Von Ralf Keuper

Für viele ersichtlich, haben wir die Industriegesellschaft verlassen, um uns nun in der Plattformgesellschaft wiederzufinden. Die Wirtschaft wird in zunehmendem Umfang von großen digitalen Plattformen, wie Google, Apple, Amazon und Alibaba geprägt. Die Branchengrenzen heben sich langsam aber sich auf. Ein Hersteller von Automobilen kann in relativ kurzer Zeit seine Produktion auf Medizinprodukte umstellen. Möglich ist das dank 3D-Druck und additiver Fertigung[1]VW will Hersteller von Medizintechnik unterstützen. Insofern ist es nur eine Frage der Zeit, bis Google & Co. im großen Stil in die Produktion von Gütern aller Art – irgendwann auch von Investitionsgütern – einsteigen.

Jetzt könnte man einwenden, das habe es auch in der Vergangenheit in Gestalt großer Mischkonzerne – wie ITT und GE – gegeben. Die japanischen Keiretsu beherrschten weite Teile der Wirtschaft in Japan. Und nicht zu vergessen: Die Deutschland AG. So weit richtig – nur: In alle diesen Konstellationen war die Preisfindung über den Markt im Großen und Ganzen intakt, d.h. kein noch so großes Unternehmen konnte das Verhalten der Kunden in die gewünschten Bahnen lenken und die Preise in seinem Sinne beeinflussen, wie heutzutage Amazon. Zwar gab es auch früher schon Informationsasymmetrien; so groß wie heute waren sie jedoch noch nie. In der Vergangenheit brachten Marktplätze, so wie heute viele Plattformen, Angebot und Nachfrage zusammen. Die Informationen, die dabei anfielen, wurden an keiner Stelle zentral erfasst. Was die Kunden gekauft haben, auf welchem Weg sie zu dem Käufer gefunden haben, wie und wieviel sie bezahlt haben, wo sie sich zuvor aufgehalten haben – das alles wusste weder eine Bank, ein Händler noch ein Unternehmen. Amazon und Alibaba sind dazu grundsätzlich in der Lage. Hinzu kommt, dass der Betreiber des Marktes nicht wie seinerzeit neutral ist – er ist häufig selber Anbieter von Waren, die auch seine Kunden im Programm haben. Mehr noch: Er kann sogar die Preise seiner Kunden unterbieten und seine Angebote an prominenter Stelle platzieren. Auf die Dauer entsteht auf den digitalen Plattformen und Ökosystemen eine Art Planwirtschaft.

Auch das ist nicht neu. Bereits die großen Industriekonzerne versuchten, so John Kenneth Galbraith in Die moderne Industriegesellschaft, die Marktkräfte und ihre Überraschungen so weit wie möglich zu neutralisieren bzw. in ihrem Sinne zu beeinflussen. Diese Aufgabe, die der industriellen Planung, so Galbraith, fiel der Technostruktur und ihren Angehörigen zu. Bereits in den 1950er Jahren vollzog sich, so Galbraith, der Machtübergang von der Einzelperson des Unternehmers auf die Organisation. Die wahre Macht in den Großbetrieben liege in den Händen einer Gruppe, die mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung zur Entscheidungsfindung und -ausführung signifikant beiträgt – die Angehörigen der Technostruktur:

Erfolg kann man in der Technostruktur nur erzielen, wenn man es auf einem der Gebiete, die mit Planung, Technologie, Organisation oder der Nachfragesteuerung zu tun haben, zur Meisterschaft bringt.

Das wären heute vor allem diejenigen, die als Data Scientists und Softwareentwickler für das Training bestehender und neuer KI-Algorithmen zuständig sind. Ziel ist es, wie bereits erwähnt, mittels industrieller Planung den Markt zu steuern.

Wenn der Markt mit fortschreitender Technologie und der damit verbundenen Spezialisierung immer unsicherer wird, dann wird auch die industrielle Planung immer schwieriger, es sei denn, auch der Markt wird in die Planung einbezogen. Ein guter Teil dessen, was Firmen als Planung betrachten, besteht einfach darin, den Einfluss des Marktes zu verringern oder gar ganz auszuschalten.

Amazon ist diesem Ziel schon recht nahe, ebenso wie Alibaba. Die für die Planung nötigen Informationen bekommen sie häufig frei Haus von den Nutzern (Privatpersonen und Unternehmen). Ein Zustand, der für die alten Großkonzernen nicht mal im Ansatz im Bereich des Möglichen lag – auch nicht bei der legendären ITT, wo die Planung beachtliche Blüten trieb[2]“Weltmacht ITT – Die politischen Geschäfte eines multinationalen Konzerns” von Anthony Sampson.

In der heutigen Plattformgesellschaft haben die Marktkräfte immer weniger Einfluss. Das bekommen in besonderer Weise die kleinen und mittleren Betriebe, aber auch Großkonzerne wie Daimler und VW ebenso wie die Banken zu spüren. Letztere Gruppe hat in der alten Deutschland AG und eigentlich bis heute erfolgreiche Lobbyarbeit betrieben, ohne jedoch dabei den Erfolg von Tesla wie überhaupt die Verbreitung von Elektroautos aufhalten zu können. Diese Form der Planung funktioniert nicht mehr. Hier sind große Plattformen eindeutig im Vorteil.

Wenn wir unseren kontinentaleuropäischen Wirtschaftsstil (Dezentralisierung, soziale Marktwirtschaft, Mittelstand, Kultur) retten wollen, dann geht das nicht mehr auf dem gewohnten Weg. Branchenübergreifende Zusammenarbeit ist zwingend ebenso wie der Aufbau eigener, offener Ökosysteme, die sowohl Zentralisierung wie Dezentralisierung in Einklang bringen. Technologisch kann das durch den verstärkten Einsatz von Open Source und der Blockchain unterstützt werden. Von mindestens ebenso großer Bedeutung ist die Schaffung eines echten digitalen EU-Binnenmarktes sowie die Durchsetzung von Standards für den Datenaustausch wie generelle die Erhaltung der digitalen Souveränität.

Zuerst erschienen auf Identity Economy