Es ist Mode geworden, den Kapitalismus für nahezu alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Nicht, dass er nicht eine gehörige „Mitschuld“ an den bestehenden Verhältnissen hätte – nur ihn zum allein Schuldigen zu machen, führt dann doch zu weit und wird seiner Funktion nicht gerecht.
Was immer man auch am Kapitalismus kritisieren mag, ohne ihn hätten wir die Feudalgesellschaft wohl nie überwunden. Selbst Erich Fromm räumte in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit ein:
Kurz, der Kapitalismus hat den Menschen nicht nur von seinen traditionellen Fesseln befreit, er hat auch in einem enormen Maß zur Vergrößerung der positiven Freiheit und zur Entwicklung eines tätigen, kritischen und verantwortungsbewussten Selbst beigetragen.
Einschränkend fügte er jedoch hinzu:
Dies war jedoch nur die eine Wirkung, die der Kapitalismus auf den Prozess der zunehmenden Freiheit ausübte; gleichzeitig trug er zur wachsenden Vereinsamung und Isolierung des einzelnen bei und erfüllt ihn mit dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht.
Kritik am Kapitalismus, aus dessen Stahlhartem Gehäuse (Max Weber) kein Entkommen ist, kam in den letzten Jahrzehnten vor allem von seiten der Kritischen Theorie um Horkheimer/Adorno, aber auch von Psychologen wie Klaus Holzkamp.
Herbert Marcuse sprach von repressiver Toleranz und dem Eindimensionalen Menschen. Letzteres Werk leidet allerdings selber an einer ausgeprägt eindimensionalen Argumentation.
Die nach meinem Dafürhalten gelungenste Kapitalismuskritik der vergangenen Jahre ist Zivilisiert den Kapitalismus von Marion Gräfin Dönhoff.
Aktuell ist eine lebhafte Debatte um die Kritik des Papstes an bestimmten Auswüchsen des Kapitalismus entbrannt, in deren Zentrum wohl der Herausgeber der ZEIT und in gewisser Weise Nachfolger der Gräfin Dönhoff, Josef Joffe steht.
Es ist das gute Recht des Papstes in einer Offenen Gesellschaft, den Kapitalismus, bzw. bestimmte Formen davon zu kritisieren. Während die Kritik an der Kirche im Feuilleton meistens mit Applaus bedacht wird, scheint im umgekehrten Fall, wenn die Kirche Kritik an der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung übt, für einige Journalisten der Tatbestand der Häresie erfüllt zu sein.
Wie auch immer. Die Ambivalenz des Kapitalismus m.E. am besten ausgedrückt hat der französische Historiker Fernand Braudel in seinem ausgesprochen lesenswerten Buch Die Dynamik des Kapitalismus. Darin zog er eine deutliche Trennlinie zwischen der Marktwirtschaft und dem Kapitalismus. Er schreibt (Hinweis: Das Buch erschien 1985):
Jenen, die im Westen die negativen Folgen des Kapitalismus brandmarken, antworten die Politiker und Ökonomen, dass es sich nur um das kleinere Übel handle, um die notwendige Kehrseite des freien Unternehmertums und der Marktwirtschaft. Das glaube ich keineswegs. Und jenen, die sich, einer Bewegung entsprechend, die sogar in der Sowjetunion spürbar ist, über die Langsamkeit der sozialistischen Wirtschaft beklagen und ihr etwas mehr „Spontanität“ einräumen möchten, wird zur Antwort gegeben, dass dies das kleinere Übel sei, die notwendige Kehrseite für die Beseitigung der kapitalistischen Plage. Auch daran glaube ich nicht. Aber ist die Gesellschaft, die ich für erstrebenswert halte, überhaupt möglich? Jedenfalls vermute ich, dass sich auf dieser Welt nicht sehr viele Anhänger hat.
Ganz gleich, wie man zu der Aussage stehen mag: Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte, wie der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach einmal gesagt hat. Es würde der Menschheit ein schlechtes Zeugnis ausstellen, wenn ihr nicht noch Besseres einfallen würde. Künftige Generationen werden nach neuen Antworten, jenseits von Sozialismus und Kapitalismus, suchen und sie auch finden. Ob die dann so viel besser sind, ist damit freilich nicht gesagt.