Von Ralf Keuper
Im November 2011 hatte ich in Familienunternehmen – Größe und Grenzen erste Zweifel am Mythos Familienunternehmen formuliert. Die damaligen Beispiele – Haniel, Schaeffler, Sal. Oppenheim, Prym – erschienen noch als Ausreißer, als bedauerliche Einzelfälle in einer ansonsten funktionierenden Ordnung. 14 Jahre später lässt sich bilanzieren: Es waren keine Ausreißer. Es waren Vorboten.
Im Folgeartikel Sind Familienunternehmen wirklich anders? vom Juni 2015 notierte ich weitere Risse im Bild: der feindliche Übernahmeversuch von Weidmüller gegen R. Stahl, der nach außen gedrungene Erbstreit bei Oetker, die Auseinandersetzung zwischen Clemens und Robert Tönnies. Ich zitierte damals Arist von Schlippe, der die Streitsucht der Familienunternehmen mit deren besonderen Werten erklären wollte – und nannte das zirkuläre Argumentation. Inzwischen hat die Empirie das Urteil bestätigt.
Die Fallbeispiele von 2011: Was wurde aus ihnen?
Haniel
Haniel zierte damals die Titelseiten als Negativbeispiel. Seitdem hat sich wenig gebessert. Das 1756 gegründete Unternehmen mit seinen rund 750 Gesellschaftern durchlebte mehrere Strategiewechsel, Chefwechsel und Portfoliobereinigungen. 2023 ging der langjährige CEO Thomas Schmidt nach Differenzen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden – einem Familienmitglied.
2024 kehrte das Unternehmen mit einem Konzernergebnis von einer Million Euro gerade so in die schwarzen Zahlen zurück. Trotzdem flossen 55 Millionen Euro Dividende an die Gesellschafter – Tradition verpflichtet, auch in Verlustjahren. Die neue Strategie: Aufbau eines »Growth Capital Portfolios« mit Clean-Tech-Investments und Risikokapitalfonds. Das klingt weniger nach patriarchalischer Industrietradition als nach Family Office mit Nachhaltigkeits-Label.
Schaeffler
Schaeffler überlebte die Beinahe-Katastrophe nach dem Continental-Abenteuer 2008/09, aber die Wunden heilten nie ganz. 2024 dann der Rückfall: 632 Millionen Euro Verlust, 4.700 Stellen europaweit vor dem Abbau, davon 2.800 in Deutschland. Die operative Marge kollabierte von 7,3 auf 4,5 Prozent.
Die Transformation der Automobilindustrie trifft das Familienunternehmen mit voller Wucht – der langfristige Planungshorizont, der angebliche Vorteil gegenüber börsennotierten Wettbewerbern, hat nicht vor strategischen Fehleinschätzungen geschützt.
Sal. Oppenheim: Der Ersatzadel vor Gericht
Der spektakulärste Absturz jener Jahre war Sal. Oppenheim – und er verdient eine ausführlichere Betrachtung, weil er die Legende vom »Ersatzadel« so gründlich demontierte. Das Kölner Bankhaus, gegründet 1789, war mit 41 Milliarden Euro Bilanzsumme und 150 Milliarden Euro verwaltetem Vermögen die größte unabhängige Privatbank Europas. Die Namen der persönlich haftenden Gesellschafter lasen sich wie ein Adelskalender: Christopher Freiherr von Oppenheim, Matthias Graf von Krockow, Friedrich Carl Janssen. Die »edelsten Unternehmerfamilien des Landes« – Deichmann, Benteler, Douglas, Neven DuMont – ließen ihr Geld von diesen Leuten verwalten, angelockt von exklusiven Immobilienfonds und dem Nimbus alter Namen.
Was folgte, war ein Lehrstück in Hybris und Verantwortungslosigkeit. Die Bankführung vergab ungesicherte Kredite über 380 Millionen Euro an den bereits angeschlagenen Arcandor-Konzern, übernahm 30 Prozent der Arcandor-Aktien und bürgte persönlich für Kredite an die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz. Als Arcandor 2009 in die Insolvenz ging, riss es Sal. Oppenheim mit. Nach 220 Jahren Unabhängigkeit rettete nur der Notverkauf an die Deutsche Bank das Institut.
2015 dann das Urteil des Landgerichts Köln nach über zwei Jahren Verhandlung: schwere gemeinschaftliche Untreue. Janssen erhielt zwei Jahre und zehn Monate Gefängnis, von Krockow und Pfundt je zwei Jahre auf Bewährung, Christopher von Oppenheim ein Jahr und elf Monate auf Bewährung. Der BGH bestätigte die Urteile 2018.
Besonders entlarvend waren die Auftritte vor Gericht. Christopher von Oppenheim, dessen Vater einst auf 4,6 Milliarden Euro Vermögen geschätzt wurde, konnte sich an fast nichts erinnern. »Ich habe damals hingenommen, wie es war, und oft nicht weiter nachgefragt«, sagte er. Auf die Frage nach seiner aktuellen Tätigkeit: Er gehe »keiner Tätigkeit« nach, ordne seinen Besitz, stoße Immobilien ab, um Verbindlichkeiten aus der Arcandor-Insolvenz zu bedienen.
Graf von Krockow hatte bei der Trauerfeier für den früheren Bankchef Alfred von Oppenheim im Hohen Dom zu Köln 2005 gelobt, die Bank »in achter Generation erfolgreich mitzuführen«. Vor Gericht, nach über hundert Verhandlungstagen Schweigen, gestand er mit brüchiger Stimme: »Dieses Versprechen habe ich nicht gehalten.«
2018 gab die Deutsche Bank auf. Die »verbliebenen Kunden« wurden integriert, der aktive Geschäftsbetrieb eingestellt. Vom Traditionshaus blieb nichts außer einer Abwicklungsgesellschaft. Der Claim »Privatbank seit 1789« wurde zur Fußnote der Wirtschaftsgeschichte.
Merckle: Der Patriarch als Zocker
Adolf Merckle verkörperte das Idealbild des schwäbischen Unternehmers so perfekt, dass es fast kitschig wirkte. Er fuhr Golf, buchte bei Bahnreisen die zweite Klasse, besaß weder Yacht noch protzige Villa. Auf Hauptversammlungen wirkte er »wie ein Kleinaktionär«, grüßte jeden, gab jedem die Hand. »Mir ist fremd, etwas aufzugeben«, lautete sein Lebensmotto. Mit einem geschätzten Vermögen von fast sieben Milliarden Euro war er der fünftreichste Deutsche.
Was hinter der Fassade schwäbischer Bescheidenheit lag, war etwas anderes: ein Imperium aus Ratiopharm, HeidelbergCement, Phoenix Pharmahandel und hundert weiteren Beteiligungen, zusammengehalten durch ein Geflecht aus Krediten und Sicherheiten. Und ein Patriarch, der »knallhart, brutal, zum Teil auch rücksichtslos« sein konnte, wie ein Geschäftspartner es formulierte.
Ende 2008 geriet das Konstrukt ins Wanken. Merckle hatte für die Übernahme des britischen Baustoffherstellers Hanson Kapitalerhöhungen bei HeidelbergCement vorgenommen und diese mit Krediten finanziert, besichert durch Aktien. Als die Börsenwerte in der Finanzkrise abstürzten, verloren auch die Sicherheiten 75 Prozent ihres Werts. Die Banken forderten Nachschüsse.
Dann kam die Spekulation, die alles verschlimmerte. Merckle setzte auf fallende VW-Kurse – ausgerechnet in dem Moment, als Porsche seinen Übernahmeversuch startete und die Aktie explodierte. Die Verluste: ein dreistelliger Millionenbetrag, manche sprachen von einer Milliarde Euro.
Am 5. Januar 2009 beging Adolf Merckle Selbstmord. Er warf sich vor einen Regionalzug bei Blaubeuren, nachdem er am selben Tag noch die Unterschriften für die Rettungsvereinbarung mit den Banken geleistet hatte. Die Familie teilte mit: »Die wirtschaftliche Notlage seiner Unternehmen und die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, haben ihn gebrochen.«
Die Bedingungen der Banken waren demütigend: Ratiopharm, die »Perle« des Imperiums, musste verkauft werden. Sohn Ludwig, der designierte Nachfolger, musste sich aus dem Geschäft zurückziehen. Der Patriarch, der nie die Kontrolle abgegeben hatte, starb, bevor er die Zerschlagung seines Lebenswerks erleben musste.
Der Fall Merckle zeigt die dunkle Seite des patriarchalischen Modells: absolute Kontrolle, die in Hybris umschlägt. Wer jahrzehntelang alle Fäden in der Hand hält, verlernt, Grenzen zu akzeptieren. Der bescheidene Auftritt war Stil, nicht Substanz. Am Ende zockte der Golf fahrende Patriarch wie ein Hedgefonds-Manager – nur ohne dessen Risikomanagement.
Neue Fälle, altes Muster
Bahlsen: Die Brüder und die Teilung
Die Aufspaltung der Bahlsen-Gruppe 1999 ist ein Lehrstück darüber, wie Familienunternehmen an divergierenden Interessen zerbrechen. Das 1889 gegründete Unternehmen – Leibniz-Keks, Salzletten, ein Stück deutscher Wirtschaftsgeschichte – wurde von den Brüdern Werner Michael und Lorenz Bahlsen in der dritten Generation geführt. Beide hielten je 36 Prozent, die Familie von Nordeck weitere 28 Prozent.
1997 schrieb das Unternehmen bei knapp zwei Milliarden Mark Umsatz rote Zahlen in Höhe von 20 Millionen Mark. Die Brüder konnten sich nicht über die Zukunftsstrategie einigen. Die Lösung war die Zerschlagung: Werner Michael behielt das Süßgebäck unter dem Namen Bahlsen, Lorenz übernahm die salzigen Snacks und firmierte später als Lorenz Snack-World. Die Familie von Nordeck erhielt eine eigene Holding mit weiteren Marken.
Seither entwickelten sich die Unternehmensteile getrennt – und unterschiedlich erfolgreich. Lorenz, 2023 verstorben, baute seinen Teil zu einem soliden europäischen Snackhersteller aus. Das Stammhaus Bahlsen kämpfte mit Strategiewechseln und Führungskrisen. 2020 sorgte Erbin Verena Bahlsen für Aufsehen, als sie die Aufarbeitung der NS-Zeit des Unternehmens zunächst relativierte – mehr als 800 Zwangsarbeiter hatten für Bahlsen gearbeitet. Eine 2024 veröffentlichte Historikersstudie bestätigte: Das Unternehmen war »Profiteur des nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystems«.
Die Bahlsen-Teilung zeigt: Manchmal ist die Trennung die einzige Alternative zum völligen Zerfall. Aber sie ist auch das Eingeständnis, dass die Familie als Klammer versagt hat.
Haribo: Der kinderlose König und die Halbgeschwister
»Haribo macht Kinder froh« – aber nicht die Gründerfamilie. Die Geschichte des Bonner Gummibärchen-Imperiums ist eine Geschichte blockierter Nachfolge und familiärer Eiszeit.
Hans und Paul Riegel, Söhne des Firmengründers, übernahmen 1946 das Unternehmen und bauten es zum Weltmarktführer aus. Die Arbeitsteilung funktionierte jahrzehntelang perfekt: Hans, das Marketing-Genie und öffentliche Gesicht, Paul, der öffentlichkeitsscheue Tüftler, der unter anderem die Lakritzschnecken-Wickelmaschine erfand. Beide hielten je 50 Prozent.
Das Problem: Hans blieb kinderlos. Paul hatte vier Kinder aus zwei Ehen – und das Verhältnis zwischen den Halbgeschwistern galt als angespannt. Hans, der als »machtverliebt, stur und eigensinnig« beschrieben wurde, blockierte systematisch die Nachfolge. Als sein Neffe Hans-Jürgen, der die französische Niederlassung leitete, als Nachfolger aufgebaut werden sollte, kam es 2006 zum Bruch. Warren Buffett, einer der reichsten Männer der Welt, besuchte 2008 Bonn, um einen Einstieg bei Haribo zu sondieren. Der 85-jährige Hans Riegel erteilte ihm eine Absage.
Als Paul Riegel 2009 starb, brach der offene Konflikt aus. Erst ein Schiedsspruch der IHK Bonn erzwang eine neue Unternehmensstruktur. Hans Riegels 50-Prozent-Anteil ging nach seinem Tod 2013 an eine Stiftung – nicht an die Familie seines Bruders. Die Pointe: Paul hatte vorsorglich allen drei Söhnen als ersten Vornamen »Hans« gegeben, um den Namen der Firma zu erhalten. Die Ironie blieb dem kinderlosen Onkel nicht verborgen.
Heute führen Hans-Guido und Hans-Arndt Riegel das Unternehmen – aber die Stiftung kontrolliert die Hälfte. Der Konflikt ist institutionalisiert, nicht gelöst.
Oetker: Die Aufspaltung als Eingeständnis des Scheiterns
Oetker – einst Inbegriff westfälischer Solidität – wurde 2021 aufgespalten. Die acht Erben aus drei Ehen von Rudolf-August Oetker (Altersunterschiede von fast 40 Jahren) fanden keinen gemeinsamen Weg. Die älteren fünf Geschwister behielten Pizza, Pudding und Radeberger; die jüngeren drei erhielten Henkell Freixenet, Luxushotels und die Kunstsammlung.
2024 schied mit Julia Oetker bereits eine Gesellschafterin aus der abgespaltenen Gruppe aus. Das »Denken in Generationen« führte hier zur Fragmentierung des Imperiums.
Die klugen Verkäufer: Hella und Viessmann
Neben den Krisenunternehmen und den Zerstrittenen gibt es eine dritte Kategorie: Familien, die rechtzeitig den Exit planten – bevor die Transformation zuschlägt.
Hella/Hueck
Die Familie Hueck hielt seit 1923 die Mehrheit am Lichtspezialisten aus Lippstadt. 2021 verkaufte sie für rund vier Milliarden Euro an Faurecia. Die offizielle Begründung war ehrlich: Der Poolvertrag, der die Interessen der verzweigten Familie bündelte, wäre bald ausgelaufen. Der 72-jährige Familientreuhänder Jürgen Behrend sah keinen Nachfolger, der die divergierenden Interessen hätte koordinieren können.
»Wir nehmen als Familiengesellschafter unsere unternehmerische Verantwortung wahr, indem wir frühzeitig vor Auslaufen unseres Familienpoolvertrags das Unternehmen in neue Hände geben«, erklärte Behrend. Das klingt weniger nach dynastischem Denken als nach rationalem Exit-Timing.
Viessmann
Der spektakulärere Fall. Im April 2023, mitten im Wärmepumpen-Boom und kurz vor den Turbulenzen um das Gebäudeenergiegesetz, verkaufte Max Viessmann die Klimasparte – rund 85 Prozent des Konzernumsatzes – an den US-Konzern Carrier. Das Timing war bemerkenswert: Der Verkauf erfolgte am Höhepunkt des Hypes, bevor sich zeigte, dass der europäische Wärmepumpenmarkt langsamer wächst als prognostiziert.
Die Familie kassierte 12 Milliarden Euro – davon 9,6 Milliarden in bar – und wurde zu einem der größten Carrier-Aktionäre. »Bei der Mitarbeiterversammlung sind auch bei mir Tränen geflossen«, sagte Viessmann. Aber die Tränen trockneten schnell: Was blieb, war eine gut gefüllte Family-Office-Struktur für künftige Investments.
Eine Geschichte, die zum Mythos nicht passt
Diese Fälle erzählen eine Geschichte, die zum Mythos nicht ganz passt. Das »Denken in Generationen« bedeutete hier nicht, das Unternehmen für die Enkel zu bewahren, sondern: den optimalen Zeitpunkt für die Monetarisierung des Familienvermögens zu finden. Beide Familien handelten rational und im Eigeninteresse – was völlig legitim ist, aber eben nicht dem Image des selbstlosen Patriarchen entspricht.
Man könnte argumentieren, dass dies eine besonders weitsichtige Form unternehmerischen Denkens ist: Erkennen, wann die eigene Kapitalkraft für den globalen Wettbewerb nicht mehr ausreicht. »Letztlich zähle im globalen Wettbewerb irgendwann nur noch Größe und Stückzahl«, hieß es aus Viessmann-Kreisen. Das mag stimmen. Aber es ist auch das Gegenteil dessen, was Familienunternehmen angeblich auszeichnet: die Fähigkeit, gegen den Mainstream zu handeln und langfristige Wetten einzugehen – wie das Merck-Beispiel mit den Flüssigkristallen oder Pilkingtons zwölfjährige Entwicklung des Float Glass Process.
Was sich geändert hat: Strukturelle Beobachtungen
Erstens: Vom Unternehmer zum Rentier. Das gravierendste Problem liegt tiefer als Erbstreit und Koordinationsversagen. In der dritten und vierten Generation sind echte Unternehmerpersönlichkeiten im Schumpeter’schen Sinne zur Ausnahme geworden. Schumpeter definierte den Unternehmer als jemanden, der »neue Kombinationen durchsetzt« – der Risiken eingeht, gegen den Mainstream handelt, kreative Zerstörung betreibt. Was wir stattdessen sehen: Besitzstandswahrung, Prozessoptimierung, Margenpflege.
Die Erben verwalten Vermögen, sie schaffen es nicht. Sie sind Rentiers mit Familiennamen auf dem Briefkopf. Wenn sie überhaupt noch öffentlich in Erscheinung treten, dann als Lobbyisten – etwa in der Dauerkampagne gegen die Erbschaftssteuer – oder als Selbstdarsteller in Hochglanzmagazinen. Die »Stiftung Familienunternehmen« ist symptomatisch: eine professionelle Interessenvertretung, die den Mythos pflegt, während ihre Mitglieder längst nach denselben Regeln spielen wie alle anderen.
Man könnte einwenden, dass auch professionelles Management eine Leistung ist. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Familienunternehmen legitimieren sich durch die Erzählung vom besonderen unternehmerischen Geist, von der Bereitschaft zu langfristigen Wetten, vom Mut zur Gegenposition. In der Praxis sehen wir Kostensenkungsprogramme, Standortverlagerungen und Exit-Strategien – also exakt das, was man börsennotierten Konzernen vorwirft.
Das Gegenbeispiel Brenninkmeyer: Institutionelle Härte statt dynastischer Sentimentalität
Es gibt eine Familie, die das Rentier-Problem erkannt und institutionell gelöst hat – zumindest teilweise. Die Brenninkmeyers, Eigentümer von C&A und mit geschätzten 35 bis 38 Milliarden Euro eine der reichsten Dynastien Europas, haben ein System entwickelt, das der natürlichen Degeneration entgegenwirkt.
Das zentrale Steuerungsorgan trägt einen unscheinbaren Namen: der Sneeker Kring, benannt nach dem niederländischen Städtchen, wo 1841 der erste C&A-Laden entstand. Von den rund 500 Kernfamilienmitgliedern gehören nur 50 bis 60 diesem inneren Zirkel an. Die Aufnahmeregeln sind brutal: Abstammung allein genügt nicht. Anwärter müssen sich bewerben, ein mehrjähriges Trainingsprogramm absolvieren, sich im operativen Geschäft bewähren – und sich einkaufen. »Alle unsere Gesellschafter müssen eine Führungsrolle in einem unserer Unternehmen übernehmen«, erklärt Cofra-CEO Boudewijn Beerkens. Passive Dividendenempfänger gibt es nicht.
Noch radikaler: Mit 55 Jahren endet die aktive Zeit im operativen Geschäft, mit 63 müssen die Anteile an die nächste Generation verkauft werden. Was wie archaische Starre wirkt, ist das Gegenteil – eine erzwungene Verjüngung, die Verkrustungen verhindert. Die Brenninkmeyers haben verstanden, dass dynastische Kontinuität und unternehmerische Erneuerung nur durch institutionellen Zwang vereinbar sind.
Das Modell funktioniert – aber es ist kein Idyll. Die von der Familie selbst beauftragte Aufarbeitung der NS-Zeit durch den Wirtschaftshistoriker Mark Spoerer förderte Unbequemes zutage: Beteiligung an »Arisierungen«, Immobilienerwerb aus jüdischem Vorbesitz, Schutzgeldzahlungen an NS-Größen. »Niemand musste im Dritten Reich bei der Arisierung mitmachen«, konstatierte Spoerer. »Ganz offensichtlich war hier der Geschäftssinn stärker als die aus dem Katholizismus abgeleiteten sozialethischen Motive.« Die westfälische Bodenständigkeit, auf die sich die Familie bis heute beruft, schützte nicht vor moralischem Versagen, wenn es um Geschäftsinteressen ging.
Und auch das Brenninkmeyer-Modell stößt an Grenzen. C&A, das Stammgeschäft, kämpft mit strukturellen Problemen – Frequenzverlust in Innenstädten, verspätete Digitalisierung, Konkurrenz durch Fast Fashion. Im Sommer 2024 trat die externe CEO überraschend zurück; wieder übernahm ein Familienmitglied. Das eigentliche Wachstum findet längst anderswo statt: in der Immobiliensparte Redevco, im Private-Equity-Arm Bregal, im Asset Manager Anthos. Im April 2025 öffnete die Familie ihr Imperium erstmals für externe Investoren – ein historischer Schritt, aber auch das Eingeständnis, dass selbst 35 Milliarden Euro Familienvermögen für globale Ambitionen nicht mehr ausreichen.
Die Brenninkmeyers zeigen, was nötig wäre, um dem Fluch der dritten Generation zu entkommen: institutionelle Härte statt dynastischer Sentimentalität, erzwungene Aktivität statt passiver Teilhabe, systematische Erneuerung statt Besitzstandswahrung. Dass selbst dieses Modell nicht vor strategischen Fehlern und moralischen Kompromissen schützt, macht die Lektion nur deutlicher: Es gibt keine Governance-Struktur, die Unternehmertum garantiert. Schumpeter lässt sich nicht institutionalisieren.
Zweitens: Die Hybridisierung ist komplett. 2011 erwähnte ich noch als Besonderheit, dass bei Miele zwei einflussreiche Investmentbanker im Hintergrund agierten. Heute ist die Vermischung von Familienbesitz und Finanzlogik Normalität. Haniel investiert in Venture-Capital-Fonds, Familienholdings werden zu Family Offices, die Unterscheidung zu Private Equity verwischt.
Drittens: Der demografische Fluch. Mit jeder Generation wachsen die Anspruchsgruppen exponentiell. Acht Erben bei Oetker, 750 Gesellschafter bei Haniel, konkurrierende Stämme bei Oetker. Das »Denken in Generationen« produziert nicht nur strategische Kontinuität, sondern auch Interessendivergenzen, Koordinationsprobleme und Blockaden.
Viertens: Shareholder Value mit weniger, aber zerstrittenen Shareholdern. Meine Anmerkung von 2015, dass auch in Familienunternehmen der Shareholder Value regiert – nur mit weniger Shareholdern – war richtig, aber unvollständig. Das Problem ist nicht die geringe Zahl der Eigentümer, sondern deren Uneinigkeit über die Frage, was den Wert eigentlich steigert.
Fünftens: Der »Ersatzadel« entpuppt sich als ganz normaler Kapitalismus. Feindliche Übernahmen (Weidmüller/R. Stahl 2015), Erbstreitigkeiten, Aufspaltungen, Verkäufe – all das galt lange als Pathologie börsennotierter Konzerne. Die Familienunternehmen haben bewiesen, dass sie das genauso gut können.
Das Symptom eines größeren Problems
Die Krise der Familienunternehmen ist keine isolierte Erscheinung. Sie steht stellvertretend für die Auslaufphase, in der sich die deutsche Wirtschaft insgesamt befindet. Optimierung und Bestandswahrung – die beiden Kernkompetenzen, auf die sich deutsche Unternehmen seit Jahrzehnten verlassen – geraten an ihre endgültigen Grenzen.
Das deutsche Wirtschaftsmodell war im Kern immer ein Verfeinerungsmodell: Andere erfinden, wir perfektionieren. Das funktionierte bei Automobilen, bei Maschinen, bei Chemie. Es funktioniert nicht mehr, wenn die Basisinnovationen – Digitalisierung, Plattformökonomie, künstliche Intelligenz – eine andere Logik verlangen: nicht Optimierung des Bestehenden, sondern Zerstörung und Neuaufbau.
Die Familienunternehmen sind der Mikrokosmos dieser Makrokrise. Ihre Tugenden – Kontinuität, Vorsicht, schrittweise Verbesserung – erweisen sich als Fesseln, wenn es um radikale Transformation geht. Der vielgelobte »lange Atem« wird zum Euphemismus für Beharrungsvermögen. Die »Bodenständigkeit« zur Chiffre für fehlende Ambition. Die »Wertorientierung« zum Deckmantel für Risikoaversion.
Was wir bei Schaeffler, Haniel oder den Automobilzulieferern beobachten, lässt sich auf Branchenebene verallgemeinern: eine Wirtschaft, die exzellent darin ist, bestehende Produkte billiger, präziser und zuverlässiger herzustellen – und systematisch daran scheitert, neue Märkte zu schaffen. Die Hidden Champions, jene mittelständischen Weltmarktführer in Nischenmärkten, galten lange als Beweis deutscher Überlegenheit. Heute zeigt sich: Wer in Nischen exzelliert, hat oft verlernt, aus ihnen herauszuwachsen.
Die Familienunternehmen sind nicht die Ursache dieser Entwicklung, aber sie verkörpern sie exemplarisch. Sie sind der sichtbarste Ausdruck einer Wirtschaftskultur, die Erhaltung mit Gestaltung verwechselt hat.
Was geblieben ist
Mein Fazit von 2011 bleibt gültig: Aus den Beispielen lassen sich keine einfachen Regeln ableiten. Noch immer gibt es erfolgreiche Familienunternehmen mit bewundernswerter Langlebigkeit. Und noch immer gilt das Zinkann-Zitat, das ich damals an den Schluss stellte:
Familienunternehmen haben einen ganz großen Vorteil und einen ganz großen Nachteil – nämlich die Familie. Eine Familie in Frieden ist das Beste, was es für ein Unternehmen geben kann, eine Familie in Unfrieden dagegen das Schlimmste.
Was sich geändert hat, ist die öffentliche Wahrnehmung. Die romantische Verklärung der Familienunternehmen als Gegenwelt zum »bösen« Finanzkapitalismus ist nicht mehr haltbar. Die Wirtschaftspresse hat ihre Lektion gelernt – oder zumindest begonnen, kritischere Fragen zu stellen.
Geblieben ist allerdings die politische Instrumentalisierung. Familienunternehmen dienen nach wie vor als rhetorische Projektionsfläche für alles, was der »gute« Kapitalismus sein soll: langfristig, verantwortungsvoll, bodenständig. Die Realität ist komplizierter. Manchmal sind sie all das. Manchmal sind sie das Gegenteil. Wie andere Unternehmen auch.
Insofern ist, wie so oft, eine gesunde Skepsis angebracht, wenn uns das nächste Mal wieder Geschichten aus der Welt des »Ersatzadels« serviert werden.
Dezember 2025
Quellen:
Oetker
Handelsblatt: Berichte zur Oetker-Aufspaltung 2021
Manager Magazin: Julia Oetker scheidet aus G3-Gruppe aus, September 2024
Haniel
Handelsblatt: CEO Thomas Schmidt verlässt Haniel nach Differenzen, 2023
Unternehmensberichte Haniel 2024: Konzernergebnis und Dividendenausschüttung
FAZ: Berichte zur neuen »Growth Capital Portfolio«-Strategie
Schaeffler
Schaeffler Geschäftsbericht 2024: Verlust 632 Mio. Euro, Stellenabbau 4.700
Handelsblatt: Restrukturierungskosten und Margenentwicklung, 2024
Sal. Oppenheim
Tagesspiegel: »380 Millionen Euro zum Wohle der Bank«, 11. August 2022
Legal Tribune Online: »Sal. Oppenheim: Nur ein Ex-Banker muss ins Gefängnis«, 9. Juli 2015
WEB.DE / Wirtschaftswoche: »BGH bestätigt Urteil gegen frühere Banker«, 14. März 2018
Wikipedia: Sal. Oppenheim – Unternehmensgeschichte und Strafverfahren
Handelsblatt: »Der Totengräber von Sal. Oppenheim« (Matthias Graf von Krockow), 14. März 2018
Merckle
taz: »In Finanznot geratener Milliardär: Adolf Merckle begeht Selbstmord«, 6. Januar 2009
Pharmazeutische Zeitung: »Merckle hat Selbstmord begangen«, Januar 2009
Tagesspiegel: »Adolf Merckle verzockt eine Milliarde mit VW-Aktien«, 17. November 2008
Tagesspiegel: »Merckle – Tod eines Patriarchen«, 6. Januar 2009
Wikipedia: Adolf Merckle – Biografie und Unternehmensgeschichte
Abendzeitung München: »Dass er so verzweifelt war, ist unfassbar«, Januar 2009
Moneycab: »Merckle-Gruppe gerettet – Pharmahersteller ratiopharm wird verkauft«, 2009
Bahlsen
Wikipedia: Bahlsen – Unternehmensgeschichte und Aufspaltung 1999
Wikipedia: The Lorenz Bahlsen Snack-World
Handelsblatt: »Moritz Bahlsen folgt bei Lorenz Snack-World seinem Vater«, 4. Dezember 2019
Horizont: »Bahlsen-Snacks heißen jetzt Lorenz«, 2006
Lebensmittelpraxis: »Lorenz Bahlsen mit 75 Jahren verstorben«, 6. November 2023
The Bahlsen Family: Unternehmenshistorie und NS-Aufarbeitung
Hartmut Berghoff, Manfred Grieger: Die Geschichte des Hauses Bahlsen. Keks – Krieg – Konsum 1911–1974, Wallstein-Verlag 2024
Haribo
Wikipedia: Haribo, Hans Riegel junior, Paul Riegel
Nachfolge in Deutschland: »Nachfolge-Stories: Familienstreit bei Haribo«, 25. April 2022
Wirtschaftswoche: »Haribo bindet Öffentlichkeit einen Bären auf«, 7. September 2010
Handelsblatt: »Haribo-Chef verteidigt umstrittene Werksschließung in Sachsen«, 9. Dezember 2020
Haus der Geschichte / LeMO: Biografie Hans Riegel
Dr. Hans Riegel-Stiftung: Der Stifter – Lebenswerk Hans Riegel
Viessmann
Handelsblatt: Verkauf Klimasparte an Carrier für 12 Mrd. Euro, April 2023
Manager Magazin: Analyse des Verkaufstimings vor GEG-Turbulenzen
FAZ: »Bei der Mitarbeiterversammlung sind auch bei mir Tränen geflossen« (Max Viessmann)
Hella/Hueck
Handelsblatt: Verkauf an Faurecia für 4 Mrd. Euro, 2021
FAZ: Jürgen Behrend zur Begründung des Verkaufs und Poolvertrag
Brenninkmeyer
Westfalenlob/Bankstil: »Die Brenninkmeyers: Wenn sich Europas verschwiegenste Dynastie öffnet«, 2025
Bloomberg: »C&A-Owning Brenninkmeijer Family Opens $38 Billion Empire to Outsiders«, 10. April 2025
Crain Currency: »Secretive Brenninkmeijer family behind C&A opens $39 billion retail empire«, 11. April 2025
NZZ: »C&A brought the family billions. A green investment push is next«, Dezember 2023
Textilwirtschaft: »Familie Brenninkmeijer steht zu ihrer Mode-Kette C&A«, 29. Oktober 2024
Business Insider Deutschland: »Inhaberfamilie übernimmt C&A: So tickt die geheimnisvolle Dynastie«, Juli 2024
Mark Spoerer: C&A: Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911–1961, C.H. Beck Verlag 2016
Bettina Weiguny: Die geheimnisvollen Herren von C&A: Der Aufstieg der Brenninkmeyers, Eichborn/Piper 2005/2007
Allgemeine Quellen zu Familienunternehmen
Stiftung Familienunternehmen: Diverse Publikationen
Manager Magazin: Berichterstattung zu Familienunternehmen
Handelsblatt Mittelstand/Familienunternehmer: Laufende Berichterstattung

