Von Ralf Keuper
Ein Blick in die jüngere Geschichte Deutschlands könnte die Vermutung nahelegen, dass wir nur aus Katastrophen lernen. Die rechtzeitige Einleitung notwendiger Strukturreformen scheitert allzu oft an den Beharrungstendenzen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.
So befreite der 1. Weltkrieg die deutsche Gesellschaft von der Vormachtstellung und den Privilegien des Adels und der Junker, obschon beide Gruppen auch danach noch über einigen Einfluss verfügten, mit dem sie gegen die Weimarer Republik agitierten. Auch die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 gelang nur auf militärischem Weg, über den Sieg über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg. Dann der Zweite Weltkrieg, der einen Neuanfang erzwang. Es ist fraglich, ob die deutsche Gesellschaft von sich aus die nötigen Veränderungen, wenngleich in einem anderen Zeitverlauf, eingeleitet und durchgeführt hätte.
Der Soziologe Erwin Scheuch stellte dazu fest:
Tief greifende Reformen sind bei uns nur nach katastrophenartiger Zuspitzung einer Situation möglich. Genutzt wurde eine solche Situation 1949, als sich das erste Kabinett Adenauer auf eine neue Wirtschaftsordnung festlegte: die <<soziale Marktwirtschaft<<. (in: Manager im Größenwahn)
Alfred Herrhausen war sich dessen bewusst, als er schrieb:
Das Wirtschaftswunder in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt sich nicht zuletzt durch das im Zusammenbruch erzwungene Aufbrechen verkrusteter Verteilungsstrukturen und die dadurch bewirkte Notwendigkeit zum Neubeginn. Diese Phase ist vorüber. Ist damit auch die Chance zur Fortentwicklung verloren? Es wäre ein Armutszeugnis für unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wenn sich der Status quo nur mittels Katastrophen und wirtschaftlicher Krisen aufbrechen ließe. Institutionelle Erneuerung muss auch mit weniger abrupten Wechseln möglich sein. Aber dazu muss man sie wollen. An die Stelle von zwanghafter Ausgangslage, der man gehorsam folgt, weil es keine andere Möglichkeit gibt, muss die bewusste Zielsetzung treten, mit der man gestaltend führt (in: Denken _ Ordnen _ Gestalten).