Im Jahr 2008 veröffentlichte der BDI in Zusammenarbeit mit dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und Roland Berger die Studie Systemkopf Deutschland Plus. Die Zukunft der Wertschöpfung am Standort Deutschland.

Darin stellten die Autoren folgende Hypothese auf:

Die deutsche Wirtschaft konzentriert sich im Inland auf wesentliche dispositive und hochwertige – und damit humankapital- und wertschöpfungsintensive – Unternehmensfunktionen – zum Beispiel Forschung und Entwick- lung, Design, Marketing, Fertigungsplanung und Vertriebssteuerung. Diese Unternehmensfunktionen nennen wir »Systemkopffunktionen«, was auf den Charakter als steuernde Funktionen bzw. Kernfunktionen hinweisen soll. Der Titel der Studie »Systemkopf Deutschland Plus« soll darauf aufmerksam machen, dass Deutschland als Volkswirtschaft einen Status als Systemkopf innerhalb der Weltwirtschaft einnimmt, wenn die Unternehmen dem Spezialisierungsmuster der Konzentration auf Systemkopffunktionen im Inland folgen.

Die deutsche Wirtschaft soll auf den zunehmenden Trend zur Zerlegung der Wertschöpfungsketten, d.h. die Verlagerung der Produktion und Dienstleistungen in kostengünstigere Standorte, mit einer Vertiefung der Wertschöpfungsaktivitäten reagieren.

In diesem intraindustriellen Wettbewerb geht es vor allem um die Fähigkeit zur Differenzierung und die Erzielung dynamischer Vorteile. Um eine solche Differenzierungsstrategie zu verfolgen, müssen Unternehmen besonders auf humankapitalintensive und wertschöpfungsintensive Funktionen setzen. Begünstigt wird sie daher durch eine große Innovationskraft, gut ausgebildete Mitarbeiter mit hoher Kreativität, das Know-how zur Beherrschung hochkomplexer Systeme und die Fähigkeit, Kundenbedürfnisse zu erkennen und schnell und flexibel auf deren Änderungen zu reagieren. Grundidee dabei ist, dass Produktdifferenzierungen den Unternehmen Preissetzungsspielräume eröffnen.

Systemkopfunternehmen zeichnen sich laut der Studie durch folgende charakteristische Eigenschaften aus:

  1. Systemkopfunternehmen sind erfolgreicher als andere Unternehmen.
  2. Systemkopfunternehmen sind stärker internationalisiert.
  3. Aufgrund ihrer Spezialisierungsmuster sind System- köpfe stärker auf die Zusammenarbeit in Netzwerken angewiesen.
  4. Systemköpfe sind besonders innovationsintensiv.

Hier begegnet uns eine Denkhaltung, die sich an den sog. Erfolgsfaktoren orientiert. Erfolgreiche Unternehmen unterscheiden sich demzufolge von den weniger erfolgreichen durch bestimmte Merkmale, Erfolgsfaktoren. Jetzt die Erfolgsfaktorenforschung ebenso wie die jüngere Geschichte zu genüge gezeigt, dass es so etwas wie die ultimativen Erfolgsfaktoren nicht gibt[1]Trotz eklatanter Erfolglosigkeit: Die Erfolgsfaktorenforschung weiter auf Erfolgskurs. Populär wurde diese Sichtweise durch das Buch Auf der Suche nach Spitzenleistungen von Peters und Waterman.

In der Studie werden als Beispiele die Unternehmen Bosch, Altana, Rabe, Infineon, Henkel, Benteler, Adidas, Loewe, Heidelberger Druck, Weiss, Ribe, Emz, Thyssen Krupp Marine Systems und Maschinenfabrik Rheinhausen (MR) genannt.

Einige der genannten Unternehmen gerieten seitdem in eine als durchaus existenziell zu bezeichnende Krise oder mussten herbe Rückschläge hinnehmen.

So ging LOEWE in den letzten Jahren gleich mehrfach in Insolvenz[2]TV-Hersteller Loewe: Neustart nach zwei Insolvenzen in Kronach. Heidelberger Druck benötigte im Jahr 2009 eine staatliche Garantie, ohne die das Unternehmen womöglich vom Markt verschwunden wäre[3]Heideldruck macht den Anfang[4]Heidelberger Druck. 850 Millionen Euro Staatshilfe beantragt. Der Mitbewerber Koenig und Bauer erkannte darin seinerzeit nicht zu Unrecht ein Beispiel für Wettbewerbsverzerrung. Benteler musste wegen auflaufender Verluste seine Handelssparte verkaufen und einen Sanierungsexperten anheuern, dessen Aufgabe es war, mit den Banken eine langfristige Finanzierung auszuhandeln[5]Benteler beginnt mit dem Stellenabbau[6]Benteler verkauft Handelssparte an niederländischen Konkurrenten[7]Benteler schließt Restrukturierung frühzeitig ab. Infineon kämpft mit überschaubarem Erfolg um den Anschluss in der Chipentwicklung. Thyssen will sich von Thyssen Krupp Marine Systems trennen[8]Thyssen-Krupp verhandelt mit Carlyle über Teilverkauf der Marinesparte. Ein möglicher Käufer ist der Bund[9]Entsteht ein deutscher Marine-Champion?[10]ThyssenKrupp Marine Systems hofft auf Milliardenaufträge für Marine. Adidas hat im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit 30 Jahren einen Verlust eingefahren[11]Adidas-Organigramm: Mit diesem vierköpfigen Vorstand will Bjørn Gulden den Konzern aus der Krise führen.

Freilich, an den Problemen haben externe Faktoren (Finanzkrise, Corona, Skandale, Kriege), auf welche die Unternehmen, wenn überhaupt, nur einen sehr geringen Einfluss haben, einen großen Anteil. Insofern werden die Hauptannahmen der Studie dadurch nicht per se widerlegt. Stand heute ist die Positionierung als Systemkopf für viele produzierende Unternehmen in Deutschland eine sinnvolle, häufig die einzig verbleibende Option. Angesichts des aktuellen Trends zur De-Globalisierung[12]NACH CORONA KOMMT DIE DEGLOBALISIERUNG[13]Von der Globalisierung zurück zur Deglobalisierung?[14]Wie sich weltweite Handelsströme verändern könnten[15]Deglobalisierung: Warum der Trend sich beschleunigt, Protektionismus, Lieferkettenproblemen und der Blockbildung in der Weltwirtschaft kann sich die Fixierung auf das Modell “Systemkopf” jedoch als problematisch erweisen, zumal die anderen Länder, wie in Asien, eine ähnliche Richtung einschlagen werden. Mit “Made in Germany” lässt sich als Systemkopf nur noch bedingt werben, wie aktuell das Beispiel Miele zeigt. Künftig könnte es also “Design Made in Germany” heißen[16]DESIGN MADE IN GERMANY: EINE EINFÜHRUNG IN DIE GESCHICHTE UND BEDEUTUNG DES DEUTSCHEN DESIGNS

Die Industrie, so eine Studie der IHK Düsseldorf, kann nicht mehr isoliert, sie muss stattdessen als Netzwerk betrachtet werden[17]Netzwerk Industrie – Die Zukunft des Industriestandorts:

Die Logik der „klassischen“ Wirtschaftssystematik – sprich die Klassifikation der Wirtschaftszweige – reicht nicht mehr aus, um die Bedeutung der Industrie für die Region zu erfassen. Denn längst hat das „Netzwerk Industrie“ die Rolle des Impulsgebers für Innovationen und für die Entwicklung neuer Geschäftsfelder und Geschäftsmodelle übernommen.

Die Region behält ihre Bedeutung, wie die Autoren der Systemkopf-Studie einräumen:

Trotz ihrer starken Internationalisierung sind Systemköpfe stärker als vergleichbare Unternehmen in regionale Produktionsverbünde integriert. Diese verstärkte Kooperation ist ein typisches Merkmal für Systemköpfe, da sie auf- grund ihrer starken Spezialisierung stärker darauf angewiesen sind, in Netzwerken zusammenzuarbeiten. Das zeigen auch die Befragungen. 22 Prozent der Systemköpfe geben an, bei der Entwicklung und Verbesserung von Produkten und Dienstleistungen intensiv mit Lieferanten, Abnehmern und anderen Unternehmen zusammenzuarbeiten. Bei der Referenzgruppe sind es nur 15 Prozent. Somit sind leistungsfähige Netzwerke für die Systemkopfunternehmen wichtig, denn funktionierende Beziehungen zu Lieferanten, Kunden und Wissenseinrichtungen versetzen sie in die Lage, ihre Differenzierungsstrategie mit einer Konzentration auf hochwertige Tätigkeiten zu reali- sieren.

Dafür muss aber ein Mindestmaß an Produktion, an OEMs im Land verfügbar sein.

Ähnlich auch Michael E. Porter vor etlichen Jahren[18]Nationale Wettbewerbsvorteile:

Der heimische Stützpunkt ist der Ort vieler der produktivsten Arbeitsplätze, der Kerntechnologien und der höchsten Qualifikationen. Die Existenz des heimischen Stützpunkts in einem Land hat zugleich die größten positiven Einflüsse auf andere verwandte heimische Branchen und führt zu weiteren Vorteilen für den Wettbewerb in der Wirtschaft eines Landes. Das Land, das der heimische Stützpunkt ist, kommt normalerweise auch in den Genuß positiver Nettoexporte. Qualität, Besonderheiten und neue Produkte sind in fortschrittlichen Branchen und Branchenbereichen von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus erwächst ein Kostenvorteil ebenso aus den Entwürfen rationell herstellbarer Erzeugnisse und führender Verfahrenstechnologie wie aus Faktorkosten oder gar Einsparungen durch Erhöhung der Produktionskapazitäten. Wir müssen erkennen, warum Unternehmen aus einigen Ländern diese für eine hohe und steigende Produktivität so wichtigen Vorteile besser schaffen können als andere.  Aber die grundlegenden Fragen gehen über die Rolle der Länder hinaus. Was ich in Wirklichkeit hier erkunde, ist, wie das unmittelbare »›Umfeld<< eines Unternehmens seinen Wettbewerbserfolg im Zeitablauf prägt. Oder noch allgemeiner, warum einige Gesellschaften Erfolg haben und andere scheitern. Ein Teil des Umfelds eines Unternehmens ist der geographische Standort mit allem, was er von der Geschichte, von den Kosten und der Nachfrage her mit sich bringt. Zu einem unternehmerischen Umfeld gehört aber noch mehr; ebenfalls wichtig ist etwa, wo Manager und Arbeiter ausgebildet wurden”.