In Deutschland geht das Gespenst der Deindustrialisierung um. So warnte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst erst kürzlich vor der Deindustrialisierung. Andere, wie Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, plädieren für eine behutsame Deindustrialisierung[1]Plädoyer für eine behutsame De-Industrialisierung[2]Vgl. dazu: Ist das „Geschäftsmodell Deutschland“ in Gefahr?[3]Vgl. dazu: Die Deutschland AG in der finalen Phase[4]Vgl. dazu: Deutsche Wirtschaft zehrt von den Erfolgen der Vergangenheit[5]Vgl. dazu: Deutsche Industrie: Auch digital “unkaputtbar” ?. Der Ökonom und Unternehmensberater Hermann Simon fordert dagegen explizit eine Deindustrialisierung. „Überall dort, wo wir versucht haben, sterbende Branchen zu erhalten, haben wir Hunderte Milliarden in den Sand gesetzt und nichts an dem Trend geändert“, so Simon[6]Abstieg der deutschen Wirtschaft: „Wir brauchen eine Deindustrialisierung“[7]Vgl. dazu: Is Germany in Danger of Deindustrialization? Consequences of the Energy Crisis on the Competitiveness of the German Economy.

Es ist aus Sicht der Wissenschaft schwierig, den Grad der Deindustrialisierung zu messen, wie es mit dem Modell des sektoralen Wandels versucht wird. Laut Timur Ergen vom bereits erwähnten Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist die sektorale Zuordnung wirtschaftlicher Aktivitäten notorisch problematisch. “Das Drei-Sektoren-Schema ist keine empirische Beschreibung wirtschaftlicher Realität, sondern ein hoch abstrakter Deutungsrahmen, der so gut wie immer zu wünschen übrig lässt, wenn man genauer hinsieht. Wohin gehört etwa die Buchhaltung eines Turbinenherstellers?”[8]Deindustrialisierung als Fakt und Fiktion.

Kann die Energiewende der Deindustrialisierung Einhalt gebieten bzw. ein neues Wachstumsmodell sein?

Laut der Umweltaktivistin Zion Lights zeigen die Daten deutlich, dass keine Industrienation der Welt in der Lage war, ohne Kernenergie zu dekarbonisieren, es sei denn, es gibt geografisch verfügbare Wasserkraft im Überfluss[9]Will We Learn from the Deindustrialization of Germany?. “.. die hohen Investitionen Deutschlands in erneuerbare Energien waren nicht unbedingt ein Fehler. Es war ein lohnendes Experiment. Das Land hat es versucht. Es ist gescheitert. So funktionieren Experimente manchmal. Der größte Fehler Deutschlands bestand darin, dass die Daten auf dem Weg dorthin ignoriert wurden, weil sich seine Führer in Wunschdenken und Ideologie verstrickt hatten, was sie blind für negative Ergebnisse machte. Die Politiker konnten nicht akzeptieren, dass ihr Experiment gescheitert war. Auf diese Weise lehnten sie den Lernprozess ab, den die Wissenschaft uns bieten kann, genauso wie sie saubere Energie ablehnen, weil sie ihnen nicht gefällt”[10]“Stellen Sie sich vor, wir hätten eine unserer allerersten Technologien – das Feuer – auf diese Weise behandelt. Die Entdeckung des Feuers hat die Menschheit vorangebracht. Feuer … Continue reading.

Industrie als Basis der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung

Für den ehemaligen Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, Hans Jürgen Warnecke, bedürfen moderne Informations- und Dienstleistungsgesellschaften einer tragfähigen Produktionsbasis: “Politik und Gesellschaft, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter sind gefordert, die Rahmenbedingungen, unter denen in Deutschland produziert werden kann, so zu gestalten, dass wir auch im 21. Jahrhundert eine exportfähige Industrie haben. Gegenwärtig stehen die USA als Beispiel dafür, dass der Weg in die sich abzeichnende Informations- und Dienstleistungsgesellschaft nur dann erfolgreich gegangen werden kann, wenn die Basis einer leistungsfähigen wertschöpfenden Industrie erhalten bleibt. Die Fokussierung auf rentable Finanztransaktionen oder Dienstleistungsgeschäfte entzieht der Produktion nicht nur wichtige Ressourcen, sie verstellt auch den Blick auf den Wert der eigentlichen Leistungserstellung. Vor einem Wertewandel nach amerikanischem Vorbild – weg vom Ingenieur, hin zum Broker – kann nicht eindringlich genug gewarnt werden”[11]Informations- und Dienstleistungsgesellschaften bedürfen einer tragfähigen Produktionsbasis (Hans-Jürgen Warnecke)

Keine Dematerialisierung 

Bei der Betrachtung der Diskussion um die Zukunft der Wirtschaft kann der Eindruck entstehen, die Welt löse sich demnächst Bits und Bytes auf. Auf die Materie, die Welt der Atome, kommt es dann nicht mehr an. Für Greg Satell und zahlreiche andere Personen sind Informatik und Materie kein Widerspruch.

Das größte Potenzial liegt für Satell in den Materialwissenschaften[12]Materials Science May Be the Most Important Technology of the Next Decade. Here’s Why[13]This Company Is Combining Big Data and Materials Science to Revolutionize Manufacturing. Satell verweist u.a. auf die Materials Genome Initiative.[14]“Die Materials Genome Initiative ist eine behördenübergreifende Bundesinitiative zur Erforschung, Herstellung und Anwendung fortschrittlicher Materialien, die im Vergleich zu herkömmlichen … Continue reading

Deutschland ist auf dem Gebiet übrigens auch sehr aktiv. Im Rahmen von Material.Digital fördert das Bundesministerium für Forschung zahlreiche Projekte, wie SmaDi, GlasDigital oder StahlDigital.

Die Deutsche Gesellschaft für Materialkunde (DGM) hat im Jahr 2018 ein Papier zu den Fördergrundlagen[15]Digitaler Wandel in der Wissenschaft: Herausforderungen und Chancen für das Fachgebiet Materialwissenschaft und Werkstofftechnik sowie das Strategiepapier Digitale Transformation in der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik veröffentlicht[16]Vgl. dazu: Digitale Transformation in der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik[17]Vgl. dazu: NFDI – MatWerk.

In den nächsten zehn Jahren werden wir einen bedeutenden Wandel von Bits zu Atomen erleben (Greg Satell)

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Materialinformatik. “Die Materialinformatik umfasst die Erforschung, Entwicklung und Anwendung von Informationen über Materialeigenschaften, sowohl physikalische Daten als auch theoretische und empirische Modelle und Software-Tools zur Abfrage und Auswertung dieser Datenbanken. … Innovationen im Bereich der Materialwissenschaft und Fertigungstechnik können durch moderne Simulationsmethoden und fortschrittliche Experimente ideal unterstützt werden. Die damit verbundenen Versuchs-, Modell- und Simulationsdaten nehmen einen immer größeren Umfang ein und es verbergen sich wahre Schätze in dieser heterogenen Datenwelt. Um diese Schätze zu heben bzw. weitere Daten in einfacher Weise zu integrieren, arbeiten wir an innovativen Ansätzen aus der Informatik. Ein Ziel ist dabei die nahtlose Integration von Daten, Modellen und Simulationstools. Dies gelingt unter anderem mit semantischen Methoden, bei denen Metainformationen mit Hilfe von Ontologien für den Computer leichter verarbeitbar gemacht werden und auch für den menschlichen Nutzer die Datentransparenz erhöht wird”[18]Materialinformatik.

In Europa sind bereits einige Startups auf dem Gebiet aktiv[19]Top Material Science Startups In Europe.

Ein Beispiel ist plasmatreat aus dem ostwestfälischen Steinhagen. Motto des Unternehmens:

Der vierte Aggregatzustand revolutioniert die industrielle Produktion

Nicht weit entfernt von Steinhagen, in Verl, hat Beckhoff Automation das Planarmotorantriebssystem XPlanar entwickelt. “Das intelligente Transportsystem XPlanar kombiniert die Vorteile herkömmlicher Systeme und ergänzt diese um die einzigartige Magnetschwebetechnologie. Durch den schwebenden 2D-Produkttransport eröffnet das Planarmotorsystem vollständig neue Möglichkeiten“. Laut Firmengründer Hans Beckhoff ist damit der Übergang von einem linearen zu einem nicht-linearen Ansatz für die Materialhandhabung möglich – die vielleicht bedeutendste Veränderung in der Massenproduktion seit Henry Ford[20]Von der fokussierten Fabrik zur Mikrofabrik #1.

Zusammen mit dem 3D-Druck wird Vision von der Mikrofabrik Wirklichkeit.

Eine Mikrofabrik kann sich auch auf eine Fabrik beziehen, die für eine flexible Kleinserienproduktion ausgelegt ist und eine Vielzahl von Produkten herstellen kann, im Gegensatz zu einer einzigen monolithischen Massenproduktion. Die Fertigungsprozesse von Mikrofabriken nutzen in der Regel digitale Fertigungstechnologien wie 3D-Druck und CNC-Maschinen, um dies zu erreichen. Local Motors unterhielt beispielsweise Mikrofabriken in Phoenix, Arizona, und Knoxville, Tennessee. Das Unternehmen baute in seinen Mikrofabriken Produkte wie den Rally Fighter Prerunner Sportwagen[21]Wikipedia

Die neuen Wachstumsindustrien

Der bereits erwähnte Hermann Simon bringt als Beispiel für die neuen Wachstumsindustrien den chinesischen Batteriehersteller Contemporary Amperex Technology Co. Limited (CATL), der in Thüringen die Produktion aufgenommen hat. Das Unternehmen gehört zu den zehn größten Herstellern für Lithium-Ionen-Akkus. Aktuell arbeitet CATL an einer Superbatterie, die in zehn Minuten aufgeladen sein und eine Reichweite von 400 Kilometern haben soll. „Bei CATL suchen sie 2000 qualifizierte Leute und finden sie selbst in Thüringen nicht“, so Hermann Simon.

Die Industrie bleibt. Sie bekommt nur ein anderes Gesicht.

References

References
1 Plädoyer für eine behutsame De-Industrialisierung
2 Vgl. dazu: Ist das „Geschäftsmodell Deutschland“ in Gefahr?
3 Vgl. dazu: Die Deutschland AG in der finalen Phase
4 Vgl. dazu: Deutsche Wirtschaft zehrt von den Erfolgen der Vergangenheit
5 Vgl. dazu: Deutsche Industrie: Auch digital “unkaputtbar” ?
6 Abstieg der deutschen Wirtschaft: „Wir brauchen eine Deindustrialisierung“
7 Vgl. dazu: Is Germany in Danger of Deindustrialization? Consequences of the Energy Crisis on the Competitiveness of the German Economy
8 Deindustrialisierung als Fakt und Fiktion
9 Will We Learn from the Deindustrialization of Germany?
10 Stellen Sie sich vor, wir hätten eine unserer allerersten Technologien – das Feuer – auf diese Weise behandelt. Die Entdeckung des Feuers hat die Menschheit vorangebracht. Feuer gab uns Wärme und Licht, und es wehrte Raubtiere und Fliegen ab. Das Feuer ermöglichte es uns, mehr Nährstoffe und Kalorien aus der Nahrung zu gewinnen, indem wir sie kochten, wodurch unser Gehirn größer wurde. Sprachwissenschaftler gehen davon aus, dass wir durch die Zeit, die wir am Feuer verbrachten, lernten zu kommunizieren. Energie gab uns Leben. Wir gingen von der Steinzeit über die Bronzezeit zur Eisenzeit und dann zu Kohle, Öl und Gas über, was die industrielle Revolution und den Ausstieg vieler Menschen aus der Subsistenzwirtschaft ermöglichte. Das Feuer war die buchstäbliche Flamme, die eine Explosion von Wissenschaft und Technik auslöste.

Heute wissen wir jedoch, dass die Energiegewinnung durch fossile Brennstoffe zum Klimawandel beiträgt. Wir brauchen ein “Feuer 2.0”: energiedicht und zuverlässig, aber sauber. Das ist die Kraft des Atoms.

Der größte Fehler Deutschlands war nicht unbedingt seine reflexartige Reaktion auf die Kernschmelze in Fukushima Daiichi. Auch Japan hat so reagiert, hat aber inzwischen seine Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernenergie rückgängig gemacht und setzt neu auf die Kernenergie. Die Kernschmelze hat zwar niemanden das Leben gekostet, aber die reflexartigen Reaktionen haben zu einem Anstieg der Treibhausgasemissionen und einer Zunahme der Todesfälle durch Luftverschmutzung geführt. Auch Stromausfälle kosten Leben, ebd.

11 Informations- und Dienstleistungsgesellschaften bedürfen einer tragfähigen Produktionsbasis (Hans-Jürgen Warnecke)
12 Materials Science May Be the Most Important Technology of the Next Decade. Here’s Why
13 This Company Is Combining Big Data and Materials Science to Revolutionize Manufacturing
14 “Die Materials Genome Initiative ist eine behördenübergreifende Bundesinitiative zur Erforschung, Herstellung und Anwendung fortschrittlicher Materialien, die im Vergleich zu herkömmlichen Methoden doppelt so schnell und zu einem Bruchteil der Kosten hergestellt werden können. Die Initiative schafft Strategien, Ressourcen und Infrastrukturen, um US-Institutionen bei der Einführung von Methoden zur Beschleunigung der Materialentwicklung zu unterstützen”.
15 Digitaler Wandel in der Wissenschaft: Herausforderungen und Chancen für das Fachgebiet Materialwissenschaft und Werkstofftechnik
16 Vgl. dazu: Digitale Transformation in der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik
17 Vgl. dazu: NFDI – MatWerk
18 Materialinformatik
19 Top Material Science Startups In Europe
20 Von der fokussierten Fabrik zur Mikrofabrik #1
21 Wikipedia