Als „Gottvater“ regierte Hans-Lutz Merkle jahrzehntelang über den Bosch-Konzern – mit patriarchalischer Härte, elitärem Selbstverständnis und einer Macht, die selbst nach seinem formalen Rückzug unangetastet blieb. Sein Führungsstil steht exemplarisch für eine autoritäre Unternehmenskultur, die Innovation lähmte und Menschen zu Funktionsträgern degradierte. Eine Analyse über falsche Götter, symbolische Macht und die Grenzen hierarchischer Konzernherrschaft.
„Nichts geht ohne ihn“ – so titelte das Manager Magazin im März 1983 über Hans-Lutz Merkle. Der langjährige Chef des Bosch-Konzerns hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst als unangefochtener Herrscher über ein Wirtschaftsimperium etabliert, dessen Macht weit über formale Positionen hinausreichte. Merkle war mehr als ein Vorstandsvorsitzender. Er war, wie man ihn respektvoll und zugleich mit scheuer Furcht nannte, der „Gottvater“ – eine Bezeichnung, die mehr verrät über die Problematik deutscher Unternehmensführung, als den Beteiligten womöglich bewusst war.
Die Inszenierung als gottgleiche Autorität ist kein Zufall, sondern Programm. Sie offenbart ein Führungsverständnis, das auf absoluter Kontrolle, hierarchischer Strenge und der Unterwerfung anderer basiert. Merkle führte Bosch wie einen konservativen Familienbetrieb – patriarchalisch, autoritär, mit einem hohen geistigen Anspruch, der sich jedoch in einer rückwärtsgewandten Weltanschauung verfing. Pünktlichkeit, Loyalität, Konformität und Absicherung waren die Kardinaltugenden dieses Systems. Wer aufbegehrte oder auch nur anders dachte, hatte in dieser Ordnung keinen Platz.
Die symbolische Macht der Hierarchie
Pierre Bourdieu hätte in Merkle ein Lehrstück für seine Theorie der symbolischen Macht erkannt. Der französische Soziologe zeigte, wie Herrschaft nicht nur durch direkte Gewalt, sondern subtiler durch kulturelle Praktiken, Habitus und die Reproduktion sozialer Felder ausgeübt wird. Merkle schuf bei Bosch eine „Spielwelt“, in der seine Position als unangefochtener Herrscher durch ein dichtes Netz aus Ritualen, Codes und Loyalitätsbekundungen abgesichert wurde. Jahrzehnte nach Abgabe formaler Führungsämter kontrollierte er weiterhin die wesentlichen Entscheidungen – ein Beweis dafür, dass wahre Macht nicht in Titeln, sondern in der Kontrolle über das soziale Feld liegt.
Diese Patronagestruktur funktionierte nach den Regeln einer elitären Geisteshaltung, die soziale Rangordnungen als naturgegebene Wahrheit betrachtete. Die Welt war für Merkle streng gegliedert: oben die Wissenden, die Führenden, die Entscheider – unten die Ausführenden, die Gehorsamen, die Funktionsträger. Demokratische oder egalitäre Ansätze hatten in diesem Weltbild keinen Raum. Was blieb, war eine Unternehmenskultur der Abschottung, des Formalismus und des Wertkonservatismus, die Innovation und unternehmerischen Mut systematisch erstickten.
Die wirtschaftspsychologische Dimension: Angst als Führungsinstrument
Aus wirtschaftspsychologischer Perspektive verkörpert Merkles Führungsstil den klassischen autoritären Typus, der auf Kontrolle, Disziplin und bedingungsloser Loyalität besteht. Solche Führung erzeugt Angst – Angst vor Fehlern, vor Abweichung, vor dem Verlust der Position. Sie hält Mitarbeitende funktional und konform, aber sie tötet Kreativität. Menschen werden zu Rädern im Getriebe, deren Aufgabe es ist, zu funktionieren, nicht mitzudenken.
Die Fixierung auf Hierarchie und Macht reproduziert eine Arbeitsumgebung, in der Partizipation zur Illusion wird. Wer im System von Merkle überleben wollte, musste sich anpassen, ducken, die Spielregeln akzeptieren. Diese Kultur der Unterwerfung mag kurzfristig Stabilität schaffen, langfristig aber führt sie zu geistiger Verkümmerung und struktureller Innovationsunfähigkeit – ein Symptom, das viele deutsche Großkonzerne bis heute plagt.
Historische Kontinuitäten: Von der NS-Kriegswirtschaft zum Nachkriegsmanagement
Die Wurzeln von Merkles Führungsverständnis reichen tiefer, als es die Nachkriegserzählung vom demokratischen Wirtschaftswunder wahrhaben möchte. Von 1942 bis 1945 war Merkle Hauptgeschäftsführer der „Reichsvereinigung Textilveredelung“, einer Organisation der NS-Kriegswirtschaft. Diese biografische Station ist mehr als eine Fußnote – sie verweist auf personelle und kulturelle Kontinuitäten, die die deutsche Wirtschaft weit über 1945 hinaus prägten.
Stefan Kühl hat in seiner Studie „Führung und Gefolgschaft“ die Persistenz von NS-Managementprinzipien in der Nachkriegszeit systematisch untersucht. Seine Analyse zeigt, wie Führungskonzepte wie das Führerprinzip, Gefolgschaftsdenken und streng hierarchische Organisationsformen ohne grundlegende Reflexion in die bundesrepublikanische Unternehmenskultur übernommen wurden. Die Sprache änderte sich, die Strukturen blieben – aus „Führern“ wurden „Manager“, aus „Gefolgschaft“ wurde „Belegschaft“, doch die autoritären Grundmuster blieben erstaunlich stabil.
Merkles Führungsstil bei Bosch weist genau jene Merkmale auf, die Kühl als charakteristisch für diese Kontinuitätslinie identifiziert: die Betonung von Loyalität als zentraler Tugend, die Fixierung auf strikte Hierarchien, die Vorstellung einer natürlichen Ordnung von Führenden und Geführten, und ein Stabilitätsdenken, das Wandel primär als Bedrohung begreift. Seine Karriere verbindet dabei zwei Phasen deutscher Wirtschaftsgeschichte, die man gerne als Bruch verstehen möchte, die aber durch solche Biografien und Mentalitäten miteinander verwoben bleiben.
Diese historische Dimension erklärt auch, warum Merkles System so resistent gegen Veränderung war. Es handelte sich nicht nur um persönliche Präferenzen, sondern um tief verankerte Organisationsmuster, die ihre Legitimität aus einer Tradition bezogen, die nie wirklich aufgearbeitet wurde. Der strategische Weitblick, den man Merkle zusprach, verband sich so mit einer auf Traditionen und bestehende Strukturen fixierten Unternehmenskultur. Veränderungen wurden behutsam umgesetzt, Stabilität und Kontinuität hatten stets Vorrang vor Innovation und Disruption.
Die lange und prägende Wirkung Merkles bei Bosch zeigt exemplarisch, wie diese Führungskultur Jahrzehnte nach Kriegsende wirksam blieb und wie schwer es deutschen Großkonzernen fiel, sich von diesen autoritären Mustern zu lösen. Es ist die Geschichte einer unvollendeten Transformation, in der personelle Kontinuitäten zu kulturellen Kontinuitäten führten – mit Folgen, die bis in die Gegenwart reichen.
Falsche Götter und die Sehnsucht nach Macht
Der Psychologe Arno Gruen würde in Merkle das Muster des „falschen Gottes“ erkennen – jene destruktive Führungspersönlichkeit, die ihre übersteigerte Sehnsucht nach Macht mit Autorität verwechselt und dabei personale Entfremdung fördert. Der „Gottvater“ ist kein Vorbild, sondern ein Scheinobjekt, das das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle maskiert, aber psychologisch und sozial destruktiv wirkt.
Merkles Inszenierung als gottgleiche Figur war weniger Ausdruck persönlicher Megalomanie als vielmehr systemische Konsequenz eines tief verankerten autoritären Führungsverständnisses. Sie legitimierte ein toxisches Machtverständnis, das Widerspruch als Rebellion und Eigenständigkeit als Bedrohung deutete. Die Bezeichnung „Gottvater“ ist deshalb keine harmlose Metapher, sondern Ausdruck einer Wahrnehmung, die das Unternehmen zum patriarchalischen Herrschaftsbereich und die Mitarbeitenden zu untergeordneten Funktionsträgern machte.
Das Erbe: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Merkles Einfluss reichte weit über Bosch hinaus – in Aufsichtsräte, Unternehmenskreise, in die politische Sphäre. Merkle galt als Vordenker mit strategischem Weitblick. Doch was half dieser Weitblick, wenn die Kultur, die er schuf, auf die Vergangenheit fixiert blieb? Was nützte geistiger Anspruch, wenn er in reaktionärem Hierarchiedenken erstarrte? Die Ambivalenz seiner Figur liegt darin, dass er Respekt einforderte, aber Skepsis verdiente – Respekt vor der Macht, Skepsis vor der Methode.
Fazit: Symptom einer Epoche
Hans-Lutz Merkle war kein Einzelfall. Er steht exemplarisch für eine Generation von Führungspersönlichkeiten, die deutsche Großkonzerne in der Nachkriegszeit prägten und deren autoritäre Machtkulturen bis heute nachwirken. Sein Führungsstil offenbart die Problematik einer Wirtschaftsordnung, die Hierarchie über Partizipation, Kontrolle über Kreativität, Konformität über Mut stellte.
Die falsche Gottheit ist längst entthront. Doch ihr Erbe wirkt fort – in starren Strukturen, in innovationsfeindlichen Kulturen, in einer Angst vor Veränderung, die tief in den deutschen Konzernseelen sitzt. Merkles Geschichte ist deshalb nicht nur die eines Mannes, sondern die einer Ära, die endlich überwunden werden muss, wenn deutsche Unternehmen in einer pluralen, dynamischen Welt bestehen wollen.
Quellen:
F 1. Kein anderer deutscher Manager wird so gefürchtet und geachtet wie Bosch-Chef Hans L. Merkle.
NEUE ARBEITSWELTEN, ALTE FÜHRUNGSSTILE?
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Verratene Liebe – Falsche Götter

