Andrea Nahles spricht vom Arbeitsmarkt als „Brett“ – keine Vibration, kein Vortrieb. Während die Politik noch über Fachkräftemangel debattiert, zeigen die Daten einen historischen Tiefpunkt bei der Jobvermittlung. Der Widerspruch ist nur scheinbar: Deutschland erlebt nicht das Ende des einen oder den Beginn des anderen Problems, sondern eine Bifurkation – die Spaltung des Arbeitsmarktes in Segmente, die kaum noch kommunizieren.


Die Metapher ist aufschlussreicher, als sie zunächst wirkt. Ein Brett impliziert nicht Krise im klassischen Sinn – keine dramatische Abwärtsbewegung –, sondern etwas Perfideres: das Ausbleiben jeder Dynamik bei gleichzeitig erodierender Substanz. Der Integrationsindikator der Bundesagentur für Arbeit, der die Wahrscheinlichkeit einer Wiederbeschäftigung misst, ist auf 5,7 gefallen – ein Wert, der in der Geschichte der Behörde noch nie so niedrig gemessen wurde. Von 100 Arbeitslosen finden pro Monat nur noch knapp sechs einen Job. Das ist kein zyklisches Hüsteln, das ist ein Absturz.

Gleichzeitig vermeldet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung weiterhin sieben Millionen fehlende Arbeitskräfte bis 2035. Die Babyboomer gehen in Rente, zu wenige Junge rücken nach – eine simple demografische Rechnung mit verheerenden Konsequenzen, so die Warnung. Die Ironie ist offensichtlich: Ausgerechnet in dem Moment, in dem der große Arbeitskräftemangel einsetzen sollte, erleben wir in Deutschlands Kernbranchen das Gegenteil.

Die Doppelblindheit des Diskurses

Beide Narrative operieren mit einem fundamentalen Denkfehler: Sie behandeln die Arbeitswelt als statisches System. Die IAB-Prognosen rechnen 2035 wie 2023, nur mit weniger Menschen. Die KI-Substitutions-Analysen rechnen jeden automatisierbaren Job als eliminierten Job. Beide übersehen die eigentliche Dynamik.

Die deutsche Wirtschaft verliert nicht primär an Automatisierung, sondern an globaler Wettbewerbsposition. Die Stellenverluste bei VW, BASF oder Thyssen resultieren weniger aus Effizienzgewinnen durch KI als aus Marktanteilsverlusten gegenüber chinesischen und amerikanischen Konkurrenten. Die Automatisierung könnte theoretisch Produktivitätsgewinne liefern, die den Standort stärken – stattdessen wird sie als Rationalisierungsinstrument für schrumpfende Märkte eingesetzt.

Das führt zu einer perverseren Dynamik: Deutschland automatisiert nicht, um besser zu werden, sondern um langsamer zu schrumpfen. Der Unterschied ist existenziell.

Fallstudie Bankensektor: Die Bifurkation in Zahlen

Der deutsche Bankensektor liefert ein Lehrstück für diese Dynamik. Laut einer Auswertung von Barkow-Consulting hat die Zahl der Beschäftigten im Bankgewerbe 2024 um 1,1 Prozent auf 554.000 zugenommen. Daraus eine „Beschäftigungswende“ herauszulesen, erfordert allerdings beträchtlichen guten Willen – oder selektive Wahrnehmung. Denn im gleichen Atemzug muss man konstatieren: Von 745.000 Beschäftigten im Jahr 1991 sind noch 554.000 übrig. Der Langfristtrend zeigt einen Verlust von fast 200.000 Stellen. Drei marginale Anstiege in 25 Jahren ändern daran nichts.

Die Binnendifferenzierung offenbart das eigentliche Muster. Landesbanken und Großbanken bauen weiterhin Personal ab: BayernLB minus 649, NordLB minus 235, Deka und DZ Bank zusammen rund 8.000 weniger Beschäftigte. Punktuelle Zuwächse bei LBBW und Helaba konzentrieren sich auf Spezialbereiche wie IT. Es ist dieselbe Bifurkation, die den gesamten Arbeitsmarkt prägt: Abbau im Kerngeschäft, Aufbau in Nischen.

Besonders aufschlussreich ist die Anatomie des vermeintlichen Fachkräftemangels. Im ersten Quartal 2024 waren fast 40.000 Stellen im Bankensektor ausgeschrieben. Gleichzeitig befürchten 43 Prozent der Beschäftigten Arbeitsplatzverluste, und 61 Prozent der Institute planen in den nächsten zwölf Monaten Stellenabbau. Diese Zahlen widersprechen sich nur scheinbar. Die offenen Stellen betreffen hochspezifische Profile – IT-Architekten, Compliance-Experten, KI-Spezialisten. Die Angst vor Jobverlust betrifft klassische Bankkarrieren – Sachbearbeiter, Filialberater, Kreditanalysten.

Die Prognosen sind eindeutig: Bis zu jeder zweite Arbeitsplatz im Bankensektor ist durch KI gefährdet. Der demografische Wandel – bei den Sparkassen gehen in den nächsten zehn Jahren etwa 45.000 Beschäftigte in Rente, ein Viertel der Belegschaft – führt zu Fluktuation, aber nicht zu existenziellem Personalmangel. Viele dieser Tätigkeiten können durch Automatisierung ersetzt werden. Die Lücke, die durch das Ausscheiden entsteht, ist weniger bedrohlich als oft dargestellt – sie wird schlicht nicht mehr gefüllt.

Die Polarisierung als eigentliches Phänomen

Die Zukunft des deutschen Arbeitsmarktes wird nicht vom pauschalen Mangel geprägt sein, sondern von extremer Polarisierung. In hochspezialisierten Bereichen – KI-Entwicklung, komplexe Beratung, kreative Gestaltung – wird tatsächlich Personal fehlen. Gleichzeitig verschwinden in vielen anderen Sektoren Arbeitsplätze oder werden fundamental verändert.

Diese Bifurkation ist bereits sichtbar. Selbst Ingenieure und Softwareentwickler sind nicht mehr ausgenommen – das widerspricht direkt der jahrzehntelangen MINT-Rhetorik. Während Unternehmen händeringend KI-Spezialisten und Cybersecurity-Experten suchen, entlassen sie gleichzeitig Tausende von Administratoren, Sachbearbeitern und Routineprogrammierern.

Der „Fachkräftemangel“ der Zukunft wird nicht quantitativ, sondern qualitativ sein – es wird an den richtigen Fähigkeiten zur richtigen Zeit mangeln, nicht an Menschen generell.

Das kulturelle Signal

Besonders aufschlussreich ist der Ausbildungsrückgang. Nahles berichtet, dass so wenig junge Menschen in Ausbildung vermittelt wurden wie seit 25 Jahren nicht. Ein Vierteljahrhundert-Tief bedeutet, dass eine ganze Generation die Botschaft internalisiert: Das deutsche Industriemodell verspricht keine Zukunft mehr.

Die Transfergesellschaften, von denen Ökonomen wie Lars Feld sprechen, funktionieren dabei als Puffer, der den statistischen Arbeitslosigkeitsausweis verzögert, aber die Realität nicht verändert. 150.000 verlorene Industrie-Jobs allein in 2025, mit einer weiteren „Lawine“ in Vorbereitung.

Die politische Reaktion auf diesen Strukturbruch ist symptomatisch: Nahles kritisiert den Vermittlungsvorrang der neuen Bürgergeld-Reform, weil die Fähigkeiten der Arbeitslosen oft nicht zu den freien Stellen passen. Man behandelt ein Qualifikations-Mismatch mit Tempo-Druck – das ist wie Fieber mit Kühlpacks zu bekämpfen, ohne nach der Infektion zu fragen.

Vom Zukunftsschock zum Strukturschock

Alvin Tofflers Begriff des „Future Shock“ beschrieb 1970 die psychische Überforderung durch zu schnellen Wandel. Was Deutschland heute erlebt, radikalisiert dieses Konzept: Es geht nicht mehr um Anpassungsgeschwindigkeit, sondern um das Wegbrechen ganzer Beschäftigungskategorien ohne funktionales Äquivalent.

Die Pflege-Umschulungs-Rhetorik offenbart die Hilflosigkeit – als könne man Millionen Industriefacharbeiter in einen Sektor umleiten, der selbst unter massiven Strukturproblemen leidet. Die klassischen Lösungsansätze für den Personalmangel – mehr Frauen in Vollzeit, längeres Arbeiten, verstärkte Migration – könnten sich als Fehlschläge erweisen, wenn gleichzeitig Millionen von Arbeitsplätzen durch Automatisierung und Wettbewerbsverluste verschwinden.

Deutschland steht nicht vor einem Arbeitskräftemangel, sondern vor einem fundamentalen Strukturwandel. Die Herausforderung liegt nicht darin, mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, sondern darin, eine Gesellschaft zu gestalten, in der die alte Gleichung von Arbeit, Einkommen und gesellschaftlicher Teilhabe nicht mehr aufgeht.

Das Brett, von dem Nahles spricht, ist keine vorübergehende Stagnation. Es ist das Symptom einer Wirtschaft, die ihre Transformationslogik verloren hat – die schrumpft, ohne sich zu erneuern, die automatisiert, ohne produktiver zu werden, die entlässt, ohne neue Beschäftigung zu schaffen. Die demografische Zeitbombe mag sich anders entladen als prognostiziert. Die eigentliche Explosion hat längst begonnen – nur hören wir sie noch nicht.

Ralf Keuper 


Quellen:

Fachkräftemangel ist vorbei: Was Deutschland jetzt erlebt, ist viel schlimmer

Der Mythos vom großen Personalmangel

Kurzfristiger Personalzuwachs kontra langfristiger Stellenabbau: Warum der aktuelle Anstieg bei Banken den jahrzehntelangen Abwärtstrend nicht stoppt

Das Ende der Arbeitsgesellschaft – diesmal wirklich