Die deutsche Generalität hat in den vergangenen hundert Jahren einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen – vom preußischen Elitekorps zum administrativen Führungsapparat der Bundeswehr. Was einst als Inbegriff strategischer Exzellenz galt, ist heute vielfach auf Management, Kommunikation und Symbolpolitik reduziert. Vor diesem Hintergrund gewinnt die aktuelle Debatte um Sönke Neitzels „Weckrufe“ zur Wehrfähigkeit besondere Brisanz: Sie offenbart nicht nur ein geistiges Unbehagen an der Gegenwart, sondern auch ein Missverständnis der materiellen Grundlagen moderner Kriegsführung.


Vom preußischen Generalstab zu den Weltkriegen

Der preußisch-deutsche Generalstab war bis 1914 ein internationaler Maßstab für militärische Professionalität. Seine Stärke lag in der Verbindung von theoretischer Schulung, analytischer Tiefe und operativem Denken – geprägt von Clausewitz’ Idee des „Krieges als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. An der Kriegsakademie wurden Offiziere nicht nur militärisch, sondern intellektuell geformt; das Ideal war der denkende Soldat, nicht der bloße Befehlsempfänger.

Doch schon im Ersten Weltkrieg offenbarte sich eine gefährliche Schieflage: Die operative Exzellenz verdrängte das strategische Denken. Der Fokus auf Bewegung, Taktik und operative Brillanz ging zulasten der politischen Gesamtorientierung. Der Krieg dehnte sich ins Totale aus, und der Generalstab verlor die Fähigkeit, dem politischen Ziel Grenzen zu setzen – ein Bruch, der den späteren Katastrophen den Weg bereitete.

Zweiter Weltkrieg: Mutlosigkeit und Instrumentalisierung

Die Wehrmacht übernahm viele organisatorische Strukturen des alten Generalstabs, doch geistig war sie deformiert. Zwar verfügten ihre Offiziere über operative Fähigkeiten, doch ihnen fehlte der politische und moralische Kompass. Viele ließen sich von Hitlers Ideologie vereinnahmen, andere passten sich an – und nur wenige, wie Beck, Tresckow oder Stauffenberg, zogen persönliche Konsequenzen.

So wurde aus der Elite der Planung ein Instrument der Diktatur. Der militärische Führungsgeist verflachte zu technokratischer Pflichterfüllung; die einstige Autonomie des Generalstabs verwandelte sich in ein System der Unterwerfung.

Bundeswehr und Gegenwart: Zivilisierung und Entkernung

Nach 1955 sollte die Bundeswehr bewusst mit dieser Vergangenheit brechen. Ihre Integration in ein demokratisches System, ihre zivile Kontrolle und die Prinzipien von „Innere Führung“ und Parlamentsarmee waren historische Notwendigkeiten. Doch diese moralisch-politische Läuterung hatte einen Preis: das Ende eines eigenständigen strategischen Denkens.

Der alte Generalstab wurde nicht wiederbelebt, strategische Kompetenz verlagerte sich in Verwaltung, Abstimmung und Politik. Die Bundeswehrführung ist heute in multilaterale, bürokratische Strukturen eingebettet, die militärische Verantwortung oft in Managementprozesse verwandeln. Während preußische Offiziere strategisch denken sollten, sind heutige Generäle in ein System von Kommunikationspflichten, Hierarchien und Politikberatung eingespannt.

Vom strategischen Denken zur bürokratischen Administration

Der qualitative Abstand zwischen dem Generalstab um 1910 und der Führungskultur von 2025 ist erheblich. Die heutigen Offiziere handeln in moralisch saubereren, aber intellektuell schwächeren Strukturen. Wo früher strategisches Urteilsvermögen und Verantwortungspflicht standen, dominieren heute Risikovermeidung und Abstimmung. Der Verlust des militärischen Selbstbewusstseins ist kein moralisches, sondern ein strukturelles Problem.

Sönke Neitzel und die Rückkehr des „kriegerischen Realismus“

In den vergangenen Monaten hat Sönke Neitzel mit drastischen Warnungen Aufmerksamkeit erregt: „Dieser Sommer könnte der letzte in Frieden sein“, erklärte er im März 2025. Seine Formulierungen – von „Gefahr in drei Jahren“ bis zu „Putin hat den Rubikon überschritten“ – erzeugen eine Atmosphäre der Unvermeidbarkeit. Kritiker sehen darin weniger einen „Weckruf“ als die Wiederbelebung eines militärischen Fatalismus, wie er schon vor 1914 die politische Vernunft verdrängte.

Neitzel fordert Wehrfähigkeit, Pflichtdienst und eine „mentale Wende“ – und trifft damit ein verbreitetes Unbehagen. Doch seine Rhetorik verstärkt zugleich die Illusion, militärische Stärke sei primär eine Frage des Willens, nicht der materiellen Möglichkeiten.

Der blinde Fleck: Material, Logistik, Realökonomie

Hier liegt der Kern der Kritik: Neitzel fordert Einsatzbereitschaft, ohne die materiellen Grundlagen moderner Kriegsführung zu berücksichtigen. Die Bundeswehr kämpft schon im Frieden mit strukturellen Defiziten – Materialmangel, Personallücken, unzuverlässige Lieferketten.

Ein europäischer Großkonflikt wäre nicht durch heroischen Willen, sondern durch industrielle Kapazität und logistische Nachhaltigkeit zu gewinnen. Munitionswerke, Energieversorgung, Transportlogistik und digitale Resilienz sind die wahren Bedingungen von „Wehrfähigkeit“. In diesen Feldern ist Deutschland – und Europa insgesamt – dramatisch unvorbereitet. Und auch dann wäre ein Krieg, das sind die Lehren aus dem 1. und 2. Weltkrieg, als Personen wie Walther Rathenau und Erich Ludendorff in der Verantwortung waren und dennoch kläglich scheiterten, nicht zu gewinnen. An der Ausgangslage hat sich so gut wie nichts geändert; sie ist eigentlich noch ungünstiger. Um so verstörender, dass einige Kommentatoren die Lektionen noch immer nicht begriffen zu haben scheinen.

Van Creveld und die vergessene materielle Logik des Krieges

Der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld hat früh erkannt, dass Kriege nicht durch Strategie oder Moral, sondern durch materielle und logistische Überlegenheit entschieden werden. In The Transformation of War beschreibt er, wie sich die Kriegsführung von staatlichen Armeen hin zu flexiblen, ressourcenstarken und technologisch adaptiven Akteuren verschiebt.

Van Crevelds Kritik an klassischen Streitkräften lautet: Sie bereiten sich auf vergangene Kriege vor. Ihre Strukturen sind zu starr, ihre Logistik zu schwach, ihr Denken zu heroisch. Nur wer Ressourcen beherrscht, Versorgung sichern und Technologie integrieren kann, bleibt militärisch handlungsfähig. Ohne diese Perspektive bleibt der Ruf nach „Wehrfähigkeit“ symbolisch – ein Pathos ohne Substanz.

Fazit: Strategische Nüchternheit statt heroischer Rhetorik

Die Entwicklung der deutschen Generalität von der preußischen Zeit bis heute zeigt eine doppelte Erosion: den Verlust strategischer Denkkultur und den Ersatz militärischer Autonomie durch bürokratische Strukturen. Sönke Neitzels jüngste Interventionen berühren diesen Nerv, verfehlen aber seine Ursache.

Was Deutschland fehlt, ist nicht der „Wille zum Kämpfen“, sondern die Fähigkeit, Krieg überhaupt materiell, organisatorisch und logistisch zu führen – eine Einsicht, die schon Clausewitz’ Nachfolger verstanden und die van Creveld in unsere Zeit übersetzt hat. Die Äußerungen mancher deutscher Militärs machen den z.T. drastischen Qualitäts- und Realitätsverlust seit Moltke, Scharnhorst, Clausewitz und – mit deutlichen Einschränkungen: Ludendorff und von Manstein – überdeutlich.

Eine neue militärische Vernunft müsste daher beides vereinen: strategisches Denken und materielle Intelligenz und das Bewusstsein über die Grenzen des eigenen Tuns und Wunschdenkens. Ohne sie bleibt jede Wehrhaftigkeit Rhetorik – und jeder „Weckruf“ ein Echo vergangener, fruchtbarer Irrtümer.


Quellen:

Martin van Creveld: Die Zukunft des Krieges. Mit einem Vorwort von Peter Waldmann

Grundzüge der Entwicklung des operativen Denkens im deutschen Heer von 1871 bis 1990

Neitzel: Haben drei sehr kritische Jahre vor uns

Wenn ehrgeizige Zielvorgaben auf knappe Ressourcen treffen