Warum wurden Europa und China so unterschiedlich? Ein neues Buch von drei renommierten Ökonomen liefert eine überraschende Antwort – und fordert damit die großen Theorien von Diamond bis Acemoglu heraus. Der Schlüssel liegt ihre Meinung nach weder in der Geografie noch in Institutionen allein, sondern in der Art, wie Menschen ihre Zusammenarbeit organisierten: Clan gegen Corporation.
Im 11. Jahrhundert war die Welt noch in Ordnung – zumindest aus chinesischer Sicht. Während China als reiche, technologisch fortgeschrittene Zivilisation glänzte, vegetierte Europa in Rückständigkeit und Armut. Tausend Jahre später hat sich das Bild radikal umgekehrt: Europa erlebte Demokratie und Industrielle Revolution, China stagnierte unter autokratischer Herrschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
Was erklärt diese dramatische Umkehrung? Mit ihrem im November 2025 bei Princeton University Press erschienenen Buch „Two Paths to Prosperity: Culture and Institutions in Europe and China, 1000–2000″ wagen Avner Greif, Joel Mokyr und Guido Tabellini eine provokante These: Der Unterschied liegt in zwei fundamental verschiedenen Formen sozialer Organisation – dem Clan in China und der Corporation in Europa.
Die Macht der sozialen Organisation
Das Kernargument ist bestechend einfach: In China dominierte über Jahrhunderte die „kin-based cooperation“, die Zusammenarbeit innerhalb von Sippen und Familienclans. In Europa hingegen entstanden aufgrund schwächerer Verwandtschaftsbindungen die sogenannten „Corporations“ – Genossenschaften, Städte, Universitäten, Gilden. Beide Organisationsformen erfüllten ähnliche gesellschaftliche Funktionen: Risikoteilung, Bildung, Konfliktlösung. Aber sie basierten auf völlig unterschiedlichen Prinzipien.
Die langfristige Folge, so die Autoren, war dramatisch: Der ausgeprägte Clan in China begünstigte autokratische Strukturen und hemmte Innovation. Die europäische Corporation dagegen schuf die Voraussetzungen für neue staatliche Institutionen und legte den Grundstein für die Industrielle Revolution.
Eine Landkarte der Erklärungen
Die These von Greif, Mokyr und Tabellini reiht sich ein in eine lange Tradition großer Erklärungsversuche – und grenzt sich zugleich deutlich von ihnen ab.
Jared Diamond setzte auf Geografie und Biologie. In „Guns, Germs, and Steel“ erklärte er den Aufstieg Europas durch Umweltbedingungen, domestizierbare Tiere und günstige geografische Lage. Institutionen und Kultur sind bei ihm nur Folgeerscheinungen: Erst die Ökologie, dann die Sozialordnung.
David Landes hingegen betonte Kultur, Wissen und Mentalitäten. In „The Wealth and Poverty of Nations“ machte er protestantische Werte, Arbeitsethos und Bildungstraditionen für die Industrielle Revolution verantwortlich. Institutionen sind bei ihm Ausdruck kultureller Normen, nicht deren Ursache.
Daron Acemoglu und James Robinson verschoben den Fokus in „Why Nations Fail“ auf die Qualität politischer Institutionen. Inklusive Institutionen – mit breiter Beteiligung, Rechtssicherheit und Eigentumsschutz – fördern Innovation und Wohlstand. Extraktive Institutionen, die nur einer Elite dienen, führen zu Stagnation. Kultur und Geografie spielen eine nachrangige Rolle; entscheidend ist die Machtverteilung.
Greif, Mokyr und Tabellini setzen noch tiefer an. Für sie sind politische und wirtschaftliche Institutionen selbst Endprodukte einer fundamentaleren Ebene: der Form sozialer Organisation. Nicht die Frage „inklusiv oder extraktiv?“ steht im Zentrum, sondern: „Clan oder Corporation?“ Die Art, wie Gesellschaften ihre Kooperation institutionell organisieren, prägt über Jahrhunderte hinweg alle anderen Strukturen.
Europas kreatives Chaos
Einen interessanten Kontrapunkt setzen Karl Hardach, Konrad Schilling und Marcus Popplow. Ihre These: Europas Aufstieg resultierte paradoxerweise aus seiner politischen Zersplitterung. Während Byzanz und die islamische Welt zentralisierte Großreiche bildeten, herrschte in Europa ein „kreatives Chaos“ konkurrierender Städte, Regionen und Feudalherren.
Diese Dezentralisierung erzwang Innovation. Arbeitsteilung, Tausch und Produktivitätssteigerung wurden zum Überlebensprinzip. Popplow spricht vom kontinuierlichen „Aufschaukeln“ technischer Entwicklungen durch die Konkurrenz vieler Machtzentren nach dem Zerfall der karolingischen Zentralmacht. Europas Dynamik war weniger Folge eines Masterplans als vielmehr des kreativen Wettbewerbs zwischen rivalisierenden Entitäten.
Michael Mitterauer wählte in „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ einen systemisch-multikausalen Ansatz. Er betont die „Verkettung von Umständen“: das Zusammenspiel von agrarischen Innovationen, dem Einfluss des Christentums und den Wechselwirkungen mit Militär-, Rechts- und Klosterwesen. Mitterauer sieht den europäischen Sonderweg nicht monokausal begründet, sondern als Resultat einer besonderen, ans Mittelalter geknüpften Kombination vielfältiger Entwicklungen.
Die lange Dauer und die Energie der Geschichte
Zwei weitere Perspektiven erweitern den Blick radikal. Fernand Braudel, der große Historiker der „longue durée“, betrachtete die Geschichte in drei Ebenen: Die geografische Ebene bleibt über Jahrhunderte nahezu unverändert. Soziale und wirtschaftliche Strukturen verändern sich langsam. Politische Ereignisse sind kurzfristig und flüchtig.
Für Braudel war die kapitalistische Weltwirtschaft ein Prozess der Zentralisierung und Monopolisierung, nicht des freien Wettbewerbs. Innovationskraft entstand aus langfristigen, regional-kulturell geprägten sozialen und ökonomischen Systemen. Er ist der radikalste Vertreter einer struktur- und raumbezogenen Langzeitperspektive, in der individuelle und institutionelle Neuerungen nur in sehr engen, systemlimitierten Bandbreiten wirksam werden.
Ian Morris wählte in „Foragers, Farmers, and Fossil Fuels“ einen noch materialistischeren Zugang. Seine These: Die verfügbare Energie bestimmt die gesellschaftliche Organisation. Jäger und Sammler lebten von „Beute“ in flachen Hierarchien. Ackerbaugesellschaften nutzten die „Ernte“ und entwickelten Hierarchien und Patriarchat. Industriegesellschaften basieren auf „Öl“ und fossiler Energie – und ermöglichen erst Demokratie und Gleichheit.
Für Morris folgen Werte und Institutionen den energetischen Rahmenbedingungen. Die materielle Basis prägt die Institutionen, nicht umgekehrt. Geschichte wird zum Evolutionsprozess, getrieben von der Art und Menge nutzbarer Energie.
Zyklen der Zivilisation
Arnold Toynbee schließlich operierte in „A Study of History“ mit einem ganz anderen Modell: dem Zivilisationszyklus. Zivilisationen entstehen, wachsen, zerfallen und werden abgelöst – nach dem Muster von Herausforderung und Antwort. Ihr Überleben hängt von der Fähigkeit „kreativer Minderheiten“ ab, innovative Antworten zu liefern.
Toynbee sah Geschichte nicht als lineare Entwicklung oder strukturelle Determination, sondern als dramatische Wellenbewegung. Transformation ist zyklisch bedingt: Herausforderung – Krise – Antwort – Innovation – Konservierung – Verfall. Die westliche Moderne ist für ihn nur eine Phase, grundsätzlich dem gleichen Prozess unterworfen wie alle früheren Kulturen.
Was bleibt?
Die Debatte über Europas Aufstieg und Chinas Stagnation ist ein Kaleidoskop konkurrierender Erklärungen. Diamond setzt auf Geografie, Landes auf Kultur, Acemoglu und Robinson auf Institutionen, Greif, Mokyr und Tabellini auf soziale Organisationsformen. Hardach und Popplow preisen die Dezentralisierung, Mitterauer die Verkettung multipler Faktoren. Braudel denkt in Strukturen der langen Dauer, Morris in Energiestufen, Toynbee in Zyklen.
Vielleicht liegt die Wahrheit nicht in einer dieser Theorien allein, sondern in ihrer Kombination. Vielleicht braucht es alle Perspektiven – die materielle Basis, die institutionellen Spielregeln, die kulturellen Prägungen, die zufälligen Konstellationen –, um zu verstehen, warum die Welt wurde, wie sie ist.
„Two Paths to Prosperity“ lenkt den Blick auf eine oft übersehene Dimension – die grundlegende Form, in der Menschen ihre Zusammenarbeit organisieren. Clan oder Corporation: Diese Unterscheidung mag schlicht klingen, aber sie öffnet ein Fenster zu den tiefsten Schichten gesellschaftlicher Evolution. Und sie erinnert daran, dass große historische Entwicklungen oft nicht von einzelnen Genies oder zufälligen Ereignissen ausgehen, sondern von den alltäglichen Strukturen, in denen Menschen seit Jahrhunderten miteinander leben, arbeiten und kooperieren.
Quellen:
Wie die Dezentralisierung Europa zum Handels- und Produktionszentrum der Welt machte
„Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ von Michael Mitterauer
Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften
Open – Die Geschichte des menschlichen Fortschritts
Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus
„Wohlstand und Armut der Nationen“ von David Landes
„Das Buch vom Markt. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte“ von Gerd Hardach und Jürgen Schilling
„Technik im Mittelalter“ von Marcus Popplow

