Von Ralf Keuper
Es kommt sehr selten vor, dass sich Bankiers als Chronisten ihrer Zeit und Literaten erweisen. Biografien ehemaliger Bankiers pflegen für gewöhnlich nach wenigen Jahren der – häufig wohlverdienten – Vergessenheit anheim zu fallen. Zu den wenigen Ausnahmen zählen Carl Fürstenberg und Felix Somary.
Der Bankier Franz Simon Meyer, der im 19. Jahrhundert in Rastatt und Baden-Baden tätig war, ist dennoch ein Sonderfall. Franz Simon Meyer lebte von 1799 bis 1871. Seit seinem 16. Lebensjahr hielt Meyer über 55 Jahre seine Gedanken, Zeitbeobachtungen und Erlebnisse in zahlreichen Manuskripten fest. Herausgekommen ist ein in dieser Form wohl einzigartiges Werk, das von Sebastian Diziol in jahrelanger Arbeit zusammengestellt und in zwei Bänden unter dem Titel Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens veröffentlicht wurde.
Im ersten Band “Die Jugendjahre des Franz Simon Meyer” (1816 – 1828) schildert Meyer seine Lehrzeit, die ihn in die Schweiz, nach Paris und England führte. Paris stand damals noch unter dem Einfluss der Revolutionsjahre und der Regierungszeit Napoleons. In England trat Meyer eine Welt entgegen, die sich zum Teil fundamental von der französischen und badischen Gesellschaft jener Zeit unterschied. Die Industrialisierung, die später auf dem Kontinent Einzug halten sollte, war hier bereits weit fortgeschritten. In den Fabriken von Manchester, Liverpool, Leeds und Sheffield konnte Meyer sich einen Eindruck von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen verschaffen, die sein Heimatland ebenfalls verändern würden.
Über die Auswirkungen der Dampfmaschine war sich Meyer schon relativ klar:
Boulton, der die ersten Dampf Maschinen verfertigte, eine Erfindung, die vielleicht später eine größere Umwälzung auf der Erde hervorbringen dürfte, als die Entdeckung des Schießpulvers.
Die Ausdehnung des Welthandels zusammen mit Spekulationsgeschäften in Staatspapieren und Bergwerken führte 1826 zu einer Überhitzung der Wirtschaft, in deren Folge viele Bankhäuser zugrunde gingen, wie Carli und Co in Augsburg, Gebrüder Benneke in Berlin oder Meerwein & Co in Karlsruhe. Das Bankhaus Meyer bliebt davon weitgehend unberührt, was der umsichtigen Führung des Hauses unter dem Vater von Franz Meyer zu verdanken war. Dieser hatte u.a. ein Kreditersuchen des Vaters des späteren österreichischen Außenministers Fürst Metternich höflich aber bestimmt abgewiesen.
Der erste Band ist noch erfüllt vom jugendlichen Elan des Verfassers. Die Zukunft erscheint ihm allen politischen Wirrnissen jener Zeit zum Trotz als vielversprechend. Seine Aufzeichnungen sind eine Mischung aus Reisebericht, Sittengemälde und Reportage. Auf diese Weise bekommt der Leser einen Eindruck von den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen in den damals führenden Ländern Europas kurz vor dem Einsetzen der Industrialisierung und dem Aufkommen der Massengesellschaft sowie des Nationalstaats.
Im zweiten Band “Franz Simon Meyer in Zeiten der Revolution 1829-1849” begegnet uns der Geschäftsmann, Ehemann und Vater, der sich einmal im Jahr die Zeit nimmt, die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahres schriftlich festzuhalten. Kaum ein Jahr ist dabei, in dem nicht ein naher Angehöriger oder Freund zu Grabe getragen wird. Darunter seine erste Ehefrau, die im Alter von nur 26 Jahren verstarb. Der Ton wird gesetzter. Der Schwung der frühen Jahre, wie er für den 1. Band kennzeichnend ist, lässt von Jahr zu Jahr spürbar nach. Der Alltag mit seinen Sorgen und Nöten nimmt den Bankier und Ehemann voll in Anspruch. Die Geschäfte in Rastatt und Baden-Baden laufen gut. Als Bankier ist Meyer konservativ und umsichtig. Zu seinen Kunden pflegt er einen persönlichen und zum Teil auch intensiven Kontakt. Seine Urteilskraft wird dadurch jedoch nicht beeinträchtigt, was nicht heisst, dass er nicht auch mal Geld verloren hat. Viel mehr erfährt man nicht. Meyer nimmt regen Anteil am Geschehen in der Welt. Er zeigt sich für seine Zeit bestens informiert über die Ereignisse in den europäischen Nachbarländern ebenso wie die im damaligen deutschen Reich. Die Revolution von 1848 trifft bei Meyer auf wenig Verständnis. Als Bewohner einer Stadt, die ein wichtiger Militärstützpunkt ist, hält er, ganz Kind seiner Zeit und Vertreter seines Standes, an dem obrigkeitsstaatlichen Regierungs- und Gesellschaftsmodell fest.
Wer etwas über die Zeit von 1820 bis 1850 aus der Hand eines Augenzeugen erfahren will, der ein hoch talentierter Literat und Bankier war, sollte zu den Aufzeichnungen von Franz Simon Meyer greifen. Sie stehen durchaus in einer Reihe mit den Tagebüchern des Herzogs von Croÿ und denen von Samuel Pepys.
Zuerst erschienen auf Bankstil