Das Schlagwort der Digitalisierung ist in aller Munde. Dennoch tun sich deutsche Unternehmen schwer damit, die daraus sich ergebenden Konsequenzen für ihre Strategien, Organisationsstrukturen und das Personalmanagement zu ziehen. Die Wissenschaft leistet zwar wertvolle Hilfestellungen, die Früchte der Forschung werden indes häufig in anderen Ländern geerntet. In der deutschen Industrie dominiert die Hardware, die Software wird dagegen eher als nötige Ergänzung gesehen. Folge davon ist, dass deutsche Hersteller in der Unterhaltungselektronik wie überhaupt in der digitalen Wirtschaft im Geschäft mit dem Endkunden (B2C) kaum noch prominent vertreten sind. Es dominiert das B2B-Geschäft, die Systemintegration. Wie kann Deutschland seinen industriellen Kern in die Digitalökonomie überführen? Welche Technologien und Organisationskonzepte sind dazu nötig? Warum ist Software erfolgskritisch geworden? Auf diese und weitere Fragen antwortet Deutschlands Informatik-Pionier Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer (Foto) im Gespräch mit Econlittera. Darin fordert der erfolgreiche Unternehmer (Scheer Group), Forscher und ehemalige Bitkom-Präsident einen Ruck durch Politik, Forschung und Unternehmen, wenn wir in Deutschland und Europa nicht den Anschluss verlieren und unseren Wohlstand erhalten wollen.
- Herr Prof. Dr. Scheer, Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Unternehmung 4.0“. Was ist damit konkret gemeint?
Der Zusatz 4.0 bezieht sich natürlich auf die Digitalisierung von Unternehmen. Das Buch soll ein Kompass sein für Unternehmen, das gegenwärtige Businessmodell zu überdenken und auf die Digitalisierung auszurichten. Dazu werden viele Beispiele gegeben und Vorgehensweisen gezeigt, wie ein digitales Konzept entwickelt und durch die Automatisierung von Geschäftsprozessen mit neuen Technologien umgesetzt werden kann. Über 70 Abbildungen sollen dabei für den Leser die Hemmschwelle, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, verringern.
- Ähnliche Ansätze gab es bereits in der Vergangenheit – wie mit CIM. Warum ist diesmal alles anders?
Das CIM Konzept ist nun bereits 30 Jahre alt. Trotzdem lassen sich einige organisatorische Ideen auch heute bei dem Begriff Industrie 4.0 wiederfinden. Das CIM Konzept ist damals nur gescheitert, weil die Technologie noch nicht reif war. In der Zwischenzeit ist aber die Leistungsfähigkeit der Informationstechnik dramatisch gestiegen: das Internet ist entwickelt worden, Cloud Computing ist verfügbar, Künstliche Intelligenz erlebt einen Hype, und viele Erfahrungen aus konsum- und informationsnahen Branchen zeigen bereits die disruptive Veränderung von Unternehmen und ganzen Marktsegmenten.
- Welche Voraussetzungen auf organisatorischer und technologischer Ebene müssen erfüllt sein, damit sich ein Hersteller von Maschinen in eine Unternehmung 4.0 wandelt?
Ein Unternehmen muss bereit sein, die Digitalisierung offensiv anzunehmen. Es braucht dazu eine positive Einstellung zu neuen, auch fremden Technologien. Es benötig strategisches Denken, Wissen über neue digitale Konzepte, Methoden sowie Technologien und den Mut, alte bisher erfolgreiche Geschäftsmodelle in Frage zu stellen und hinter sich zu lassen.
Ein Hersteller von Maschinen braucht konkret eine Strategie für seine künftigen intelligenteren Produkte, seine Smart Factory und sein künftiges Logistikkonzept, um Anforderungen der Kunden nach individuelleren Produkten, kürzeren Lieferzeiten, transparenter Logistik und hoher Qualitätssicherung erfüllen zu können. Gleichzeitig sollte er neue digitale Dienstleistungen für die Überwachung, Steuerung und Wartung seiner Produkte anbieten. Der Anteil an Software wird bei seinen Produkten stark steigen.
Unternehmen, die bisher eher Fertigungsingenieure eingestellt haben, werden deshalb zunehmend Softwareingenieure benötigen. Es findet ein Generationswechsel in den Köpfen und auch beim Qualifikationsprofil statt.
- Warum sind Integrationstechnologien dabei so wichtig?
Die Komplexität digitaler Geschäftsprozesse erfordert hohe Integrationsleistungen zwischen verschiedenen Systemen. Es müssen Altsysteme aus dem Bereich der ERP Welt mit KI Systemen, mit Plattformen, mit neuen Cloud-basierten Lösungen und vielleicht auch der Blockchain Architektur verbunden werden. Multi Channel ist ein weiteres Stichwort, das bedeutet, dass Kunden über vielfältige IT-Zugänge wie Computer oder mobile Endgeräte kreuz und quer mit einem Unternehmen verbunden bleiben wollen. All das erfordert umfassende Integrationslösungen. Nach meinen Erfahrungen geht die digitale Transformation mit rund 70 % Integrationsaufgaben einher.
- Sind die mittelständischen Unternehmen mit Schlagworten wie Künstliche Intelligenz, Virtual Reality, Augmented Reality und Blockchain-Technologie nicht überfordert – besteht hier nicht Gefahr, dass die Unternehmen dessen überdrüssig werden?
Überdrüssigkeit ist keine Lösung. Das amerikanische Sprichwort „Thank you for being late“, mit dem man sich beim Konkurrenten bedankt, dass er zu spät kommt, kennzeichnet die Situation. Wir haben bereits ganze Branchen bei Handels- und Informationsplattformen verloren. Dies darf bei unseren starken mittelständischen Industrieunternehmen nicht passieren.
- Wenn es künftig möglich ist, dass Maschinen über Unternehmensgrenzen hinweg selbständig miteinander kommunizieren/agieren und nur mit einer überschaubaren Stammbelegschaft arbeiten, wozu braucht es dann noch Unternehmen?
In der Tat stellt sich die Frage, ob Unternehmen in der Zukunft anders aussehen werden. Unternehmen gibt es erst seit wenigen hundert Jahren. Sie haben sich gebildet, um komplexe Aufgaben, bei denen viele Menschen und Ressourcen beteiligt sind, einfacher koordinieren zu können. Das Gegenteil von Unternehmen sind Marktplatzorganisationen, wo die Ressourcen projektbezogen ad hoc zusammengezogen werden. Diese Marktorganisationen werden durch das Internet unterstützt, da dieses die Koordination auch weit entfernter Beteiligter erleichtert. Insofern können sich Unternehmen verändern, indem sie um ihren Kern herum eine Freelancer Organisation aufbauen, um ad hoc auf zusätzlich benötigte Ressourcen zugreifen zu können. Aber verschwinden werden Unternehmen mit Sicherheit nicht. So kann man sich auch kaum vorstellen, dass eine Fußballmannschaft bei der Weltmeisterschaft ad hoc zusammengestellt wird, auch hier benötigt man einen organisatorischen Rahmen, um das Team längerfristig aufeinander einzustellen und das entspricht der Organisation in einer quasi Unternehmensform.
- Es fällt auf, dass die letzte Unternehmensgründung mit globalem Erfolg in Deutschland, die SAP AG, bereits Jahrzehnte zurückliegt. Währenddessen sind in den USA und China eine ganze Reihe neuer digitaler Unternehmen mit Milliardenumsätzen und -bewertungen entstanden. Wir haben eine komplette Unternehmer-Generation ausgelassen. Woran könnte das liegen?
Zunächst zeigt das Beispiel SAP AG, dass es aus Deutschland heraus möglich war und ist, international erfolgreiche IT Unternehmen aufzubauen. Wir haben nur leider die konsum- und informationsorientierten Produkte nicht rechtzeitig in ihrer Bedeutung für die Digitalisierung erkannt. Aber die materiellen Produkte, die für die Stärke Deutschlands stehen, also der Automobilbau, der Maschinenbau oder die Chemie, werden bei der Digitalisierung folgen. Die Produkte werden intelligenter und durch intelligente Dienstleistungen ergänzt. Hier steht die Herausforderung, die bestehenden Produkte durch Digitalisierung zu verteidigen, gleichzeitig aber auch die Chance, durch neue Technologien neue Produkte zu entwickeln und auch mit Neugründungen internationale Erfolge zu zeitigen. Auch im IT-Markt sehe ich Chancen, neue international erfolgreiche Unternehmen zu entwickeln. Hier zeigen die Start-up Szenen in Berlin, München, Aachen oder Karlsruhe ermutigende Ansätze.
- Der amerikanische Management-Autor und Hochschullehrer James Brian Quinn hob in seinen Büchern The Intelligent Enterprise und Innovation Explosion. Using Intellect and Software to Revolutionize Growth Strategies vor mehr als 20 Jahren die wachsende Bedeutung der Serviceindustrie und der Softwaretechnologien für die US-amerikanische Wirtschaft hervor. Sind wir hierzulande bzw. in Europa zu Hardware-orientiert?
Der amerikanische Unternehmer und Internetpionier Marc Andreessen hat den Satz geprägt, „Software is eating the World“ und bringt damit deren Bedeutung auf den Punkt. In vielen Fällen wird von der Leistung der Computer gesprochen, etwa bei der computergestützten Übersetzung von Texten, aber man meint in Wirklichkeit die Software, die auf dem Computer eingesetzt wird. In der Tat ist heute die Software der wirksamste Hebel bei der Digitalisierung. Dieses bedeutet, dass in unseren Studiengängen für technische Anwendungen wie Maschinenbau, Chemie oder Physik Software eine immer größere Rolle spielen muss. Und hierbei dürfen wir nicht immer nur auf ausländische Systeme zugreifen, weil wir dann immer der Entwicklung nachlaufen. Wir müssen vielmehr selbst die Software-Architekturen entwickeln, um das Ineinandergreifen zwischen fachlichen Disziplinen und der Innovationskraft von Software selbst gestalten zu können.
- Auf der anderen Seite ist Wolfang Wahlster der Ansicht, dass Deutschlands Stärke in der Veredelung unserer Produkte durch KI-Anwendungen und in Smart Services liege. Stimmen Sie dem zu?
Ich stimme meinem Freund und Kollegen Wolfgang Wahlster zu, möchte aber ergänzen, dass die Nagelprobe sein wird, ob wir es schaffen, unser Wissen in die Tat umzusetzen. Dieses bedeutet, dass wir es wirklich schaffen, an der Spitze zu liegen, wenn es darum geht, unsere gegenwärtig erfolgreichen, mehr materiellen Produkte zu digitalisieren und mit neuen Dienstleistungen wie Predictive Maintenance oder Predictive Quality Assurance zu ergänzen. Wenn ich Beiträge lese, in denen die deutsche KI Kompetenz hervorgehoben wird, aber dann Beispiele von dem IBM System Watson oder von Google zitiert werden, dann kommen mir manchmal Zweifel, ob wir wirklich hier schon genügend Kraft zur digitalen Umsetzung eingesetzt haben.
- In Ihrem Buch bemängeln Sie die Lücke, die in Deutschland zwischen der Forschung und der Wirtschaft besteht. Was könnte man dagegen tun?
Das Verhältnis zwischen Forschung und Wirtschaft hat sich in den letzten 20 Jahren verbessert, kann aber noch wesentlich enger gestaltet werden. Viele mittelständische Unternehmen haben noch Berührungsängste mit Hochschulen und Forschungsinstituten. Die Politik in Deutschland und in Brüssel kann durch die finanzielle Unterstützung von Kooperationsprojekten zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen helfen, auch, indem bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. Auch die steuerbegünstigte Forschungsförderung, bei der die Unternehmen selbst die Forschungsrichtung bestimmen und sich nicht um von der Politik ausgeschriebene Forschungsprojekte bewerben müssen, die nicht direkt auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet sind, würde die Innovationsgeschwindigkeit erhöhen.
- Was das Potenzial der Blockchain-Technologie für die Wirtschaft und Gesellschaft betrifft, sind Sie eher verhalten optimistisch bis skeptisch. Wieso?
Ich beschäftige mich intensiv mit dieser nicht einfachen Technologie. Die Blockchain Technologie befindet sich gegenwärtig in einem Hype, trotzdem sehe ich sie als eine wichtige Innovationsquelle. Dies geht weit über die bisher dominierenden Anwendungen in der Finanzindustrie hinaus. Vorteilhafte Anwendungen der Blockchain Architektur sind die lückenlose Dokumentation aller Transaktionen bei der Produktentwicklung, enge Verzahnungen von Zulieferketten oder der Austausch von Maschinendaten über Unternehmensgrenzen hinweg. Wichtig ist mir aber, konkret zu prüfen, ob die Eigenschaften von Blockchain wie sichere Identitäten durch Kryptografie, Unzerstörbarkeit von Informationen und Transparenz auch wirklich bei einer Anwendung erforderlich sind. Deshalb glaube ich, dass es zu hybriden Anwendungen kommen wird, bei denen Teile eines Geschäftsprozesses in einer Blockchain gekapselt sind, andere Teile aber mit herkömmlichen Softwaretechnologien bearbeitet werden.
- Was meinen Sie: Bekommen wir in Deutschland noch die Kurve in Sachen Digitalisierung?
Ich glaube, wir brauchen einen Ruck durch Politik, Forschung, Unternehmen und Gesellschaft, um eine Aufbruchstimmung zu erzeugen. J.F. Kennedy hat es vorgemacht, indem er das Programm für die Mondlandung als Vision für sein Land vorgegeben hatte. Eine ähnliche Vision brauchen wir auch für Deutschland und Europa.
Dass es möglich ist, einen bereits verloren geglaubten Markt zurückzugewinnen, hat das Airbus Projekt gezeigt. Auch hier haben Politik und Wirtschaft zusammengearbeitet. Leider habe ich zur Zeit den Eindruck, dass sich viele Politiker eher mit internen Querelen beschäftigen, anstatt die Zeichen der Zeit für den disruptiven digitalen Wandel zu erkennen. Sie gefährden damit unsere wirtschaftliche Zukunft und damit unseren Wohlstand!
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