Mit der Währungsunion begann seinerzeit auch die Wirtschafts- und Sozialunion. Was folgte war ein langwieriger und zuweilen auch schmerzhafter Transformationsprozess der Gesellschaft und Wirtschaft der ehemaligen DDR, der bis heute nicht vollständig abgeschlossen ist. Eine Frage, die nicht nur Wirtschaftshistoriker beschäftigt, ist, ob es zur Einführung der D-Mark in der DDR Alternativen gegeben hat. Für Dr. Lothar Weniger (Foto), seinerzeit Referent zur deutschen Währungsunion im Wirtschaftsministerium, war die Einführung der D-Mark in der DDR letztlich alternativlos.
RK: Herr Dr. Weniger, Sie waren einer der Architekten der Währungsunion von D-Mark und Mark der DDR 1990. Wie sind Sie an diese Aufgabe gekommen?
LW: Einer von vielen Mitwirkenden. Architekten waren andere. Ich war Zeitzeuge. Ich habe zunächst in Kanada Wirtschaftswissenschaften studiert und wurde am Lehrstuhl für Volkswirtschaftlehre in Kiel promoviert. Mitte der AchtzigerJahre kam ich dann als Economist zum IWF in Washington. 1989 – noch vor der Wiedervereinigung – wurde ich vom IWF zum Wirtschaftsministerium nach Deutschland abgeordnet und begann meine Tätigkeit in Bonn als Referent im Referat 1A5, dem Referat für Währungsfragen.
RK: Nun war ja zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nichts von ihrer neuen Aufgabe absehbar. Die Staats- und Parteiführung der DDR feierte noch im Oktober 1989 ihren 40. Geburtstag, als kurz darauf die Mauer fiel. Wann genau wurde denn von einer Währungsunion gesprochen?
LW: Bis Ende Januar 1990 waren sich die meisten Akteure einig, dass eine Konvertierbarkeit der Ost-Mark erst nach weitreichenden marktwirtschaftlichen Reformen vorstellbar sei. Ein späterer Beitritt der DDR, inklusive konvertierbarer Ost-Mark, zur EU wurde erwogen. Die Einführung der D-Mark stand nicht zur Debatte. Mitte Februar 1990 gab es dann schon Bestrebungen der bundesdeutschen Seite, die übrigen EG-Staaten schonend auf eine mögliche Währungsunion vorzubereiten. Die Reaktionen der EG-Staaten fielen eher verhalten aus.
RK: Verständlich, denn das Ausland, allen voran Frankreich und Großbritannien fürchteten ein geeintes – und damit auch größeres – Deutschland. Der italienische Unternehmer Carlo de Benedetti mutmaßte damals, wenn zur Bundesrepublik noch die großen Industrieregionen wie Sachsen hinzukämen, würde sich daraus eine gewaltige Wirtschaftskraft entwickeln. War dem so?
LW: Wirtschaftlich hat darin wohl kaum jemand ein Problem gesehen. Politisch hingegen schon. Wer zur Bevölkerungszahl der Bundesrepublik die 16 Millionen DDR-Bürger hinzuaddierte, konnte sich leicht ausrechnen, dass das politische Gewicht Deutschlands in der EG plötzlich zuungunsten von Frankreich und Großbritannien aber auch von Italien verschoben wurde, deren Einwohnerzahl denen der alten Bundesrepublik vergleichbar war. Die Balance dieser vier wichtigen EG-Mitgliedsstaaten wurde durch die Wiedervereinigung also empfindlich gestört. Deutschland stand plötzlich als bevölkerungsreichstes EG-Land da, was Bundeskanzler Kohl dazu veranlasst hatte, zu versprechen, dass aus dieser neuen Machtsituation keinesfalls irgendwelche Vorrechte wie etwa mehr Sitze im Parlament oder in den Räten abgeleitet werden würden. Erst Angela Merkel hat später eine teilweise Anpassung durchgesetzt. Aber zurück zur Wirtschaftsfrage: Selbst Skeptiker hatten nicht im Entferntesten vorhergesehen, wie wenig konkurrenzfähig die DDR-Wirtschaft tatsächlich war. Auch der IWF hat Berechnungen und Mutmaßungen darüber angestellt, wie hoch das Bruttoinlandsprodukt der DDR sein könnte und kam zu einem positiven Ergebnis.
RK: Es gab auch Vorzeigeunternehmen wie Carl-Zeiss Jena…
LW: Solche Erzeugnisse der Feinmechanik und Feinoptik machten aber nicht die Masse in Relation zur Gesamtwirtschaft aus. Viele von ihnen waren zudem subventioniert. Tatsächlich hatte die DDR-Wirtschaft im Saldo wahrscheinlich einen negativen Wert.
RK: In der Tat schwer vorstellbar: Es gab schließlich Produkte, die sich gegen Devisen absetzen ließen, Marken, Vermögenswerte, Immobilien…
LW: …wovon Sie beispielsweise Umweltschäden und Versorgungsansprüche der Mitarbeiter abziehen müssen.
Es fehlten statistische Daten
RK: Und dann tauchte die Forderung auf, die Währungsunion im Kurs von 1:1 durchzuführen. Wie kam das bei den Währungsexperten an?
LW: Das Problem bestand zunächst darin, dass es überhaupt keine verlässlichen statistischen Daten gab, die Hinweise auf die tatsächliche Wirtschaftsleistung der DDR hätten geben können. Daher konnte selbst die Bundesbank keine Aussage dazu treffen, was aus ihrer Sicht der richtige Umtauschkurs wäre. Auf dem Schwarzmarkt wurden zwischenzeitlich Kurse bis zu 10:1 erzielt. Der realistische Wechselkurs lag vielleicht grob in Richtung 6:1.
RK: Aber der kam ja nie zur Anwendung.
LW: Richtig, und zwar durchweg aus politischen Gründen. Spätestens im Februar 1990 stand fest, dass die D-Mark eingeführt wird. Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl warnte früh vor einem 1:1 Kurs, konnte sich mit seiner 2:1-Forderung jedoch nicht durchsetzen. Dass mit der D-Mark automatisch der Wohlstand Einzug in den ostdeutschen Wohnzimmern halten würde, war eine Illusion, der man aus wahlkampftaktischen Gründen nicht widersprochen hatte. Allerdings bestand am Ende auch Konsens darüber, dass die Einführung der D-Mark praktisch alternativlos gewesen ist. Klar war auch, dass alles, was schlechter als 1:1 gewesen wäre, keine Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden hätte.
RK: Gab es denn alternative Vorschläge?
LW: Thilo Sarrazin, zu dem Zeitpunkt Leiter des Referats für Innerdeutsche Beziehungen, schrieb am 15. November 1989, also 6 Tage nach dem Fall der Mauer, dass zunächst Preise und Marktstrukturen beider Länder angepasst werden müssten, bevor man in einem letzten Schritt eine Währungsunion einführen könne. In der Realität wurde sein Vorschlag praktisch auf den Kopf gestellt und die Währungsunion stand zu Beginn dieses Prozesses.
RK: Also eine harte Währungsunion zweier vollkommen unterschiedlicher Systeme. Wie ist man da vorgegangen?
LW: Schon im Januar 1990 gab es Überlegungen, auch von mir, dass an der bundesweiten Einführung der D-Mark kein Weg vorbeiführen könne. Dagegen gab es zunächst erheblichen Widerstand. Tatsächlich war das Ministerium, wie die meisten Ökonomen, zu diesem Zeitpunkt noch Sarrazins Auffassung gefolgt und wollte die D-Mark-Einführung als einen Schlussstein verstanden wissen.
Selbst eine massiv abgewertete Währung entfaltet keine Kraft, wenn die wirtschaftliche Basis nicht gegeben ist
RK: Und wann änderte sich diese Einstellung?
LW: Diese Zeit ist ja nicht arm an erstaunlichen und überraschenden Äußerungen; wir erinnern uns alle an die legendäre Schabowski-Pressekonferenz, die zum Fall der Mauer geführt hatte. Bei der Währungsunion öffnete letztlich eine Bemerkung der SPD-Finanzpolitikerin Irmgard Matthäus-Meyer vom 19. Januar 1990 den Weg zu einer Einführung der D-Mark. Das Kanzleramt stellte sich hinter diese Forderung, obwohl gleichzeitig, noch Ende Januar, davon gesprochen wurde, die DDR-Mark als eigenständige Währung konvertibel zu machen.
RK: Warum setzte sich die D-Mark-Einführung als Idee letztlich durch?
LW: Ökonomische Diskussionen, bei denen es etwa um stufenweise Einführungen oder auch um Parallelwährungen ging, hatten immer den Makel der praktischen Undurchführbarkeit. Der DDR fehlten letztendlich die nötigen Devisen, die erforderlich gewesen wären, um eine Währung zu stabilisieren. Eine eigene Währung hätte massiv abgewertet werden müssen. Aber selbst eine massiv abgewertete Währung entfaltet keine Kraft, wenn die nötige wirtschaftliche Basis nicht gegeben ist. Hinzu kommt, dass die D-Mark ohnehin bereits Parallelwährung in der DDR gewesen ist. Es gab ja kaum einen DDR-Bürger, dem nicht wenigstens Kleinstbeträge des „Westgeldes“ als die bessere Währung vertraut und im Alltag geläufig war. Die Mark der DDR wäre letztendlich nur noch dazu benutzt worden, um Steuern zu zahlen und die D-Mark hätte sich praktisch von selbst auf dem Markt etabliert. Ferner sollte die Devisenbewirtschaftung im engeren Sinne, und die damit verbundenen Devisenkontrollen ohnehin der Vergangenheit angehören.
RK: Woran haben Sie konkret im Referat gearbeitet?
LW: Zu Beginn habe ich hauptsächlich an alternativen Parallelwährungsmodellen gearbeitet – eine D-Mark-Einführung schien ja politisch ausgeschlossen.
Die DDR hatte einen massiven Geldüberhang
RK: Was hat die Staatsbank der DDR zu dem Zeitpunkt gemacht?
LW: Sie hat verzweifelt versucht, den Wechselkurs der DDR-Mark zu stabilisieren. Die Kombination eines knappen Güterangebots bei gleichzeitigen, freigiebig monetisierten, Lohnsteigerungen, hatte zu einem massiven Geldüberhang geführt. Die Mark der DDR genoss schon lange kein Vertrauen mehr. Bei Umtausch in D-Mark wurde dieser Geldüberhang allerdings sofort kaufkraftwirksam.
RK: Worin bestand dabei konkret die Gefahr?
LW: Dass die Bundesbank in einem solchen Szenario die Kontrolle verlieren könnte.
RK: Andererseits wollte man sehr schnell Fakten für eine Wiedervereinigung schaffen.
LW: Sowohl Kohl als auch Genscher war klar, dass die Situation in der Sowjetunion in einem halben Jahr später gänzlich anders aussehen und sich das Zeitfenster auch schnell wieder schließen könnte. Und auch dieser im Ausland verursachte Zeitdruck war ein Grund dafür gewesen, mit der Währungsunion vollendete Tatsachen zu schaffen.
RK: Da kam Helmut Kohl zugute, dass er als Historiker dachte und sich der Tatsache bewusst war, dass manche Gelegenheiten nur einmal kommen.
LW: Zumal die Wiedervereinigung auch bereits aus vielen Köpfen verschwunden war. Lange Zeit hatte die Bundesrepublik beispielsweise KFZ-Kennzeichen der ostdeutschen Städte freigehalten, als schließlich 1989 der Lahn-Dill-Kreis das Kennzeichen L erhielt, bevor er wenige Monate später diesen Buchstaben an Leipzig abtreten musste.
Man hat an ein „nachgeholtes“ Wirtschaftswunder in den neuen Bundesländern geglaubt
RK: Dann hatte also Leipzig wieder sein L zurück. War das der Beginn von Kohls versprochenen „blühenden Landschaften?“ – oder war diese Verheißung letzten Endes nur eine Trickserei am Wählervolk, bevor sich das Möglichkeits-Fenster der Wiedervereinigung womöglich zu früh schließen hätte können?
LW: Ich glaube nicht, dass Kohls „blühende Landschaften“ nur als Trickserei am Wähler verstanden werden kann. Ich glaube – im Gegenteil – daran, dass Kohl fest von seinem Versprechen überzeugt war. Gerade in konservativen Kreisen hat man sich auf die gemeinsame Mentalität der Deutschen beider Staaten berufen und ein einheitliches Wohlstandsniveau für realistisch gehalten. Als historischen Vergleich wurde dabei oft das Wirtschaftswunder der 1950er und 1960er Jahre herangezogen.
RK: Haben sich dabei nicht aber die Konservativen um Kohls inneren Kreis auch vom eigenen Optimismus tragen lassen?
LW: Das ist möglicherweise so, aber das kann man auch nicht unbedingt als Vorwurf sehen. Viele westdeutsche Regierungsmitglieder kamen selbst aus dem Gebiet der DDR oder waren zumindest dort geboren wie etwa Außenminister Genscher, dessen Wurzeln in Halle liegen. Für ihn waren die „blühenden Landschaften“ auch Programm und Glaube an die Gestaltungskraft der Ostdeutschen und damit letztlich an sich selbst.
RK: Der SPD-Finanzexperte Karl Schiller hatte auch gesagt, wenn der Bruder an der Tür klingelt, dann lässt man ihn herein und fragt nicht nach den Kosten. Das ist schon eine versteckte Aussage, dass man die „blühenden Landschaften“ nicht zum Nulltarif bekommen würde, oder? Und welche Kosten hat eigentlich die Währungsunion selbst verursacht? Ist die Befürchtung von Bundesbankpräsident Pöhl, ein Umtauschkurs von weniger als 1:2 würde die D-Mark ruinieren, eingetroffen?
LW: Die Bundesbank war natürlich um die Währungsstabilität der D-Mark besorgt. Und selbst Pöhls 1:2-Aussage war bereits als politisches Zugeständnis zu werten, wenn man bedenkt, dass der für realistisch gehaltene Kurs eher bei 1:5 lag. Denn man nahm korrekterweise einen gewaltigen Währungsüberhang in der DDR an. Wenn man dann allerdings die DDR-Wirtschaft in Relation zum übrigen Bundesgebiet setzte, dann war aus diesen Größenordnungen schon klar, dass die Angst, die DDR-Mark würde die D-Mark in den Abgrund ziehen, wohl etwas übertrieben war.
RK: Eingetreten ist ja das Gegenteil. Pöhls Worst-Case-Szenario eines 1:1-Umtausches wurde durchgesetzt, und trotzdem blieb die D-Mark stabil. Warum?
LW: Die Bundesbank war damals eine sehr konservative Zentralbank mit einer sehr konsequenten Geldmengensteuerung und einer bemerkenswerten Unabhängigkeit gegenüber Politik und Wirtschaft. So hat die Bundesbank zum Beispiel meist dann noch die Zinsen erhöht, wenn die Arbeitslosigkeit am höchsten war, wenn die Inflation noch nicht unter Kontrolle war.
Die Bundesbank hatte eine derart große Reputation, da hätte sich niemand getraut, gegen die D-Mark zu wetten
RK: Der Investor George Soros war in den 1990er Jahren reich geworden, weil er gegen das Pfund gewettet hatte. Warum hat damals eigentlich niemand gegen die D-Mark gewettet?
LW: Die Bundesbank hatte damals so eine felsenfeste Reputation, da hätte sich niemand getraut, gegen die D-Mark zu spekulieren; wenn, dann wurde höchstens mit der D-Mark spekuliert, aber nie dagegen.
RK: Diese Art von Zentralbankpolitik ist doch aber Geschichte, oder?
LW: Deutschland hatte damals der Errichtung einer EZB unter der Prämisse zugestimmt, dass diese einen Kurs ähnlich der damaligen Bundesbank verfolgt. Diese Prinzipien sind jedoch schon lange über Bord geworfen worden.
RK: Woran kann man das festmachen?
LW: An vielem, vor allem aber an den massiven Anleihenkäufen der EZB, die faktisch eine, an sich verbotene, Monetisierung der Staatsverschuldung bedeuten.
RK: Droht dann der Eurozone der Haircut wie in Argentinien?
LW: Argentinien verschuldete sich in Dollar – bevor es zahlungsunfähig wurde. Die Eurozone verschuldet sich hingegen in Euro. Der Euro ist eine stabile Reservewährung. Allein deswegen kann die Eurozone nicht einfach so pleite gehen. Das heißt, alle Mitgliedstaaten haben einen ziemlich großen Spielraum für Staatsschulden und können damit rechnen, dass die EZB einspringt, wenn die Anleger nicht mehr mitspielen wollen. Die Deutschen sind in der Zentralbank ziemlich isoliert.
RK: Bedeutete das letztlich auch das Ende der D-Mark?
LW: Die Ära der D-Mark endete für mich spätestens mit der griechischen Staatsschuldenkrise, als man angefangen hat, stabilitätspolitische Elemente über Bord zu werfen.
RK: Inwiefern ist die Währungsunion von 2002 mit der von 1990 vergleichbar?
LW: Kaum. Die heutigen Euro-Mitgliedsstaaten mussten sich dem harten Regime des Maastricht-Vertrages unterwerfen. Dadurch wurden Prozesse in Gang gesetzt, die durchaus zu einer Angleichung der Wirtschaftskraft in den EU-Ländern geführt hat. Dieser Reform-Prozess wurde in der DDR übersprungen, bzw. konnte erst nach der Währungsunion langsam und schmerzhaft durchgeführt werden. Im Grunde ist der Prozess bis heute nicht abgeschlossen.
Zur Person:
Lothar Weniger studierte Finanzwissenschaften in Montreal und promovierte 1987 am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre der Uni Kiel mit einer Arbeit zum Europäischen Währungssystem. Im selben Jahr begann er beim IWF in Washington, wo er an wirtschaftlichen Stabilisierungsprogrammen in Entwicklungsländern arbeitete. 1989 – noch vor dem Mauerfall – erfolgte die Entsendung zum Wirtschaftsministerium nach Bonn, wo er schließlich bis 1991 im Referat zur Währungsunion arbeitete. Danach wechselte er ins Investmentbanking, zunächst bei Salomon Brothers und schließlich bei der Dresdner Bank, SBC Warburg und der DZ Bank. 2014 folgte er dem Ruf als Finanzberater des Präsidenten der Zentralbank von Surinam.