Das sogenannte Leistungsprinzip ist als unmenschlich und versklavend viel geschmäht worden. Gewiß, seine Auswüchse – und wer wollte leugnen, dass es diese gibt – sind Perversionen. Aber können wir angesichts der Aufgaben, die unerledigt vor uns liegen, auf Leistung als Ausdruck gesunden Fleißes und Vorwärtsstrebens verzichten? Schon der Wohlstand, in dem wir leben, wäre nicht erreichbar gewesen, hätten wir dieses Ordnungs- und Antriebselement unserer Gesellschaft so verketzert, wie manche, die seine Früchte gerne verzehren, es heute häufig tun. Um wieviel notwendiger bleibt es, wenn man erkennt, dass unser materielles Niveau labil ist, weil es offenkundig durch die Vernachlässigung von Schulen und Universitäten, Krankenhäusern und Altersheimen, des Straßenbauers und der Umwelthygiene bezahlt wurde. Hier liegt ein Nachholbedarf riesigen Ausmaßes, der die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit diejenige aller in ihr arbeitenden Menschen beanspruchen wird. .. Und im übrigen: Was nutzen uns alle Bestrebungen, zu einer breiteren Verteilung des Produktivvermögens zu kommen, wenn man eben dieses Produktivvermögen zur Absage an das Leistungsprinzip veranlassen will. Nein, wir dürfen uns nicht fürchten, gefordert zu werden, und wir brauchen es auch nicht – wenn wir uns durch Lernen und Leistung befähigen.
Wir sollten auch keine Angst haben, uns gegen die Verängstigung zur Wehr setzen, die manche Gegner unseres Systems durch Terror und Gewalt praktizieren. Wie lange wird es sonst noch dauern, bis auch hierzulande ein Abendspaziergang zum Risiko wird? In den Städten kann man heutzutage sein Eigentum schon nicht mehr unbewacht lassen, ohne Verlust oder Beschädigung befürchten zu müssen. Hier ist der Ruf nach Recht und Ordnung kein Rückfall in rechtsextreme Ideologien, sondern das natürliche und verständliche Verlagen nach den Bindungen in Freiheit, ohne die menschliches Zusammenleben nicht möglich ist.
Alfred Herrhausen: Risiken und Chancen der Demokratie (1971) , in: Denken_Ordnen_Gestalten.