Die Kernthese dieses Essays  lautet, dass die Volkswirtschaftslehre, aber auch Wirtschafts- und politische Systeme im Allgemeinen, aus finanziellen und politischen Interessen und aufgrund kurzfristiger Modetrends ihre eigene Version der Wahrheit kultivieren. Diese hat nicht unbedingt etwas mit der Wirklichkeit zu tun. Niemand Bestimmtes trifft eine Schuld; schließlich glauben die meisten  Menschen das, was sie glauben möchten. Alle Volkswirte, alle Studenten der Wirtschaftswissenschaften und alle Menschen, die sich für ökonomische und politische Fragestellungen interessieren, sollten sich jedoch dessen bewusst sein. Das was mächtigen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Interessen dient oder ihnen zumindest nicht entgegensteht, gilt als die Wahrheit.

Die meisten Wegbereiter dessen, was ich hier >unschuldigen Betrug< nenne,  haben sich nicht absichtlich zu seinen Helfershelfern gemacht. Sie sind sich nicht bewusst, welche Kräfte ihre Anschauungen formen, welche Glaubenssätze sie unterschwellig übernehmen. Auch geht es hier nicht um eindeutige juristische Fragen. Handlungen sind nicht die Folge von Gesetzen, sondern von persönlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Niemand hat ein schlechtes Gewissen, und die meisten fühlen sich im Recht. …

Die herausragenden Leistungen der Menschheitsgeschichte sind künstlerische, literarische, religiöse und wissenschaftliche Werke, und sie entstanden in Gesellschaften, in denen sie sich höchster Wertschätzung erfreuten. Die Kunst von Florenz, das wunderbare bürgerliche Gemeinwesen Venedigs, das Werk William Shakespeares, Richard Wagners und Charles Darwins – sie alle wurden in Gemeinschaften mit einem sehr niedrigen Bruttoinlandsprodukt geschaffen. Zu ihrem Glück waren sie frei von den Zwängen der Verkaufskunst und der Konsumentenmanipulation. Heute kann sich die menschliche Schöpfungskraft nur noch in den geschützten Bereichen der Kultur, Kunst, Erziehung und Wissenschaft in authentischer Weise entfalten, ohne sogleich an ihrem Geldwert gemessen zu werden.

Es geht nicht darum, hehren >Werten an sich< das Wort zu reden. Wir  fördern und schätzen die Künste und Wissenschaften wegen ihres gesellschaftlichen Nutzens, weil sie uns erfreuen, belehren und das Leben erleichtern. Aber den gesellschaftlichen Fortschritt fast ausschließlich am Wert der Güterproduktion, dem BIP-Zuwachs, zu messen, das ist wahrlich kein kleiner Betrug.

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