Die meisten Menschen im Westen halten die Entwicklung hin zu modernen, demokratischen Gesellschaften für eine logische Folge der kulturellen Evolution, die in der Aufklärung und dem Liberalismus ihren Ausdruck fand. Allerdings, so Ian Morris in seinem Buch Ernte, Beute, Öl wird dabei die Rolle der Energiequellen, die den Menschen in ihrer Epoche zur Verfügung standen, ausgeblendet. Morris ist der Ansicht, dass der Wechsel der Energiequellen unsere Wertvorstellungen stärker verändert hat als bislang angenommen.

Morris begründet seine These wie folgt:

Seit dem Ende der letzten Eiszeit waren die größten Veränderungen in der menschlichen Umwelt die gewaltigen Energieexplosionen, die wir als Landwirtschaftliche und Industrielle Revolution bezeichnen. Das erklärt auch, weshalb die wichtigsten Wertesysteme der Menschheitsgeschichte weitgehend in diesen drei Formen der Energiegewinnung zusammenfallen. … Der starke Anstieg der menschlichen Energieerzeugung war in den vergangenen 20.000 Jahren der Motor der kulturellen Evolution, und in diesem Zusammenhang haben sich auch die menschlichen Werte verändert.  Wenn dies der richtige Ansatz zum Verständnis von Wertesystemen ist, dann können wir vermutlich außerdem folgern, dass jedes Zeitalter die Werte bekommt, die es braucht – und genau das behaupte ich in diesem Buch. .. Die Menschheitsgeschichte lässt jedenfalls vermuten, dass die Fragen, in denen die Gesellschaft Rechtschaffenheit von uns erwartet, mit ihrer jeweiligen Form der Energiegewinnung zusammenhängen. Unsere Methoden der Energiegewinnung geben vor, welche Organisationsformen und demografische Ordnungen am besten funktionieren, und diese wiederum bestimmen, welche Werte sich durchsetzen.

Morris beginnt seine Analyse mit der Gesellschaft der Wildbeuter.

Alles in allem teilen .. die meisten Wildbeuter auffällig egalitäre Wertvorstellungen. Politischen und wirtschaftlichen Hierarchien stehen sie ausgesprochen ablehnend gegenüber, doch sie akzeptieren relativ milde Formen der Geschlechterhierarchie und erkennen an, dass es Situationen gibt, in denen Gewalt ausgeübt wird.

Warum das so ist:

Diese Werte sind deshalb unter den Wildbeutern so weit verbreitet, weil sie eine mehr oder weniger unmittelbare Konsequenz aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zwängen sind, die sich aus der Energiegewinnung und Wildbeuterei ergeben. Es wäre ausgesprochen schwierig, in kleinen Gruppen hochmobiler Jäger und Sammler politische, wirtschaftliche und Geschlechterhierarchien schaffen und aufrechterhalten zu wollen, und genauso schwierig wäre es, Beziehungen zu managen, ohne hin und wieder zu Gewalt zu greifen.

Anders dagegen bei den bäuerlichen Gesellschaften:

Solche Gesellschaften – bevölkerungsreicher und wohlhabender als die der Wildbeuter, aber auch deutlich hierarchischer – waren nur möglich, weil die Landwirtschaft eine erheblich komplexere Arbeitsteilung ermöglichte und benötigte.

Entscheidend waren die Arbeitsteilung und der demographische Sprung:

Mit wachsender Bevölkerung wurde das Land im Verhältnis zur Arbeitskraft immer knapper; die Bauern intensivierten den Anbau und konnten dem Land durch schwere Arbeiten wie Pflügen, Düngen und Bewässern größere Erträge abringen. Je weiter sich eine Gesellschaft in diese Richtung entwickelte, umso mehr wurde die körperliche Kraft der Männer bei der bäuerlichen Arbeit zum Vorteil, und umso mehr wurde die Feldarbeit zur Männerdomäne.  .. vor der Erfindung der Landwirtschaft verdoppelte sich die Weltbevölkerung durchschnittlich alle zehntausend Jahre, doch danach verkürzte sich diese Zeit auf unter zweitausend Jahre. Die Frauen der Bauern bekamen deutlich mehr Kinder als die der Wildbeuter, und dieser Sprung war so gewaltig, dass einige Historiker vom “demografischen Übergang der Jungsteinzeit” sprechen. … Die von Bauern produzierte Nahrung verlangte mehr Verarbeitung (Dreschen, Sieben, Mahlen, Backen) als die der Wildbeuter, die zunehmend festen Behausungen der Bauern erforderten mehr Instandsetzung und Reinigung als die provisorischen Unterkünfte der Wildbeuter; diese Tätigkeiten konnten von Frauen übernommen werden, die zu Hause die Kinder versorgten.

Die Auswirkungen auf das Wertesystem:

Die Werte der Bauern unterscheiden sich von denen der Wildbeuter, da Bauern und Wildbeuter in unterschiedlichen Welten leben. Die Energiegewinnung aus domestierten Quellen geht mit anderen Zwängen und Möglichkeiten einher als die Energiegewinnung aus frei in der Natur vorkommenden Ressourcen. Bauern konnten nur in einer hierarchischen und einigermaßen befriedeten Welt überleben, und lernten daher, Hierarchie und Frieden zu schätzen.

Die großen Entwicklungssprünge von der Wildbeuterei zur Landwirtschaft zur Nutzung der fossilen Energie – traten immer dann ein, wenn erfolgreiche Gesellschaften an die Obergrenze dessen stießen, was in ihrem jeweiligen Stadium der Energiegewinnung möglich war, so Morris.

Die Fossiliengesellschaft ist das Ergebnis zweier Entdeckungen. Die erste, bestand darin, dass man Kohle verbrennen konnte, um Wärme zu erzeugen. Die zweite Entdeckung war, dass sich Wärme in Bewegung übersetzen ließ, indem man Holz verbrannte und Wasser zum Kochen brachte und mit dem dabei entstehenden Dampf einen Kolben antrieb. Mit der Industrialisierung stieg die Menge der zur Verfügung stehenden Energie explosionsartig an:

Im 19. Jahrhundert erleichterten und verbilligten Züge und Dampfschiffe den Transport der Nahrungsmittel zu den Verbrauchern, und im 20. Jahrhundert trugen Kunstdünger, Benzin für Traktoren und Strom für Bewässerungsanlagen direkt zur Ertragssteigerung bei. Der Unterschied zwischen der Industriellen Revolution und den beiden früheren Revolutionen der Energiegewinnung war jedoch, dass die Industrialisierung die Welt sehr viel schneller veränderte. Mit einem Mal stieg die Menge der verfügbaren Energie derart an, dass Großbritannien im 19. Jahrhundert seine Macht auf den gesamten Planeten ausdehnen konnte. Bis zum Jahr 1914 waren die meisten Menschen der Welt Teil einer vom Westen beherrschten fossilen Energiewirtschaft und in globale Märkte eingebunden.

Parallel dazu veränderten sich Wirtschaft und Gesellschaft:

In Agrargesellschaften war die Zwangsarbeit jahrtausendelang unverzichtbar gewesen, doch die fossile Energie räumte in weniger als einem Jahrhundert mit dieser Praxis auf. Kaum hatte die Lohnarbeit gesiegt, beseitigte die fossile Energie ein weiteres uraltes und für die Agrargesellschaft unverzichtbares Instrument, weil es sich auf dem neuen Arbeitsmarkt als Hindernis erwies: die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. .. Auf der Nachfrageseite verringerten mit fossiler Energie betriebene Maschinen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Muskelkraft, während auf der anderen Seite die Verwaltung und Organisation eine immer größere Rolle spielten; da Frauen diese Aufgaben genauso gut übernehmen konnten wie Männer, boten sie eine Möglichkeit, die Zahl der auf dem Arbeitsmarkt verfügbaren Kräfte zu verdoppeln. Die Frauen hielten Einzug in die Büros.

Angesichts dieser Feststellungen und unter Beachtung der aktuellen Situation führt das zu verschiedenen Überlegungen:

Die Frage drängt sich auf, ob die fossile Energie ähnlich wie die Landwirtschaft eine feste Obergrenze hat.  … An den großen Zusammenbrüchen der Vergangenheit waren immer dieselben fünf Faktoren beteiligt: unkontrollierbare Migration, Staatsversagen, Nahrungsmitteknappheit, Epidemien und – immer dabei, wenn auch in unvorhersehbarer Weise – Klimawandel. Selbst ein kurzer Blick in die Zeitung lässt vermuten, dass diese fünf Reiter der Apokalypse im 21. Jahrhundert wieder die Pferde zu satteln drohen. … es deutet alles darauf hin, dass das 21. Jahrhundert Veränderungen in der Energieproduktion und der gesellschaflichen Organisation bringen wird, die alles seit Beginn der Evolution des modernen Menschen Dagewesene in den Schatten stellen. Wenn dies der Fall sein sollte, dann sollten wir ausgehend von den letzten 20.000 Jahren damit rechnen, dass sich die Werte genauso drastisch ändern. Vielleicht beschleunigt sie die Liberalisierung von allem noch weiter; vielleicht kehrt sie sich aber auch um.