Deutschlands Wirtschaft kämpft an zu vielen Fronten mit zu wenigen Mitteln. Zwischen verlorener Industriedominanz und unerreichbarer Technologiesouveränität liegt eine unbequeme Wahrheit: Nur wer sich strategisch zurückzieht, kann überleben.


Es gibt Momente in der Geschichte von Nationen und Wirtschaftsräumen, in denen die größte Tugend nicht im Festhalten, sondern im Loslassen liegt. Deutschland steht 2025 an einem solchen Punkt. Während die politische Debatte zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Positionen pendelt – konservative Standortsicherung versus progressive Dekarbonisierung – übersehen beide das Offensichtliche: Die Ressourcen für einen Kampf an allen Fronten sind schlicht nicht vorhanden.

Die Rede von der Frontverkürzung klingt nach Defätismus. Tatsächlich ist sie das Gegenteil: eine nüchterne Strategie für jene, die in einer Welt begrenzter Mittel und verschobener Machtverhältnisse nicht untergehen, sondern neu positionieren wollen.

Die Überdehnung: Zu viele Schlachten, zu wenige Soldaten, zu wenig Ressourcen 

Deutschlands Wirtschaftspolitik agiert derzeit wie eine Armee, die gleichzeitig ihre historischen Bastionen verteidigen, neue Territorien erobern und dabei noch die Moral der Truppen hochhalten soll. Das Ergebnis ist Erschöpfung ohne Erfolg.

Die Automobilindustrie soll ihre Verbrennungsmotoren-Expertise bewahren und gleichzeitig die Elektromobilität dominieren. Der Maschinenbau soll Weltmarktführer bleiben, während er sich digitalisiert. Die Chemieindustrie soll klimaneutral werden, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Parallel dazu wird von Chips über Künstliche Intelligenz bis zu Batterietechnologie überall Aufholbedarf konstatiert – und überall fehlen Kapital, Fachkräfte und Zeit.

Diese Überdehnung ist nicht das Resultat schlechter Planung. Sie ist das verzweifelte Festhalten an einem Selbstbild, das mit der Realität nicht mehr übereinstimmt: Deutschland als industrielle Vollsortiment-Macht, die in allen relevanten Feldern mitspielt.

Die verschwundene Machtbasis

Die brutale Wahrheit lautet: Die Grundlagen dieser Vollsortiment-Stärke existieren nicht mehr. Drei Verschiebungen haben sie untergraben.

Erstens, die geopolitische Machtverschiebung. China hat durch strategische Industriepolitik systematisch Schlüsselpositionen in globalen Wertschöpfungsketten besetzt. Was in den 1990er Jahren als Werkbank des Westens begann, ist heute die technologische und industrielle Kommandozentrale. Von Solarpanels über Batterien bis zu Drohnen – die Standards werden in Shenzhen gesetzt, nicht in München. Deutschland exportiert in Märkte, deren Regeln es nicht mehr bestimmt.

Zweitens, die technologische Entmachtung. Die digitale Revolution wurde verschlafen. Während Deutschland seine Ingenieure auf Motorenoptimierung konzentrierte, schrieben andere die Software, die Mobilität neu definierte. Künstliche Intelligenz, Cloud-Infrastruktur, Halbleiterproduktion – überall dort, wo das 21. Jahrhundert entschieden wird, spielt Europa eine Nebenrolle. Die Abhängigkeit ist nicht temporär, sie ist strukturell.

Drittens, die materielle Abhängigkeit. Der Traum von der klimaneutralen Industriemacht scheitert an einer simplen Tatsache: Die Rohstoffe für diese Transformation liegen nicht in deutscher Erde. Lithium, Kobalt, seltene Erden – bei kritischen Materialien beträgt die Importabhängigkeit aus Asien 80 bis 95 Prozent. Wer die Rohstoffe kontrolliert, kontrolliert die Transformation. Deutschland kontrolliert nichts.

Die Illusion der Souveränität

Beide dominanten Narrative – die restaurative wie die transformative – teilen eine gefährliche Prämisse: Sie gehen davon aus, dass Deutschland aus eigener Kraft gestalten kann. Diese Prämisse ist falsch.

Souveränität, wirtschaftlich verstanden, bedeutet die Fähigkeit, kritische Entscheidungen unabhängig zu treffen. Sie setzt drei Dinge voraus: technologische Kompetenz in Schlüsselbereichen, Kontrolle über essenzielle Ressourcen und eine stabile wirtschaftliche Basis für Investitionen.

Deutschland verfügt über keines davon in ausreichendem Maß. Die Chipproduktion findet in Taiwan statt, die KI-Entwicklung in den USA und China, die Batterieproduktion in Asien. Die Rohstoffe kommen von dort, wo sie abgebaut werden – und das ist nicht Europa. Die wirtschaftliche Basis? Stagnation seit Jahren, demografischer Druck, eine Investitionsquote, die nur durch staatliche Anreize am Leben gehalten wird.

Wer in dieser Situation von Vorreiterrollen spricht oder glaubt, durch Deregulierung zur alten Stärke zurückzufinden, verwechselt Wunsch mit Wirklichkeit. Alleingänge – egal in welche Richtung – sind keine Option, wenn die Mittel für den Gang fehlen.

Frontverkürzung: Die Logik der Konzentration

Strategischer Rückzug bedeutet nicht Resignation. Er bedeutet, die eigenen Kräfte auf jene Bereiche zu konzentrieren, in denen noch echte Vorteile bestehen – und alles andere kontrolliert aufzugeben.

Deutschland und Europa haben Stärken, aber sie liegen in Nischen, nicht in Massenmärkten. Spezialisierter Maschinenbau, Automatisierungstechnik, Präzisionsmedizin, Umwelttechnologie – dort gibt es noch Kompetenzvorsprünge. Diese zu verteidigen und auszubauen erfordert Ressourcen, die derzeit in hoffnungslosen Kämpfen verschwendet werden.

Eine Frontverkürzung würde bedeuten:

  • Akzeptieren, dass Massenproduktion verloren ist. Der Versuch, in Volumenmärkten wie Elektroautos oder Standardhalbleitern zu konkurrieren, verschlingt Kapital ohne realistische Erfolgsaussicht. Stattdessen: Fokus auf hochspezialisierte Komponenten und Systemlösungen.
  • Schrumpfung gestalten statt verhindern. Branchen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft verloren haben, sollten kontrolliert abgebaut werden. Die freiwerdenden Ressourcen – Kapital, Arbeitskräfte, politische Aufmerksamkeit – können dort eingesetzt werden, wo noch Zukunft liegt.
  • Abhängigkeiten managen statt leugnen. Souveränität in allen Bereichen ist unerreichbar. Kluge Diversifizierung von Lieferketten, strategische Partnerschaften und Realismus über eigene Grenzen sind wichtiger als der Traum vollständiger Autarkie.
  • Kooperation über Konkurrenz. Ein europäischer Binnenmarkt, der tatsächlich integriert ist und nicht 27 nationale Industriepolitiken nebeneinander betreibt, könnte zumindest regionale Skaleneffekte schaffen. Aber auch das erfordert das Eingeständnis, dass einzelne Länder allein chancenlos sind.

Die historische Lektion

Die Wirtschaftsgeschichte ist voll von Beispielen überforderter Mächte, die zwischen Expansion und Konzentration wählen mussten.

Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg gab sein Empire auf und fand eine neue Rolle als Finanzplatz. Die skandinavischen Länder schrumpften in den 1990er Jahren ihre Industrien und spezialisierten sich erfolgreich. Japan akzeptierte nach den 1990er Jahren, dass es nicht die USA überholen würde, und konzentrierte sich auf Nischen.

Die Gegenbeispiele sind ebenso lehrreich. Reiche, die versuchten, ihre Überdehnung durch noch mehr Expansion zu kompensieren, endeten im Kollaps. Die Sowjetunion ist das extremste Beispiel, aber auch subtilere Fälle zeigen: Wer nicht rechtzeitig zurückgeht, wird zurückgedrängt – chaotisch, schmerzhaft, unkontrolliert.

Der unausgesprochene Konsens

Das Bemerkenswerte an der deutschen Debatte ist nicht, was gesagt wird, sondern was verschwiegen wird. Beide Lager – konservativ wie progressiv – eint die Weigerung, die Frage nach der Größenordnung zu stellen. Niemand will aussprechen, dass Deutschland nicht mehr zu den gestaltenden Mächten gehört, sondern zu den reagierenden.

Die Allensbach-Studien zeigen es: 83 Prozent der Industrieunternehmen sehen ihre Planbarkeit verschlechtert. Investitionen werden gestoppt oder ins Ausland verlagert. Das ist keine vorübergehende Krise, das ist strukturelle Erosion. Dennoch bleiben die politischen Antworten im Modus des „Wenn wir nur…“ – wenn wir nur deregulieren, wenn wir nur mehr in Klima investieren, wenn wir nur die richtigen Anreize setzen.

Die Wahrheit ist unbequemer: Es gibt kein „Wenn wir nur“, das die verlorene Position zurückbringt. Es gibt nur die Wahl zwischen kontrolliertem Rückzug und unkontrolliertem Abstieg.

Realismus als Strategie

Eine Wirtschaftspolitik der Frontverkürzung ist keine Aufgabe des Anspruchs. Sie ist dessen Neudefinition. Nicht überall mitspielen wollen, sondern dort dominieren, wo es möglich ist. Nicht jeden Markt erobern wollen, sondern die eigenen Märkte schützen und ausbauen. Nicht Vorreiter sein wollen, sondern intelligenter Follower, der seine Ressourcen klug einsetzt.

Das erfordert politischen Mut, der derzeit nicht sichtbar ist. Denn Frontverkürzung bedeutet, Wählern zu sagen, dass bestimmte Industrien nicht mehr zu retten sind. Sie bedeutet, Verbänden zu erklären, dass nicht jede Branche Förderung verdient. Sie bedeutet, das Selbstbild einer Nation zu korrigieren, die sich noch immer als industrielle Supermacht versteht.

Aber die Alternative ist schlimmer. Wer überall kämpft, verliert überall. Wer seine Kräfte nicht konzentriert, sieht zu, wie sie zersplittern. Wer Illusionen nachhängt, während andere Fakten schaffen, wacht in einer Welt auf, in der für ihn keine Rolle mehr vorgesehen ist.

Der Weg nach vorn

Deutschland braucht keine neue Vision von Größe. Es braucht eine ehrliche Bestandsaufnahme dessen, was noch möglich ist – und den Mut, alles andere loszulassen. Das ist kein Pessimismus, das ist strategischer Realismus.

Eine Wirtschaft, die sich auf ihre tatsächlichen Stärken konzentriert, kann auch mit begrenzten Ressourcen erfolgreich sein. Eine Politik, die Schrumpfung als Gestaltungsaufgabe begreift statt als Scheitern, kann den Übergang sozial abfedern. Eine Gesellschaft, die ihr Selbstbild an die Realität anpasst, bleibt handlungsfähig.

Die Frontverkürzung ist keine Kapitulation. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt noch eine Front gibt, die zu halten sich lohnt.