Von Ralf Keuper
In der Vergangenheit bezog Europa seine Stärke aus seiner dezentralen Gliederung. Kein staatliches Gebilde, kein Königreich war so mächtig, das es allen anderen seinen Willen aufzwingen konnte. Das sorgte für Wettbewerb und Vielfalt [1]Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. Dieser Befund gilt – wenngleich in stark abgeschwächter Form – auch für die heutige Zeit. Zwar vereint die EU eine beachtliche Machtfülle; in der Wirtschaft und in der Politik verfolgen die einzelnen Mitgliedsländer jedoch häufig einen eigenen Kurs. Die Entscheidungsfindung gestaltet sich daher entsprechend schwierig.
Europa in der Daten – und Plattformökonomie nur ein Randakteur
In der Daten- und Plattformökonomie gerät der dezentrale bzw. föderative Ansatz schnell an sein Limit. Nur Unternehmen in Ländern mit einem großen homogenen Heimatmarkt, wie die USA und China, erreichen quasi aus dem Stand die nötigen Netzwerkeffekte, um ihr Geschäftsmodell so schnell und effizient wie möglich zu verbreiten bzw. zu skalieren. Beispielhaft dafür sind facebook, Google, Amazon, Alibaba und Tencent[2]. Deren Erfolg beruht im großen Umfang auf der Verarbeitung und Verwertung der Daten, die auf ihren Plattformen von den Nutzern und Geräten erzeugt werden. Je mehr Daten für Auswertungen zur Verfügung stehen, um so besser können die Services, Produkte und Preise an die Bedürfnisse der Kunden angepasst und Marktveränderungen frühzeitig antizipiert werden. Heute kommen die Nutzer, wenn sie sich im Netz bewegen, kaum noch an den sozialen Netzwerken, Geräten und Betriebssystemen von Google, Apple, Microsoft, Samsung und facebook vorbei. Damit beherrschen die Technologiekonzerne (“Big Tech”) die Kundenschnittstelle, was neben der Medienindustrie und den Banken mittlerweile auch die Automobilindustrie deutlich zu spüren bekommt. Die Unternehmen sind dabei, den direkten Kontakt zu ihren Kunden und damit weite Teile des eigenen Geschäfts zu verlieren; die Plattformen ziehen fast die gesamte Aufmerksamkeit der Kunden auf sich. Der nächste große Markt ist das Internet der Dinge und das B2B-Geschäft (Industrial Consumerism).
Ein Blick auf die Marktkapitalisierung der weltweit größten Plattformen zeigt, wie tief der Graben ist, der Europa von den USA und China trennt.
Europas Antwort
Es ist nicht so, als würden sich die europäischen Staaten und die EU dieser Tatsache nicht bewusst sein. Mit dem Digitalen Binnenmarkt, der vor wenigen Tagen veröffentlichen EU-Datenstrategie und dem Europäischen Konzept zur Künstlichen Intelligenz soll verhindert werden, dass sich im B2B-Bereich wiederholt, was im B2C-Geschäft bereits eingetreten ist. Hinzu kommen zahlreiche Projekte auf nationaler und europäischer Ebene, wobei der Überblick schnell verloren gehen kann. Das bekannteste dürfte wohl GAIA-X sein. Damit soll eine Alternative zu den Cloud-Lösungen von Amazon, Google und Microsoft geschaffen werden, die den Weltmarkt dominieren [2]Die Top 5 Cloud-Anbieter.
An GAIA-X scheiden sich indessen die Geister. In Plattformökonomie – zwischen Abwehr und Wunschdenken kommt die Stiftung Marktwirtschaft zu einer ernüchternden Einschätzung:
An der staatlichen Fähigkeit, zukunftsträchtige Technologien und Projekte zu identifizieren und wirkungsvoll zu fördern, sind mithin große Zweifel angebracht. Dies gilt auch für die derzeit kolportierten Pläne des Bundeswirtschaftsministeriums, mit Gaia-X eine europäische Cloud-Infrastruktur zu schaffen. … Fraglich aber ist, wie groß die unternehmerische Nachfrage nach europäischen Alternativangeboten tatsächlich wäre und ob staatliche Beteiligung beim Aufbau dieser wirklich hilfreich und beschleunigend sein könnte – nicht zuletzt angesichts der Langwierigkeit politischer Entscheidungs- und bürokratischer Umsetzungsprozesse. Zwar wird beteuert, dass Gaia-X kein Konkurrenzangebot zu Amazon oder Google sein soll, allerdings ist insbesondere die organisatorische Ausgestaltung des Projekts noch vage. Wenn es nicht gelingt, im Vergleich zum jetzigen Angebot der etablierten Cloud-Anbieter in Qualität, Funktionalität oder Preis eine Verbesserung zu bewirken, besteht die Gefahr, dass Gaia-X dasselbe Schicksal ereilt, wie die französischen, staatlich geförderten Cloud-Konsortien Cloudwatt und Numergy aus dem Jahr 2012. Diese scheiterten letztlich daran, dass es nicht gelang, ausreichend Nutzer zu gewinnen.
Es ist zu befürchten, dass Europa zu spät dran ist. Die Wirtschaft nimmt die Sache daher an vielen Stellen selber in die Hand, wie Volkswagen mit der Industrial Cloud oder BMW mit der Open Manufacturing Platform. Aus dem Mittelstand kommen ähnliche Initiativen z.B. die German Edge Cloud. Die Landwirte wollen sich mit der “Bauern-Cloud” dem Einfluss von Google & Co. so weit wie möglich entziehen.
Im B2B-Bereich hat sich bislang noch kein Anbieter eine dominante Position erarbeiten können. Hier stehen die Chancen für europäische und deutsche Anbieter nicht schlecht [3]Ein Amazon für Geschäftskunden: Industriekonzerne bauen eigene Plattformen. Zwar sind auch Amazon und Alibaba im B2B-Geschäft aktiv; im komplexen Geschäft mit Industriegütern haben sie bislang noch kein Fuss gefasst. Hier fehlt ihnen (noch) die nötige Expertise bzw. das domänenspezifische Wissen.
Digital Mirrors
Dennoch: Wie der Economist in seinem aktuellen Special Report Data Economy schreibt, drohen Europa und Afrika zu Lieferanten von Rohdaten zu werden. Die weitere Bearbeitung, Analyse und Veredelung erfolgt dann auf den großen US-amerikanischen und asiatischen Plattformen. Eine wichtige Rolle werden die Digitalen Zwillinge von Menschen, Maschinen, Unternehmen und Fabriken übernehmen – sie repräsentieren die neuen Spiegelwelten:
Mirror worlds are not mere mathematical representations of real ones. They also give new meaning to the adage that knowledge is power. Increasingly, digital copies are taking on lives of their own and acting on the physical world. They can be used to optimise everything, from the acoustics of a headset to an entire national railway network. They will enable all sorts of artificial-intelligence algorithms to recognise objects and faces, understand speech an even distinguish smells. And they make possible new business models: why buy heavy equipment if its wear and tear can be measured in detail and it can thus be rented by the minute?
Allzu viel Zeit bleibt Europa nicht mehr. Momentan sieht es danach aus, als würden die großen Konzerne und einige Mittelständler die Sache selber in die Hand nehmen. Der Rest, d.h. die kleinen und mittleren Betriebe müssen darauf hoffen, dass staatliche Initiativen eine Alternative bieten. Die Erfahrung lehrt indes, dass dies in den meisten Fällen ein frommer Wunsch ist.
Zuerst erschienen auf Identity Economy
References