Adam Smith gilt als Ahnherr des freien Marktes. Doch wer ihn liest, findet einen scharfsinnigen Kritiker von Aktiengesellschaften, einen Warner vor geistiger Verarmung durch Arbeitsteilung – und einen Analytiker, dessen Diagnosen die Pathologien der deutschen Wirtschaft präzise beschreiben.
Es gehört zu den Ironien der Wirtschaftsgeschichte, dass Adam Smith meist nur als Stichwortgeber für die „unsichtbare Hand“ herhalten muss. Die eigentliche analytische Schärfe des „Wohlstand der Nationen“ von 1776 bleibt dabei auf der Strecke. Dabei lohnt gerade heute, inmitten der deutschen Transformationskrise, ein genauerer Blick auf jene Passagen, die in den Einführungsseminaren regelmäßig übersprungen werden.
Das Principal-Agent-Problem: Vorweggenommene Konzernkritik
Smith war, anders als seine marktliberalen Erben suggerieren, ein ausgesprochener Skeptiker der Aktiengesellschaft. Seine Begründung liest sich wie eine Blaupause für die Fehlentwicklungen deutscher Konzerne:
Von den Direktoren einer solchen Gesellschaft, die ja bei weitem eher das Geld anderer Leute als ihr eigenes verwalten, kann man daher nicht erwarten, daß sie es mit der gleichen Sorgfalt einsetzen und überwachen würden, wie es die Partner in einer privaten Handelsgesellschaft mit dem eigenen zu tun pflegen.
Was Smith hier beschreibt, ist das Principal-Agent-Problem in Reinform – zweihundert Jahre bevor die Ökonomen Jensen und Meckling es formalisierten. Die Trennung von Eigentum und Kontrolle erzeugt systematisch Anreize zur Nachlässigkeit, zur Verschwendung, zum kurzfristigen Denken.
Man muss nur die jüngere Geschichte deutscher Konzerne betrachten, um Smiths Diagnose bestätigt zu finden: Wirecard, wo ein Aufsichtsrat jahrelang nicht hinschaute. Die Dieselaffäre bei Volkswagen, wo Manager fremdes Kapital verbrannten, um Quartalszahlen zu schönen. Oder die chronische Innovationsschwäche der deutschen Automobilindustrie, deren angestellte Vorstände die Elektromobilität verschliefen, während sie ihre Boni optimierten.
Smith notiert lakonisch: „Daher müssen Nachlässigkeit und Verschwendung in der Geschäftsführung einer solchen Gesellschaft stets mehr oder weniger vorherrschen.“ Es ist keine moralische Anklage, sondern strukturelle Analyse. Das System produziert diese Ergebnisse – unabhängig von den Individuen, die es bevölkern.
Die geistige Verarmung: Arbeitsteilung als zweischneidiges Schwert
Smiths berühmte Stecknadelmanufaktur gilt als Hymne auf die Produktivitätsgewinne der Arbeitsteilung. Doch im selben Werk findet sich eine schonungslose Gegenrechnung:
Mit fortschreitender Arbeitsteilung wird die Tätigkeit der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die von ihrer Arbeit leben, also der Masse des Volkes, nach und nach auf einige wenige Arbeitsgänge eingeengt, oftmals auf nur einen oder zwei. (…) Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, die zudem immer das gleiche oder ein ähnliches Ergebnis haben, hat keinerlei Gelegenheit, seinen Verstand zu üben.
Das Ergebnis: Der Arbeiter „verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und so stumpfsinnig und einfältig wird, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann.“
Hier spricht nicht Marx, sondern der Begründer der klassischen Nationalökonomie. Smith erkennt die Dialektik der Rationalisierung: Was die Produktivität steigert, kann zugleich die kognitiven Fähigkeiten der Arbeitenden zerstören. Die Spezialisierung, die Wohlstand schafft, erzeugt gleichzeitig eine Gesellschaft, deren Mitglieder die Fähigkeit verlieren, über ihren engen Tätigkeitsbereich hinaus zu denken.
Übersetzt in die Gegenwart: Die deutsche Industrie hat Generationen von Spezialisten hervorgebracht, die exzellent darin sind, Verbrennungsmotoren zu optimieren oder Maschinenbauteile auf Mikrometer-Toleranzen zu fertigen. Doch dieselbe Spezialisierung hat systemische Betriebsblindheit produziert. Die Ingenieure, die den perfekten Dieselmotor bauen konnten, waren kognitiv nicht darauf vorbereitet, die Disruption durch Elektromobilität zu antizipieren. Die IT-Abteilungen, die jahrzehntelang SAP-Systeme pflegten, verstanden nicht, was Plattformökonomie bedeutet.
Smith hätte sich nicht gewundert.
Bildung als Staatsaufgabe: Ein überraschender Befund
Angesichts seiner Skepsis gegenüber staatlichem Handeln überrascht Smiths Position zur Volksbildung:
In einer entwickelten und kommerzialisierten Gesellschaft sollte sich die Öffentlichkeit vielleicht mehr um die Erziehung des einfachen Volkes kümmern als um die der oberen Schicht.
Der Grund ist wiederum strukturell gedacht: Die Kinder der Oberschicht haben Zeit und Ressourcen für Bildung. Die Kinder der Arbeiter müssen früh in die Erwerbsarbeit und haben keine Gelegenheit zur geistigen Entwicklung. Wenn der Staat nicht eingreift, vertieft sich die kognitive Spaltung der Gesellschaft.
Mit nur geringem Aufwand kann der Staat fast der gesamten Bevölkerung diese Schulausbildung erleichtern, sie dazu ermutigen, ja sogar dazu zwingen.
Man könnte diese Passage als frühes Argument für das duale Ausbildungssystem lesen – jene deutsche Institution, die international bewundert wird, aber zunehmend unter Druck gerät. Doch Smith geht es um mehr: um die Verhinderung jener geistigen Verarmung, die aus der Arbeitsteilung resultiert.
Die aktuelle deutsche Debatte über Fachkräftemangel und Bildungsmisere gewinnt vor diesem Hintergrund an Tiefe. Es geht nicht nur um fehlende Programmierer oder Ingenieure. Es geht um die Frage, ob eine Gesellschaft, die ihre Arbeitskräfte auf immer engere Spezialisierungen trimmt, noch die kognitiven Ressourcen besitzt, um komplexe Transformationen zu bewältigen.
Die Anreizstruktur der Wissensproduktion
Besonders hellsichtig ist Smiths Analyse der Universität. Er unterscheidet zwei Modelle: In einem erhält der Dozent sein Einkommen aus Hörgeldern der Studenten, im anderen ein fixes Gehalt unabhängig von seiner Leistung.
Im ersten Fall besteht ein Anreiz zur Qualität: „Das Ansehen in seinem Beruf ist für den Dozenten ebenfalls sehr wichtig; zudem ist er in gewisser Weise abhängig von einem guten Ruf und von der Sympathie und Dankbarkeit seiner Hörer.“
Im zweiten Fall hingegen: „Sein Interesse gerät in diesem Falle in einen so krassen Gegensatz zu seinen Pflichten, wie dies überhaupt nur möglich ist.“ Der Mensch werde seine Pflichten vernachlässigen – „zumindest was man gemeinhin unter Interesse versteht„.
Die Parallelen zur deutschen Wissenschaftslandschaft sind offensichtlich. Das System der Grundfinanzierung, das Forschende von unmittelbarem Leistungsdruck befreit, kann kreative Freiräume schaffen – oder Bequemlichkeit züchten. Die Exzellenzinitiative und die Drittmittelabhängigkeit wiederum erzeugen Anreize, die nicht unbedingt auf Erkenntnisgewinn zielen, sondern auf die Optimierung von Kennzahlen.
Smith würde vermutlich argumentieren, dass es keine perfekte Anreizstruktur gibt. Jedes System produziert seine eigenen Pathologien. Die Kunst liegt darin, die Fehlanreize zu kennen und zu kompensieren.
Fazit: Strukturen statt Moral
Was macht Smiths Analyse so zeitlos? Es ist sein konsequent strukturelles Denken. Smith moralisiert nicht über gierige Manager oder faule Beamte. Er fragt: Welche Anreize setzt das System? Welche Verhaltensweisen werden belohnt, welche bestraft?
Diese Perspektive fehlt in der deutschen Wirtschaftsdebatte oft. Stattdessen dominieren Schuldzuweisungen: Die Manager sind zu kurzfristig orientiert, die Politiker zu unwissend, die Arbeitnehmer zu bequem. Doch wenn dieselben Pathologien über Jahrzehnte und quer durch alle Branchen auftreten, dann liegt das Problem nicht bei den Individuen, sondern bei den Strukturen.
Adam Smith wusste das vor 250 Jahren. Es wäre an der Zeit, ihn wieder zu lesen – nicht als Stichwortgeber für marktliberale Sonntagsreden, sondern als den scharfsinnigen Analytiker institutioneller Fehlanreize, der er war.
