Von Ralf Keuper
Die deutsche Industrie befindet sich aktuell in einer Strukturkrise. Es gibt sicherlich einige Argumente für die Behauptung, dass es sich in erster Linie um eine Absatzkrise und weniger um eine Strukturkrise handele – wie es in der Vergangenheit schon oft der Fall war. Gegen diese Annahme spricht, dass im Deutschland der Nachkriegszeit noch nie mehrere Leitbranchen – Automobilindustrie, Chemie und Maschinenbau – gleichzeitig mit deutlichen Überkapazität und Verlusten von Marktanteilen auf den Weltmärkten zu kämpfen hatten. Erschwerend kommt die Energiepolitik der Ampelregierung hinzu, die zwar nicht ursächlich für die Strukturkrise ist, sie jedoch deutlich – und das zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt – beschleunigt hat.
Kurzum: Es spricht derzeit viel dafür, dass das deutsche Wirtschaftsmodell in seiner bisherigen Form seinen Zenit überschritten hat.
Ursachen
Sicherlich gibt es nicht nur eine Ursache, die für den Niedergang der deutschen Industrie verantwortlich ist. Dazu beigetragen haben eine kurzsichtige Wirtschaftspolitik, insbesondere der Regierung Merkel (man denke nur an die unterbliebenen Investitionen in die Infrastruktur), Managementversagen auf breiter Front, wie im Fall VW, die überbordende Bürokratie, Stichwort: Lieferkettengesetz, ein ausgeprägter Strukturkonservativismus, auch Pfadabhängigkeit genannt, und in besonderer Weise die Konkurrenz aus China, die mittlerweile mithilfe neuer Technologien hochwertige Produkte herstellt, wie im Fall der E-Autos von BYD. Daneben haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine einen großen Anteil an der Verschärfung der Situation. Und ob die Zuwanderung der letzten Jahre ein wirksames Mittel gegen den Fachkräftemangel ist, darf mittlerweile bezweifelt werden.
Innovationsfalle
Die deutsche Wirtschaft befindet sich seit Jahren in einer Innovationsfalle, wie sie Clayton Christensen in seinem Buch The Innovatior’s Dilemma beschrieben hat. Demnach laufen einstige Technologieführer mit der Zeit Gefahr, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen, keine großen Risiken mehr einzugehen und sich stattdessen auf inkrementelle Innovationen zu konzentrieren. Umgeben von einem Netz aus Zulieferern und weiterer Partner, kommen die Unternehmen nicht auf die Idee, nach neuen Geschäftsmodellen Ausschau zu halten, nicht zuletzt auch deshalb, da dies hohe Investitionen mit ungewissem Ausgang bedeutet. Diese Strategie geht so lange gut, bis sich das Wettbewerbsumfeld radikal wandelt.
Strategische Wendepunkte
Der ehemalige Chef von Intel, Andy Grove, nannte als die größte Gefahr eines Unternehmens, überhaupt nicht oder zu spät die strategischen Wendepunkte des eigenen Geschäfts zu erkennen. Exemplarisch dafür ist die deutsche Automobilindustrie.
Merkmale eines strategischen Wendepunkts
Veränderung des Gleichgewichts: An einem Wendepunkt verschiebt sich das Gleichgewicht der Wettbewerbsfaktoren von der alten zur neuen Struktur. Dies führt zu einer Auflösung des bisherigen strategischen Bildes und erfordert die Entwicklung einer neuen Vision.
Graduelle Erkennung: Der Prozess der Erkennung eines Wendepunkts verläuft oft schrittweise:
- Ein beunruhigendes Gefühl, dass etwas anders ist
- Bewährte Methoden funktionieren nicht mehr wie gewohnt
- Unerwartete Konkurrenz taucht auf
- Diskrepanz zwischen Unternehmensleitung und operativer Realität wächst
Statt sich intensiv mit der E-Mobilität und neuen Mitbewerbern wie Tesla zu beschäftigen, sorgte die deutsche Automobilindustrie mit dem Dieselskandal international für Schlagzeilen. Die bewährten Methoden (vor allem der Lobbyismus) funktionierten nicht mehr, unerwartete Konkurrenz tauchte auf und die Diskrepanz zwischen Unternehmensleitung und operativer Realität wuchs beständig.
Premiumfalle
Bislang ist es der deutschen Industrie immer noch rechtzeitig gelungen, sich im Premium-Segment zu behaupten. Neu ist jedoch, dass der qualitative und technologische Unterschied mit den Produkten ausländischer Hersteller, wie aus China und Korea, die deutlich höheren Preise aus Sicht der Kunden nicht mehr rechtfertigen; zumal die ausländischen Produkte qualitativ und technologisch inzwischen mindestens gleichwertig sind. Die Strategie von Mercedes, sich als Luxushersteller zu etablieren, darf als gescheitert betrachtet werden. Was bei Mercedes, BMW & Co. Premium ist, ist bei BYD Standard.
Der Maschinenbau wird sich in Zukunft noch mehr als bisher mit der chinesischen Konkurrenz auseinandersetzen müssen. Schätzungen gehen davon aus, dass China bis 2030 50% des Weltmarktes erobert hat.
Im Jahr 2015 kamen Eva Müller und Dieter Palan in Wandlungswunder deutsche Industrie – auch digital unkaputtbar? zu dem Befund:
Trotz dieser Fähigkeit, sich technologisch an die Spitze einer Bewegung zu setzen und die Premiumwelle zu reiten, hat sich selbst hierzulande der harte industrielle Kern im Laufe der Zeit dezimiert. Er konzentriert sich zunehmend auf die Branchen Chemie, Maschinen, Auto und Elektronik. Das Tätigkeitsfeld ist so eng, dass kaum mehr Spielraum für Ausfälle bleibt – wie mit Solarherstellern oder Telekomausrüstern geschehen.
Hochtechnologie ist Mangelware
Die Stärke der deutschen Wirtschaft in der Vergangenheit war die Beherrschung der mittleren Technologien. Das hat bis dato gut funktioniert. Ob es allerdings gut ist, bei Computerchips und Batteriezellen auf ausländische Hersteller angewiesen zu sein, darf bezweifelt werden. Die reine Veredelung und Weiterverarbeitung von Rohstoffen ist, jedenfalls bei den aktuellen Energiepreisen, kein lohnendes Geschäftsmodell mehr.
Wertschöpfung fließt unwiederbringlich ab
Die stark wachsende Zahl der Insolvenzen führt dazu, dass ein großer Teil der (industriellen) Wertschöpfung aus Deutschland abfließt und damit natürlich auch das Know How. Von den Folgen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie für die Kommunen ganz zu schweigen. Jetzt kann man der Deindustrialisierung, wie Hermann Simon, positive Seiten abgewinnen und sie als notwendige schöpferische Zerstörung interpretieren. Das funktioniert jedoch nur dann, wenn auf der anderen Seite in einem überschaubaren Zeitraum genügend neue Jobs und Unternehmen entstehen. Das Beispiel Ruhrgebiet sollte eine Mahnung sein, wenngleich hier zahlreiche hausgemachte Fehler zum Tragen kamen. Im Süden Deutschlands bahnt sich eine Entwicklung an, die durchaus einige Parallelen mit der des Ruhrgebiets erkennen lässt.
Die nächsten Jahre werden sehr hart
Es braucht keine prophetische Gabe (mehr), um vorherzusagen, dass die deutsche Wirtschaft in den nächsten Jahren einen tiefgreifenden und schmerzhaften Wandel durchleben wird. Dabei werden einstige Leuchttürme der Wirtschaft entweder ganz verschwinden oder arg geschleift. Der derzeitige Personalbestand bei Unternehmen wie VW, BMW, Bosch, Mercedes, Daimler Truck, Continental, ZF, Schäffler usw. wird sich nicht halten lassen[1]Persönlich gehe ich davon aus, dass bis zu 2/3 der Jobs in den nächsten fünf bis zehn Jahren wegfallen werden. Die bisherigen Maßnahmen waren nur der Anfang. Das gilt auch für den Maschinenbau ebenso wie für weite Teile des verarbeitenden Gewerbes, für den Bau ebenso wie für das Handwerk. Daran wird auch die nächste Regierung nur wenig ändern.
References
↑1 | Persönlich gehe ich davon aus, dass bis zu 2/3 der Jobs in den nächsten fünf bis zehn Jahren wegfallen werden |
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