Robert Michels‘ Organisationstheorie erklärt, weshalb Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Kammern von Funktionärseliten beherrscht werden, die weder die Probleme ihrer Mitglieder verstehen noch Lösungen anzubieten haben. Die Diagnose ist ernüchternd – und aktueller denn je.


Organisation ist Oligarchie

Robert Michels formulierte vor über hundert Jahren eine These, die nichts von ihrer Schärfe verloren hat: Jede Organisation neigt zwangsläufig zur Herrschaft der Wenigen über die Vielen. Das „eherne Gesetz der Oligarchie“ beschreibt keine bedauerliche Verfallserscheinung, sondern eine strukturelle Notwendigkeit. Organisation ist Oligarchie in statu nascendi.

Die Mechanismen sind klar benennbar: Führende nutzen Ressourcen, um ihre Positionen zu festigen. Sie entwickeln Ideologien der eigenen Unentbehrlichkeit und bilden informelle Netzwerke, die Außenseiter systematisch ausschließen. Die Basisdemokratie schwindet durch die Trägheit bürokratischer Apparate und die zunehmende Entfremdung der Elite von den Mitgliedern. Am Ende kehrt die Maschinerie das Verhältnis um – die Delegierten beherrschen die Delegierenden.

Das unterscheidet Michels‘ Analyse von moralisierender Funktionärskritik. Es geht nicht um Charakterschwäche oder Korruption Einzelner, sondern um die Eigenlogik formaler Organisation selbst. Wer die Verselbständigung der Verbandseliten beklagt, ohne diesen strukturellen Kern zu benennen, verfehlt das Problem.

Die doppelte Entfremdung

Michels beschrieb die Verselbständigung der Elite, nicht notwendigerweise ihren Qualitätsverfall. Die deutsche Gegenwart zeigt beides in Kombination. Verbandslaufbahnen haben sich von Branchenlaufbahnen entkoppelt. Wer heute Hauptgeschäftsführer einer IHK oder Abteilungsleiter bei einem Arbeitgeberverband wird, hat oft nie in einem Mitgliedsunternehmen gearbeitet. Der Weg führt von der Universität über Praktika und Referentenstellen direkt in die Verbandszentrale.

Das produziert Spezialisten für Gremienarbeit, Positionspapiere und Netzwerkpflege – aber keine Fachleute für die Realitäten der Branchen, die sie vertreten sollen. Bei den Gewerkschaften zeigt sich ein paralleles Muster: Der klassische Aufstieg vom Facharbeiter über den Vertrauensmann zum Bezirksleiter ist selten geworden. Stattdessen Politikwissenschaftler und Soziologen, die Arbeitskämpfe aus Seminaren kennen.

Das Ergebnis ist eine doppelte Entfremdung: nicht nur die strukturelle Abkopplung von der Basis, die Michels beschrieb, sondern zusätzlich ein epistemisches Defizit. Die Funktionäre wissen buchstäblich nicht, wovon sie reden, wenn es um Betriebsalltag, technische Entwicklungen oder unternehmerische Entscheidungszwänge geht. Die Komplexitätsreduktion, die sie betreiben, reduziert vor allem ihre eigene Ahnungslosigkeit auf handhabbare Formeln.

Die Sprache der Selbstreferenz

Parolen sind die Outputform von Apparaten, die weder die Probleme verstehen noch Konsequenzen für Fehleinschätzungen tragen. „Transformation aktiv gestalten“, „Wettbewerbsfähigkeit stärken“, „Fachkräfte sichern“ – das sind keine Analysen, sondern Textbausteine, die in jede Pressemitteilung passen und nichts kosten.

Michels‘ Gesetz erhält damit eine weitere Dimension: Die Oligarchie produziert nicht nur Machtkonzentration, sondern auch semantische Verarmung. Die Sprache der Verbände wird zur Selbstreferenz – Funktionäre schreiben für Funktionäre, zitieren einander, bestätigen sich gegenseitig die Relevanz ihrer Themen. Der Resonanzverlust zur Basis ist auch ein sprachlicher.

Hinzu kommt: Wer keine Branchenexpertise hat, kann abweichende Positionen nicht riskieren. Wer nie einen Betrieb geführt hat, wird keine unorthodoxen Einschätzungen zur Industriepolitik wagen. Die fachliche Dünnheit erzwingt Konformität – man klammert sich an den Konsens der Hauptstadtbüros, weil eigene Urteilskraft fehlt.

Strukturelle Reaktionslosigkeit

Das erklärt auch die eigentümliche Reaktionslosigkeit auf offensichtliche Fehlentwicklungen. Ob Deindustrialisierung, Energiekrise oder Bürokratielasten – die Verbände wiederholen ihre Forderungskataloge, als wäre nichts geschehen. Nicht aus böser Absicht, sondern weil der Apparat strukturell nicht anders kann.

Die Oligarchisierung korreliert mit der Komplexität der Umwelt. Je unübersichtlicher Märkte, Technologien und Interessenlagen werden, desto stärker konzentriert sich Entscheidungsmacht bei jenen, die hauptamtlich die Komplexitätsreduktion betreiben – also bei den Funktionären. Die Basis wird nicht aktiv entmachtet, sie wird schlicht irrelevant für den operativen Betrieb.

Die Krise des deutschen Verbändewesens ist daher keine Verfallserscheinung eines ehemals funktionierenden Systems, sondern die Reifung eines angelegten Musters. Die Nachkriegsjahrzehnte mit hoher Organisationsquote und scheinbar responsiven Verbänden waren die Ausnahme, nicht die Regel – begünstigt durch Wirtschaftswunder, klare Klassenlinien und überschaubare Branchen.

Keine Lösungen von dort

Wer die Diagnose ernst nimmt, wird von den Verbänden keine Lösungen erwarten – außer den üblichen Parolen. Die deutsche Diskussion um die „Zukunft der Sozialpartnerschaft“ oder die „Modernisierung der Kammerstruktur“ verkennt regelmäßig diesen Punkt. Sie behandelt die Symptome, als wären sie das Problem, und erwartet Reformfähigkeit von Apparaten, deren Eigenlogik genau diese verhindert.

Michels‘ Gesetz ist keine Handlungsanweisung, sondern eine Diagnose. Sie erklärt, warum Gewerkschaftsbosse ohne Branchenerfahrung, IHK-Verwalter ohne unternehmerische Praxis und Verbandsgeschäftsführer ohne Fachqualifikation keine Ausnahmen sind, sondern das erwartbare Resultat organisatorischer Reifungsprozesse. Das zu verstehen ist der erste Schritt – auch wenn daraus nicht unmittelbar folgt, was zu tun wäre.

Manchmal ist die Diagnose alles, was man hat. Aber sie ist besser als die Illusion, man könnte von denselben Strukturen, die das Problem erzeugt haben, auch dessen Lösung erwarten.