Warum deutsche Unternehmen an ihrer eigenen Rationalität scheitern – eine Relektüre von March und Simon
Deutsche Unternehmen galten jahrzehntelang als Meister der Prozessoptimierung. Nun erweist sich genau diese Stärke als ihr größtes Hindernis. Ein vergessener Klassiker der Organisationstheorie erklärt, warum.
I.
Es gibt ein Paradox, das die deutsche Wirtschaft seit Jahren quält, ohne dass es jemand beim Namen nennt: Die erfolgreichsten Unternehmen versagen am gründlichsten bei der Transformation. Nicht trotz ihrer Kompetenz, sondern wegen ihr. Der Automobilzulieferer, der seine Fertigungsprozesse über Jahrzehnte perfektionierte, steht vor der Elektromobilität wie gelähmt. Der Maschinenbauer, dessen Ingenieurskunst weltweit gerühmt wird, scheitert an der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Die Bank, deren Risikomanagement als vorbildlich galt, verliert Marktanteile an Fintechs, die gestern noch nicht existierten.
Die üblichen Erklärungen greifen zu kurz. Es liegt nicht am fehlenden Geld, nicht an mangelnder Intelligenz der Führungskräfte, nicht einmal primär an der viel beschworenen deutschen Risikoaversion. Die Ursache liegt tiefer – in der Struktur organisationaler Rationalität selbst.
II.
James March und Herbert Simon haben diese Struktur bereits 1958 in ihrem Werk „Organizations“ beschrieben, mit einer Präzision, die heute fast prophetisch wirkt. Ihre zentrale Einsicht: Organisationen bewältigen Komplexität nicht durch umfassende Analyse, sondern durch Programme. Ein Programm ist eine Ausführungsstrategie, ein festgelegtes Reaktionsmuster auf klassifizierte Situationen. Die Organisation verfügt über ein Repertoire solcher Programme und muss, wenn ein Ereignis eintritt, nur noch erkennen, welche Art von Stimulus vorliegt, um das passende Programm abzurufen.
Das klingt abstrakt, ist aber von unmittelbarer praktischer Relevanz. Der deutsche Mittelständler, der auf eine Kundenanfrage reagiert, durchläuft nicht jedes Mal eine vollständige Analyse aller Handlungsoptionen. Er klassifiziert: Standardauftrag oder Sonderwunsch? Bestandskunde oder Neukunde? Dann greift das entsprechende Programm. Diese Standardisierung ist keine Schwäche, sondern eine kognitive Notwendigkeit. Die „reale“ Situation, so March und Simon, ist fast immer zu komplex, als dass man sie im Detail bewältigen könnte.
III.
Die Eleganz dieses Systems zeigt sich in stabilen Umwelten. Je vorhersagbarer die Situation, desto mehr kann Koordination durch Planung erfolgen – durch im Voraus festgelegte Programme, die wie Zahnräder ineinandergreifen. Deutsche Unternehmen haben diese Form der Koordination zur Perfektion entwickelt. Die Fertigungstiefe der Automobilindustrie, die Präzision des Maschinenbaus, die Zuverlässigkeit der Finanzinstitute – all das sind Triumphe programmierter Koordination.
Doch March und Simon beschreiben auch die Kehrseite: Je variabler und unvorhersagbarer die Situation, desto mehr muss die Organisation auf Koordination durch Feedback zurückgreifen – auf die Transmission neuer Informationen, auf Anpassung in Echtzeit. Und hier beginnt das deutsche Dilemma.
IV.
Digitale Transformation ist, in der Sprache von March und Simon, ein fundamentaler Wechsel der Koordinationslogik. Die Umwelt wird nicht nur komplexer, sie wird kategorial anders. Die bisherigen Klassifikationsschemata versagen. Der Automobilhersteller kann „Tesla“ nicht sinnvoll in seine bestehenden Kategorien einordnen – ist das ein Wettbewerber, ein Technologieunternehmen, eine Anomalie? Die Bank weiß nicht, wie sie „Klarna“ klassifizieren soll. Und ohne funktionierende Klassifikation kann kein Programm abgerufen werden.
Die typische Reaktion ist bezeichnend: Deutsche Unternehmen versuchen, die neuen Phänomene in alte Kategorien zu pressen. Die Digitalisierung wird als Optimierungsprojekt klassifiziert – und löst Programme der Prozessverbesserung aus. Die Disruption wird als Wettbewerbsbedrohung eingeordnet – und aktiviert Programme der Kostensenkung und Effizienzsteigerung. Das Ergebnis ist Betriebsamkeit ohne Transformation.
V.
March und Simon beschreiben einen Mechanismus, den sie „Absorption von Ungewissheit“ nennen. In jeder Organisation werden Informationen gefiltert und transformiert, bevor sie Entscheidungsträger erreichen. Schlussfolgerungen werden weitergegeben, nicht die zugrundeliegenden Daten. Das ist funktional notwendig – niemand kann alle Rohdaten verarbeiten. Aber es hat einen Preis: Die Ungewissheit, die eigentlich in den Daten steckt, wird absorbiert, wird unsichtbar.
Für die Transformation hat das fatale Konsequenzen. Die Signale des Wandels erreichen die Führungsebene bereits gefiltert, bereits in vertraute Kategorien übersetzt. Der Vertriebsleiter berichtet nicht „ich verstehe nicht mehr, was unsere Kunden eigentlich wollen“, sondern „der Wettbewerbsdruck nimmt zu“. Die IT-Abteilung meldet nicht „unsere gesamte Architektur ist für die neue Welt ungeeignet“, sondern „wir benötigen Investitionen in die Modernisierung“. Die Ungewissheit, die eine echte strategische Neuorientierung erzwingen würde, kommt oben nie an.
VI.
Besonders aufschlussreich ist March und Simons Analyse der Mittel-Zweck-Ketten. Organisationen operieren mit hierarchisch geordneten Zielen: Ein übergeordnetes Ziel wird in Unterziele zerlegt, diese wieder in konkretere Unterziele, bis hinunter zu operationalisierbaren Aktivitäten. Der Vorteil: Komplexität wird handhabbar. Der Nachteil: Die Verbindung zwischen Mitteln und übergeordneten Zwecken wird zum impliziten Wissen, das niemand mehr hinterfragt.
Deutsche Unternehmen haben ihre Mittel-Zweck-Ketten über Jahrzehnte optimiert. Jede Abteilung weiß genau, was sie zum Gesamtziel beiträgt – oder glaubt es zu wissen. Doch wenn sich der übergeordnete Zweck verschiebt, wenn „Automobilität“ plötzlich etwas anderes bedeutet als „Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor herstellen“, dann kollabiert die gesamte Kette nicht etwa spektakulär. Sie läuft einfach weiter, perfekt koordiniert, auf ein Ziel zu, das es nicht mehr gibt.
VII.
Die Ironie ist bitter: Was March und Simon als „Grenzen der Rationalität“ beschrieben – bounded rationality –, wurde von deutschen Unternehmen in einen Wettbewerbsvorteil verwandelt. Die Beschränkung auf bewährte Programme, die Reduktion von Komplexität durch etablierte Klassifikationsschemata, die Absorption von Ungewissheit durch hierarchische Kommunikation – all das funktionierte hervorragend, solange die Welt so blieb, wie die Programme sie erwarteten.
Nun hat sich die Welt geändert, und die vermeintliche Stärke erweist sich als Falle. Die Programme, die einst Komplexität reduzierten, verhindern jetzt deren Wahrnehmung. Die Klassifikationsschemata, die einst schnelle Reaktionen ermöglichten, blockieren jetzt die Erkenntnis des Neuen. Die hierarchische Kommunikation, die einst Entscheidungen ermöglichte, absorbiert jetzt die Ungewissheit, die zur Transformation motivieren müsste.
VIII.
Was folgt daraus? Keine einfache Handlungsanweisung, das wäre selbst eine Kategorie der alten Welt. Aber vielleicht ein anderer Blick auf das, was Transformation eigentlich bedeuten müsste.
Transformation ist nicht Prozessoptimierung mit anderen Mitteln. Sie ist nicht die Entwicklung neuer Programme, die die alten ersetzen. Sie erfordert vielmehr etwas, das March und Simon als Ausnahme beschreiben: die Konstruktion völlig neuer Programme aus detaillierten Elementen, statt der bloßen Rekombination vorhandener. Das ist kognitiv aufwendig, organisatorisch riskant und kulturell fremd – gerade für Organisationen, deren Erfolg auf dem Gegenteil beruhte.
Die wenigen deutschen Unternehmen, denen Transformation gelingt, haben eines gemeinsam: Sie haben verstanden, dass sie ihre eigene Rationalität suspendieren müssen. Nicht Irrationalität ist gefragt, aber ein temporärer Verzicht auf die Effizienz programmierter Reaktionen. Ein Zustand, den Amerikaner als „Beginner’s Mind“ kennen – das Eingeständnis, dass die bisherigen Kategorien versagen.
March und Simon wussten bereits 1958, was das kostet: „Die wachsende Komplexität des Problems kann nur mit den begrenzten Kräften des Individuums bewältigt werden, wenn es in einer allgemeineren und aggregierten Form behandelt wird.“ Aggregation aber bedeutet Abstraktion, bedeutet Kategorisierung, bedeutet: zurück zu den Programmen.
Die Transformation verlangt, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Es ist eine Aufgabe, die den meisten deutschen Unternehmen noch bevorsteht. Ihre bisherigen Programme werden sie dabei nicht retten.
Die Frage ist nicht, ob deutsche Unternehmen intelligent genug für die Transformation sind. Die Frage ist, ob sie bereit sind, auf eine Form der Intelligenz zu verzichten, die sie groß gemacht hat.
