Peter Kruse hätte das deutsche Netzwerkdilemma in einem Satz zusammengefasst: Ihr verwechselt Komplexität mit Kompliziertheit. Seine systempsychologische Perspektive würde zeigen, warum deutsche Unternehmen nicht an fehlenden Methoden scheitern, sondern an ihrer Unfähigkeit, Resonanz statt Kontrolle zu suchen.
Peter Kruse würde vermutlich zunächst lächeln – dieses charakteristische, leicht ironische Lächeln, das er hatte, wenn er wieder einmal beobachtete, wie Organisationen verzweifelt versuchten, nicht-lineare Systeme linear zu steuern. Dann würde er wahrscheinlich sagen: „Das Problem ist nicht, dass deutsche Unternehmen nicht wissen, wie Netzwerke funktionieren. Das Problem ist, dass sie nicht akzeptieren können, dass Netzwerke so funktionieren, wie sie funktionieren.“
Kruse hätte die deutsche Netzwerkobsession als Kategorienfehler identifiziert. In seinen Vorträgen unterschied er akribisch zwischen komplizierten und komplexen Systemen. Komplizierte Systeme – ein Uhrwerk, eine Produktionsanlage, ein hierarchisches Unternehmen – lassen sich durch Analyse verstehen und durch Instruktion steuern. Man kann sie in Einzelteile zerlegen, die Funktionsweise jedes Teils verstehen, und dann das Ganze wieder zusammensetzen. Mehr Input führt zu mehr Output, gleiche Ursachen führen zu gleichen Wirkungen.
Komplexe Systeme – und Netzwerke sind komplexe Systeme par excellence – funktionieren fundamental anders. Sie sind nicht-linear, selbstorganisierend, historisch. Man kann sie nicht durch Zerlegung verstehen, weil ihre Eigenschaften erst in der Interaktion der Teile entstehen. Man kann sie nicht durch Instruktion steuern, weil sie auf Steuerungsversuche in unvorhersehbarer Weise reagieren. Deutsche Unternehmen aber, so würde Kruse diagnostizieren, behandeln komplexe Netzwerke wie komplizierte Maschinen. Sie versuchen, Netzwerkdynamiken durch Prozessdefinitionen zu kontrollieren, Emergenz durch Governance-Strukturen zu bändigen, Selbstorganisation durch Regelwerke zu ersetzen.
Der Kern von Kruses Argumentation wäre die Unmöglichkeit von Instruktion in komplexen Systemen. In seinen Seminaren demonstrierte er gern, wie Organisationen Millionen für Change-Programme ausgeben, die dann scheitern – nicht weil sie schlecht gemacht sind, sondern weil sie auf einer falschen Prämisse beruhen. Die Prämisse lautet: Wenn wir nur die richtigen Anweisungen geben, die richtigen Strukturen schaffen, die richtigen Prozesse definieren, dann wird sich die Organisation wie gewünscht verhalten. Das funktioniert bei komplizierten Systemen. Bei komplexen Systemen führt es ins Leere.
Warum? Weil komplexe Systeme auf Resonanz reagieren, nicht auf Instruktion. Resonanz entsteht, wenn eine Anregung von außen auf eine interne Disposition trifft, die schwingungsfähig ist. Man kann Resonanz nicht erzwingen, man kann nur Bedingungen schaffen, unter denen sie wahrscheinlicher wird. Deutsche Unternehmen aber versuchen, Netzwerkteilnahme zu instruieren: „Ab jetzt arbeiten wir agil, ab jetzt denken wir in Plattformen, ab jetzt kooperieren wir im Ökosystem.“ Keine dieser Anweisungen erzeugt Resonanz. Sie prallen an der bestehenden organisationalen Realität ab.
Kruse würde vermutlich die Frage nach der Anschlussfähigkeit radikal umformulieren. Nicht: „Wie werden wir anschlussfähig?“ Sondern: „Welche Muster in unserer Organisation verhindern, dass Anschlüsse entstehen können?“ Das ist ein entscheidender Unterschied. Die erste Frage suggeriert, man könne Anschlussfähigkeit aktiv herstellen. Die zweite Frage erkennt, dass Anschlussfähigkeit emergent entsteht, wenn man hinderliche Muster abbaut.
Musterbildung war Kruses zentrales Konzept. Organisationen bilden stabile Muster aus – Denkmuster, Kommunikationsmuster, Handlungsmuster. Diese Muster sind selbstverstärkend: Sie reproduzieren sich, weil sie funktional sind (oder einmal waren), und sie werden durch jede Wiederholung stabiler. Deutsche Unternehmen haben über Jahrzehnte Muster entwickelt, die für hierarchische Wertschöpfung optimal sind: detaillierte Planung, sequenzielle Abarbeitung, Kontrolle durch Kennzahlen, Entscheidung durch Autorität. Diese Muster haben Deutschland zum Exportweltmeister gemacht. Sie sind tief eingegraben, emotional besetzt, identitätsstiftend.
Nun sollen dieselben Organisationen in Netzwerken operieren, die völlig andere Muster erfordern: experimentelles Vorgehen, parallele Prozesse, Orientierung durch Feedback, Entscheidung durch Selektion. Das Problem: Man kann nicht einfach neue Muster über alte stülpen. Die alten Muster sind Attraktoren – sie ziehen die Organisation immer wieder in bekannte Verhaltensweisen zurück. Jeder Transformationsversuch, der diese Attraktoren nicht auflöst, ist zum Scheitern verurteilt.
Kruse hätte hier vermutlich seine berühmte Metaphor der „Stabilität durch Instabilität“ ins Spiel gebracht. Komplexe Systeme erreichen Stabilität nicht durch Rigidität, sondern durch ständige kleine Anpassungen. Ein Radfahrer bleibt nur stabil, solange er in Bewegung ist und permanent mikrokorrigiert. Sobald er versucht, eine starre Position einzunehmen, fällt er um. Deutsche Unternehmen aber suchen Stabilität durch Rigidität: klare Strukturen, feste Prozesse, definierte Schnittstellen. In stabilen Umgebungen funktioniert das. In volatilen Netzwerkumgebungen führt es zum Umfallen.
Die Frage nach dem Umgang mit Ambiguität hätte Kruse emotionspsychologisch gewendet. Ambiguität, so würde er argumentieren, ist nicht primär ein kognitives Problem, sondern ein emotionales. Menschen können kognitiv verstehen, dass eine Situation mehrdeutig ist. Aber emotional erzeugt Mehrdeutigkeit Unsicherheit, und Unsicherheit erzeugt Angst. Organisationen entwickeln Mechanismen, um diese Angst zu bewältigen – typischerweise durch Komplexitätsreduktion, Formalisierung, Regelbildung. Je mehr Angst, desto mehr Regeln.
Deutsche Unternehmenskultur ist, so würde Kruse diagnostizieren, eine angstbasierte Kultur. Nicht im Sinne von panischer Angst, sondern im Sinne einer tiefsitzenden Furcht vor Kontrollverlust, Gesichtsverlust, Fehlern. Diese Angst hat historische Wurzeln – sie speist sich aus Kriegstraumata, Wiederaufbauerfahrungen, dem Wirtschaftswunder-Versprechen „Leistung wird belohnt“. Sie äußert sich in Perfektionismus, Risikoaversion, dem Zwang zur lückenlosen Dokumentation. Alles muss abgesichert sein, nichts darf schiefgehen, jede Eventualität muss bedacht werden.
Netzwerke aber erfordern eine fehlertolerante Kultur. Nicht weil Fehler gut wären, sondern weil Lernen in komplexen Systemen nur durch Versuch und Irrtum funktioniert. Man kann nicht im Voraus berechnen, welche Netzwerkinteraktion funktioniert. Man muss es ausprobieren, beobachten, adjustieren. Das bedeutet: Man wird häufig falsch liegen. Ressourcen werden verschwendet. Initiativen werden scheitern. Für eine angstbasierte Kultur ist das unerträglich.
Kruse würde an dieser Stelle vermutlich eine seiner provokanten Thesen aufstellen: „Deutsche Unternehmen wollen gar nicht netzwerkfähig werden. Sie wollen nur sagen können, dass sie es versucht haben.“ Die Transformationsprogramme, die Plattformstrategien, die Digitalisierungsinitiativen – sie dienen oft primär der organisationalen Selbstberuhigung. Man tut etwas, man investiert, man bemüht sich. Wenn es dann nicht funktioniert, kann man sagen: Wir haben alles versucht, aber die Technologie war noch nicht reif, die Partner waren nicht zuverlässig, der Markt war nicht bereit.
Die eigentliche Transformation würde bedeuten, die emotionale Basis der Organisation zu verändern. Von Angst zu Neugier. Von Kontrolle zu Vertrauen. Von Perfektion zu Iteration. Das ist keine Frage von Workshops und Trainings. Das ist eine Frage von Erfahrungen, die Menschen machen – und die positive emotionale Resonanz erzeugen. Jemand probiert etwas Neues aus, es funktioniert einigermaßen, er wird dafür belohnt statt bestraft. Diese Erfahrung wird wiederholt, von anderen beobachtet, nachgeahmt. Langsam entsteht ein neues Muster.
Aber – und hier würde Kruse vermutlich sehr deutlich werden – das funktioniert nur, wenn die Führung selbst anfängt zu experimentieren. Nicht im Sinne von „wir starten ein Experimentier-Programm“, sondern im Sinne von: Die Führung lässt los, macht Fehler, lernt öffentlich. Das ist für deutsche Vorstände nahezu unmöglich. Ihre Position basiert auf der Illusion der Kontrolle. Ein Vorstand, der zugibt, dass er nicht weiß, wie Netzwerke funktionieren, verliert seine Legitimation. Also tut man so, als hätte man einen Plan, eine Strategie, eine Roadmap. Und genau diese Illusion verhindert echtes Lernen.
Kruse hätte hier wahrscheinlich auf die Parallelität von Stabilität und Wandel hingewiesen. Man kann nicht eine ganze Organisation gleichzeitig transformieren. Was man kann: Freiräume schaffen, in denen neue Muster entstehen dürfen, während die Kernorganisation weiter nach alten Mustern funktioniert. Nicht Integration, sondern Separation. Die Fehlannahme vieler Transformationsprogramme ist, dass Innovation und Effizienz in derselben Organisationseinheit gleichzeitig möglich sind. Sie sind es nicht. Sie widersprechen sich auf fundamentaler Ebene.
Was deutsche Unternehmen bräuchten, wären geschützte Räume für Netzwerkexperimente. Nicht „Innovation Labs“, die nach drei Jahren Laufzeit einen ROI nachweisen müssen. Sondern echte Autonomie: eigenständige Einheiten mit eigener Finanzierung, eigenen Entscheidungsstrukturen, eigenem Fehlerbudget. Diese Einheiten dürfen scheitern, ohne dass es Konsequenzen hat. Sie dürfen erfolgreich sein, ohne dass die Mutterorganisation sie sofort kontrollieren will. Sie sind Sonden in unbekanntes Terrain, nicht Projekte mit Zielvorgaben.
Doch – und hier wird Kruse vermutlich resignativ – genau das geschieht nicht. Denn es widerspricht der Kontrolllogik deutscher Konzerne. Jede Initiative muss ins Portfoliomanagement, muss Budgetzyklen durchlaufen, muss KPIs erfüllen. Die Freiräume, die man schafft, sind keine echten Freiräume, sondern formalisierte Experimentierzonen mit Berichtspflichten. Die Kontrolle, die man aufgeben müsste, wird nur umdeklariert, nicht aufgegeben.
Kruses Fazit würde vermutlich lauten: „Ihr könnt es nicht, weil ihr nicht wollt. Und ihr wollt nicht, weil ihr Angst habt.“ Die Angst davor, Kontrolle abzugeben. Die Angst davor, dass sich die Organisation in unvorhersehbare Richtungen entwickelt. Die Angst davor, dass man selbst überflüssig wird, wenn Netzwerke sich selbst organisieren. Diese Angst ist rational, aus Sicht der einzelnen Akteure. Ein mittleres Management, das seine Existenzberechtigung aus Koordinationsfunktionen zieht, wird nicht freiwillig Selbstorganisation fördern. Ein Vorstand, dessen Reputation auf Steuerungsfähigkeit beruht, wird nicht freiwillig Emergenz zulassen.
Die eigentliche Blockade ist also nicht kognitiv oder methodisch, sondern strukturell-emotional. Die Strukturen produzieren Ängste, die Ängste reproduzieren die Strukturen. Das ist ein stabiler Attraktor. Man kommt da nicht raus durch Aufklärung, nicht durch Training, nicht durch Strategiepapiere. Man kommt nur raus durch Irritation – durch Erfahrungen, die so stark sind, dass sie die bestehenden Muster destabilisieren.
Solche Irritationen können von außen kommen: wenn ein Wettbewerber plötzlich über Netzwerkeffekte den Markt dominiert, wenn die besten Talente zur Konkurrenz abwandern, wenn regulatorische Anforderungen Plattformintegration erzwingen. Oder von innen: wenn eine kleine Einheit unerwartet erfolgreich ist und das etablierte Geschäftsmodell in Frage stellt, wenn junge Führungskräfte andere Erwartungen mitbringen, wenn die Eigentümer Druck machen.
Aber – und das wäre Kruses nüchterne Einschätzung – diese Irritationen kommen für die meisten deutschen Unternehmen zu spät. Die Muster sind zu stabil, die Ängste zu tief, die Strukturen zu verfestigt. Man wird weiter machen, was man kennt: planen, kontrollieren, optimieren. Man wird weiter scheitern an Netzwerken, die man nicht kontrollieren kann. Und man wird das Scheitern externalisieren: Es lag an der Regulierung, an den Partnern, an der Technologie. Nicht an uns.
„Das ist keine Bosheit“, würde Kruse am Ende vielleicht sagen. „Das ist Systemlogik. Organisationen tun, was ihre Muster ihnen ermöglichen. Und die Muster deutscher Unternehmen ermöglichen ihnen fast alles – außer Netzwerkfähigkeit.“ Dann würde er vermutlich lächeln, den Kopf schütteln und zum nächsten Thema übergehen. Denn er wusste: Man kann Systeme nicht überzeugen. Man kann nur Bedingungen schaffen, unter denen sie sich selbst verändern. Und diese Bedingungen sind in deutschen Großunternehmen nicht gegeben.
