Hans-Lutz Merkle prägte den Bosch-Konzern über Jahrzehnte in führenden Positionen. Das Manager Magazin titelte im März 1983: „Nichts geht ohne ihn“ – und beschrieb damit einen Einfluss, der über formale Positionen hinausreichte. Merkle wurde im Unternehmensumfeld gelegentlich als „Gottvater“ bezeichnet, eine Formulierung, die Fragen nach Führungskultur und Machtstrukturen in deutschen Großkonzernen der Nachkriegszeit aufwirft.


Führungsstil und Unternehmenskultur

Nach übereinstimmenden zeitgenössischen Berichten führte Merkle Bosch mit einem stark hierarchischen Ansatz. Pünktlichkeit, Loyalität und Konformität galten als zentrale Unternehmenswerte. Die Organisationsstruktur war von klaren Hierarchien geprägt – ein Muster, das für viele deutsche Großkonzerne dieser Ära charakteristisch war.

Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Hierarchie

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu entwickelte das Konzept der symbolischen Macht, um zu erklären, wie Herrschaft nicht nur durch formale Autorität, sondern durch kulturelle Praktiken, rituelle Handlungen und die Kontrolle sozialer Felder ausgeübt wird. Betrachtet man Merkles lange währenden Einfluss bei Bosch auch nach Abgabe formaler Führungsämter, lässt sich dies als Beispiel für die Wirksamkeit informeller Machtstrukturen in Organisationen interpretieren.

Wenn er durch die Tür tritt – immer allein – , herrscht gespannte Aufmerksamkeit, alle Augen sind auf den Herrn gerichtet, der bolzengerade, mit etwas steifen Bewegungen und unbewegter Miene in den Raum tritt. Von den graumelierten Haarspitzen über die sorgsam ausgewählte, zu Hemd und Anzug passende Krawatte bis zu den auf Hochglanz polierten Budapester Schuhen stimmt alles: In all den Jahren hat Merkle nicht einen Auftritt verpatzt. Der Chef ist er, unnahbar, hoheitsvoll, makellos.[1]in: Im Zentrum der Macht. Manager Magazin 3/1983

Hierarchische Führungssysteme, wie sie in der deutschen Wirtschaft der Nachkriegszeit verbreitet waren, zeichneten sich häufig durch ausgeprägte Rangordnungen und zentralisierte Entscheidungsprozesse aus. Sozialwissenschaftliche Forschung zeigt, dass solche Strukturen zwar Stabilität schaffen können, gleichzeitig aber Risiken für Innovation und Partizipation bergen.

Führungspsychologische Betrachtung

Aus wirtschaftspsychologischer Sicht lassen sich verschiedene Führungsstile unterscheiden. Autoritäre Führungsansätze, die auf Kontrolle, Disziplin und hierarchischer Ordnung basieren, können unterschiedliche Effekte auf Organisationen haben. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass stark hierarchische Systeme zwar kurzfristig Effizienz fördern können, langfristig jedoch Kreativität und eigenständiges Denken erschweren können.

Manche der Beteiligten nennen Merkles Führungsstil >>Management by Fear<<, eine Bezeichnung, für die der Patriarch wenig Verständnis hat. Dennoch: Bei Bosch steht die Führung ständig in der Furcht des Herrn, der intern respektvoll-ironisch Gottvater genannt wird.[2]ebd.

Führungskulturen, die primär auf Konformität setzen, stehen in einem Spannungsverhältnis zu Ansätzen, die Partizipation und Eigeninitiative fördern. Diese Frage beschäftigt die Organisationsforschung seit Jahrzehnten und bleibt aktuell.

Historischer Kontext: Kontinuitäten in der Nachkriegswirtschaft

Hans-Lutz Merkle war von 1942 bis 1945 Hauptgeschäftsführer der „Reichsvereinigung Textilveredelung“, einer Organisation der NS-Kriegswirtschaft. Diese biografische Station ist dokumentiert und wirft die Frage nach personellen Kontinuitäten zwischen NS-Wirtschaft und Nachkriegsmanagement auf.

Der Organisationssoziologe Stefan Kühl hat in seiner Studie „Führung und Gefolgschaft“ (erschienen 2023) die Persistenz bestimmter Managementprinzipien über die historische Zäsur von 1945 hinaus untersucht. Seine Forschung zeigt, dass Führungskonzepte wie das Führerprinzip, Gefolgschaftsdenken und streng hierarchische Organisationsformen in modifizierter Form in die bundesrepublikanische Unternehmenskultur übernommen wurden. Die Terminologie änderte sich – aus „Führern“ wurden „Manager“, aus „Gefolgschaft“ wurde „Belegschaft“ –, doch Kühl identifiziert strukturelle Ähnlichkeiten in den Organisationsprinzipien.

Merkles Führungsansatz bei Bosch weist Merkmale auf, die Kühl als charakteristisch für diese Kontinuitätslinie beschreibt: Betonung von Loyalität, ausgeprägte Hierarchien, Vorstellungen natürlicher Ordnungen zwischen Führenden und Geführten sowie ein Stabilitätsdenken, das Wandel mit Vorsicht begegnet.

Diese historische Dimension ist relevant für das Verständnis deutscher Unternehmenskulturen der Nachkriegszeit. Die Frage, inwieweit personelle Kontinuitäten zu kulturellen Kontinuitäten führten und wie systematisch diese aufgearbeitet wurden, beschäftigt die Wirtschaftsgeschichtsforschung bis heute.

Macht und Autorität: Psychologische Deutungsmuster

Die Bezeichnung „Gottvater“ für Merkle, die zeitgenössisch verwendet wurde, lässt sich als Ausdruck einer Unternehmenskultur lesen, in der eine einzelne Person als zentrale, quasi unersetzbare Autorität wahrgenommen wurde. Solche Personalisierungen von Macht sind ein wiederkehrendes Phänomen in hierarchisch strukturierten Organisationen.

Kritische Würdigung: Anspruch und Wirkung

Merkle galt in Wirtschaftskreisen als Vordenker mit strategischem Weitblick. Sein Einfluss reichte über Bosch hinaus in Aufsichtsräte und Unternehmensverbände. Gleichzeitig wird seine Ära bei Bosch von Beobachtern unterschiedlich bewertet: Während manche die Stabilität und Kontinuität hervorheben, kritisieren andere eine Organisationskultur, die wenig Raum für Veränderung und Innovation gelassen habe.

Die Ambivalenz seiner Führung liegt im Spannungsfeld zwischen dem Anspruch strategischer Weitsicht und einer stark auf Traditionen und bestehende Strukturen fixierten Unternehmenskultur. Wie diese Balance zu bewerten ist, bleibt eine offene Frage der Unternehmensgeschichtsschreibung.

Fazit: Symptom einer Ära

Hans-Lutz Merkle steht exemplarisch für eine Generation von Führungspersönlichkeiten, die deutsche Großkonzerne in der Nachkriegszeit prägten. Sein Führungsstil wirft grundsätzliche Fragen auf über das Verhältnis von Hierarchie und Partizipation, von Kontrolle und Kreativität, von Kontinuität und Innovation in Unternehmensorganisationen.

Die Strukturen und Kulturen, die in dieser Ära entstanden, wirken teilweise bis heute fort – in Organisationsmustern, Entscheidungsprozessen und Unternehmenskulturen deutscher Konzerne. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen historischen Führungsmodellen ist notwendig, um zu verstehen, vor welchen Herausforderungen deutsche Unternehmen in einer sich wandelnden Wirtschaftswelt stehen.

Die Geschichte Merkles ist nicht nur die eines einzelnen Managers, sondern verweist auf grundsätzliche Fragen deutscher Unternehmensführung: Wie werden Macht und Autorität legitimiert? Welche Rolle spielen personelle und kulturelle Kontinuitäten? Und wie gelingt der Wandel von hierarchischen zu partizipativen Organisationsformen? Diese Fragen bleiben aktuell.


Quellen:

F 1. Kein anderer deutscher Manager wird so gefürchtet und geachtet wie Bosch-Chef Hans L. Merkle.

NEUE ARBEITSWELTEN, ALTE FÜHRUNGSSTILE?

Der langjährige Bosch-Chef wäre 100 geworden. Nur wenig erinnert an den „Diener des Hauses Bosch“

Die Geburt des Managements aus dem NS-Geist

Hans L. Merkle. Ancien régime

Wikipedia

References

References
1 in: Im Zentrum der Macht. Manager Magazin 3/1983
2 ebd.