unparteilichkeit gerühmt. Zugleich wurde es als eine wichtige Quelle für organisatorische Trägheit dargestellt, die den Fortschritt bremst.

March geht es hier nicht um eine normative Beurteilung, sondern um eine grundlegende Frage der Handlungstheorie: Was bringt Menschen überhaupt dazu, sich einer Entscheidungssituation zuzuwenden? Die klassische ökonomische Antwort lautet: Eigeninteresse. Menschen engagieren sich in Entscheidungen, weil sie etwas zu gewinnen oder zu verlieren haben. March hält diese Antwort für unzureichend.

Die Alternative, die er vorschlägt, lässt sich als Unterscheidung zweier Handlungslogiken beschreiben. Die eine ist die Logik der Konsequenzen: Akteure kalkulieren die erwarteten Folgen ihrer Handlungen und wählen diejenige Option, die ihren Nutzen maximiert. Die andere ist die Logik der Angemessenheit: Akteure fragen nicht „Was bringt mir das?“, sondern „Was wird von jemandem in meiner Position in dieser Situation erwartet?“ Sie identifizieren ihre Rolle, erkennen die Situation, und handeln gemäß den Regeln, die für diese Kombination aus Rolle und Situation gelten.

Der Unterschied ist nicht trivial. In der Logik der Konsequenzen ist Handeln das Ergebnis einer Kalkulation. In der Logik der Angemessenheit ist Handeln das Ergebnis einer Identifikation. Der Buchhalter prüft nicht bei jeder Transaktion, ob es sich für ihn persönlich lohnt, die Buchungsregeln einzuhalten. Er hält sie ein, weil er Buchhalter ist und Buchhalter das tun. Der Vorstand stimmt nicht deshalb über Investitionen ab, weil sein Vermögen davon abhängt, sondern weil er Vorstand ist und Vorstände über Investitionen abstimmen.

Diese Beobachtung hat Konsequenzen für das Verständnis organisationalen Verhaltens. Wenn Menschen nach Regeln handeln statt nach Interessen, dann ist die Verteilung von Rollen und die Definition von Situationen wichtiger als die Verteilung von Anreizen. Dann erklärt sich organisationales Verhalten nicht aus den Präferenzen der Beteiligten, sondern aus den Skripten, die sie ausführen. Und dann ist die Frage, wie Organisationen sich ändern, nicht primär eine Frage der Motivation, sondern eine Frage der institutionellen Grammatik – der Regeln, die festlegen, wer in welcher Situation was zu tun hat.

Dies ist keine Pathologie, die es zu überwinden gilt. Es ist eine Grundbedingung organisierten Handelns. Ohne die Entkopplung individueller Präferenzen von organisationalem Verhalten wären komplexe Organisationen nicht funktionsfähig. Aber es bedeutet auch, dass die Vorstellung, man könne durch Änderung der Einstellungen der Organisationsmitglieder das Verhalten der Organisation ändern, naiv ist.

VI.

Was auf kurze Sicht als optimal erscheint, muss nicht notwendigerweise auch auf lange Sicht gut sein. March weist darauf hin, dass Strategien, die im Reifezustand einer Organisation erfolgreich waren, die Organisation mit großer Wahrscheinlichkeit daran hindern würden, diese Stufe auch zu erreichen. Die Vergangenheit ist kein zuverlässiger Führer für die Zukunft – und doch ist sie das einzige, woran sich lernende Organisationen orientieren können.

Hinzu kommt ein Aggregationsproblem. Was für eine Untereinheit optimal ist, ist nicht notwendigerweise auch für die Organisation als Ganzes optimal. Was für jede einzelne Organisation in einer Gruppe optimal ist, muss unter dem Gesichtspunkt der Regenerationsfähigkeit nicht für die ganze Gruppe optimal sein. Lokale Optimierung kann globale Suboptimalität erzeugen – ein Problem, das sich durch besseres Management nicht auflösen lässt, weil es in der Struktur des Problems selbst liegt.

VII.

March’s Analyse ist keine Kritik, die Besseres verspricht. Sie ist eine Desillusionierung. Sie zeigt, dass die Schwierigkeiten, mit denen Organisationen kämpfen, nicht aus mangelndem Wissen oder mangelnder Anstrengung resultieren, sondern aus der Struktur der Situation selbst. Die Umwelt ist nicht beeinflussbar genug, das Feedback nicht eindeutig genug, die Aufmerksamkeit nicht unbegrenzt genug, als dass rationale Optimierung möglich wäre.

Was bleibt? Vielleicht eine bescheidenere Haltung gegenüber den eigenen Möglichkeiten. Vielleicht ein Misstrauen gegenüber Rezepten, die versprechen, durch mehr oder besseres Lernen die Probleme zu lösen. Vielleicht die Einsicht, dass Organisationen in einer Welt agieren müssen, deren Reaktionen sie weder verstehen noch kontrollieren können – und dass dies keine vorübergehende Schwierigkeit ist, die durch bessere Methoden überwunden werden könnte, sondern eine Grundbedingung organisierten Handelns.

March hat einmal geschrieben, dass Theorien nicht danach beurteilt werden sollten, ob sie wahr sind, sondern ob sie interessant sind. Seine Theorie des organisationalen Lernens erfüllt beide Kriterien. Sie ist wahr in dem Sinne, dass sie Phänomene erklärt, die andere Theorien nicht erklären können. Und sie ist interessant, weil sie Annahmen in Frage stellt, die so tief in unserem Denken verankert sind, dass wir sie für selbstverständlich halten. Das ist, was gute Theorie tun sollte.


Quelle:

James G. March (Hrsg.) Entscheidung und Organisation