Michael Porters Theorie der nationalen Wettbewerbsvorteile galt jahrzehntelang als Blaupause für wirtschaftlichen Erfolg. Deutschland schien sie lehrbuchmäßig umgesetzt zu haben. Doch die Plattformökonomie hat die Spielregeln verändert – und die deutsche Wirtschaft auf eine Theorie optimiert, deren Geltungsbereich sich verschoben hat.
Wenn man Michael Porters „Wettbewerb der Nationen“ heute liest, drei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, beschleicht einen ein eigentümliches Gefühl. Die Analyse ist brillant, die Kategorien sind klar, die Beispiele sind einleuchtend – und dennoch wirkt das Ganze wie die Beschreibung einer Welt, die es so nicht mehr gibt. Deutschland kommt in dem Buch als Musterbeispiel vor: Ein Land, das seine Produktivität jahrzehntelang steigerte, indem es immer spezialisiertere Produkte herstellte und das Automatisierungsniveau kontinuierlich anhob. Porter meinte das als Lob. Heute liest es sich wie eine Pathologie.
Die zentrale These ist schnell rekapituliert: Wettbewerbsfähigkeit bedeutet Produktivität, nicht billige Arbeitskräfte oder günstige Wechselkurse. Unternehmen müssen sich qualitativ verbessern, Produktqualität erhöhen, wünschenswerte Eigenschaften hinzufügen, wirtschaftlicher produzieren. Das klingt plausibel und ist es auch – für eine Welt, in der Wertschöpfung primär physisch stattfindet. Porter denkt in Fabriken, Zulieferern, Fachkräften, Forschungseinrichtungen. Sein berühmter Diamant beschreibt das Wechselspiel dieser Faktoren an einem geografischen Ort.
Deutschland hat dieses Modell nicht nur verstanden, sondern perfektioniert. Duales Ausbildungssystem, Fraunhofer-Institute, Mittelstands-Cluster, enge Zuliefererbeziehungen, regionale Spezialisierung – der deutsche Industriestandort ist die Verkörperung des Porter’schen Diamanten. Die Automobilindustrie, der Maschinenbau, die Chemie, die Elektrotechnik: lauter funktionierende Cluster mit allen Ingredienzen, die Porter für notwendig hält. Anspruchsvolle heimische Nachfrage, spezialisierte Zulieferer, erstklassige Forschungseinrichtungen, intensive Konkurrenz auf dem Binnenmarkt.
Warum also die Krise?
Die unbequeme Antwort lautet: Porter hat nicht unrecht, aber sein Modell hat einen begrenzten Geltungsbereich. Es beschreibt industrielle Wettbewerbsfähigkeit unter Bedingungen, die sich fundamental gewandelt haben. Die Cluster-Theorie leidet an mehreren systematischen Blinden Flecken, die in den letzten zwei Jahrzehnten immer sichtbarer geworden sind.
Der erste betrifft die Ortsgebundenheit der Wertschöpfung. Porter denkt in räumlicher Nähe – der Vorteil einheimischer Zulieferer liegt für ihn in der „laufenden Koordinierung“, in „engen Arbeitsbeziehungen“, im schnellen Zugang zu „Informationen, neuen Ideen und Einsichten“. Das stimmt für physische Produktion. Plattformökonomie funktioniert anders. Amazon, Google, Microsoft bilden keine Cluster im Porter’schen Sinne, sondern Ökosysteme, deren Teilnehmer global verstreut sind. Die engen Arbeitsbeziehungen laufen über APIs, nicht über räumliche Nähe. Der heimische Stützpunkt verliert an Bedeutung, wenn der relevante Produktionsfaktor – Software, Daten, Algorithmen – ortsungebunden ist.
Der zweite blinde Fleck betrifft eben diesen Produktionsfaktor. Porter unterscheidet Basis- und fortgeschrittene Faktoren, denkt aber in Kategorien wie Fachkräfte, Infrastruktur, Wissensressourcen, Kapitalressourcen. Der entscheidende Produktionsfaktor der digitalen Öko…
