Wirecard, Finanzkrise, Cum-Ex – immer wieder zeigt sich: Deutsche Wirtschaftsjournalisten erkennen große Skandale und Krisen zu spät. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus struktureller Blindheit. Ein Essay über Herdentrieb, fehlende Praxiserfahrung und den Verlust kritischer Distanz in einer Branche, die Wächter sein sollte, aber oft zum Hofberichterstatter verkommt.
Das Erwachen nach dem Fall
In jeder großen Krise gibt es denselben Moment: das späte Aufwachen. Bei Wirecard war es der Kollaps im Juni 2020, bei der Finanzkrise der Fall von Lehman Brothers. Während internationale Medien längst recherchierten, war in deutschen Redaktionen betretenes Schweigen – oder aggressive Abwehr gegen die Warner.
Die Financial Times deckte Bilanzmanipulationen bei Wirecard auf, deutsche Medien ignorierten oder diskreditierten die Hinweise. Erst als der DAX-Konzern zusammenbrach, brach auch die publizistische Fassade – und wich hektischem Aktionismus, der die Jahre der Untätigkeit übertünchen sollte.
Nähe als Gift
Alfred Herrhausen warnte schon Ende der 1980er Jahre: Medien verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie Deutungen statt Wirklichkeiten verbreiten. Genau das geschieht heute im Wirtschaftsjournalismus systematisch.
Die Nähe zu Unternehmen ersetzt kritische Distanz. Manager werden hofiert, ihre PR-Narrative weitgehend übernommen. Frühwarnzeichen – Bilanzierungsfragen, strukturelle Risiken – werden ignoriert oder verklausuliert. Statt Kontrollinstanz zu sein, agiert der Wirtschaftsjournalismus oft als verlängerte Kommunikationsabteilung.
Die Ausbildungsmisere
Die Wurzeln des Problems liegen auch in der Ausbildung. Angehenden Wirtschaftsjournalisten fehlt die nötige Vielfalt ökonomischer Theorieansätze. Die Ausbildung ist überwiegend neoklassisch ausgerichtet, wirtschaftsliberal geprägt – historische und kritisch-kontextualisierende Inhalte kommen kaum vor. Es mangelt an fundiertem Verständnis ökonomischer Zusammenhänge, an methodischer und fachlicher Tiefe, an Reflexionskompetenz.
Die Folgen zeigen sich in der Praxis: Journalisten können komplexe wirtschaftliche Entwicklungen nicht ausreichend durchdringen oder kritisch aufbereiten. Sie sind auf Aussagen von Unternehmen oder offiziellen Quellen angewiesen und hinterfragen diese selten. Einseitigkeit und Wissenslücken begünstigen die unreflektierte Übernahme von Mainstream-Narrativen und führen zu jener späten, oberflächlichen Krisenberichterstattung, die zum Markenzeichen geworden ist.
Bildungslücke und Herdentrieb
Viele Wirtschaftsjournalisten haben keine praktische Wirtschaftserfahrung. Ihre Ausbildung ist häufig geisteswissenschaftlich geprägt. Ebenso fehlt ihnen der Kontakt zur realen Unternehmenspraxis.
Das führt zu Abhängigkeit von PR-Quellen und zur Reproduktion offizieller Erzählungen. Hinzu kommt der Herdentrieb: Zeitdruck, Sparzwang und Angst vor Abweichung fördern Konformität. Themen werden von der „Herde“ aufgegriffen, nicht hinterfragt.
Gerade weil viele Journalisten auf Sekundärwissen, PR-Quellen und kollektive Deutungsmuster angewiesen sind, droht permanent eine Konsens- statt Realitätsorientierung. Die tagesaktuellen Massenmedien sind ihrer Rolle als kritische Frühwarner wiederholt nicht gerecht geworden.
Das Fehlen unabhängiger Geister
Im Unterschied zu angelsächsischen Ländern fehlen in Deutschland eigenständige, unbequeme Stimmen im Wirtschaftsjournalismus. Stilisten, Rechercheure, Querdenker mit intellektueller Tiefe sind rar. Preise honorieren Anpassung, nicht Unabhängigkeit.
Die Enthüllungen zu Wirecard kamen von einem britischen Journalisten, Dan McCrum – ein Symbol dafür, dass investigative Beharrlichkeit und intellektuelle Unabhängigkeit hierzulande strukturell unterentwickelt sind.
Systemische Blindheit
Die Grenze zwischen Information und Meinung verwischt; Realität wird durch mediale „Unwirklichkeiten“ ersetzt. Die Folge ist ein Journalismus, der Krisen beschreibt, aber nicht versteht – und der seine eigene Rolle selten reflektiert.
Besonders deutlich zeigt sich diese Blindheit heute: Die strukturelle Krise der deutschen Wirtschaft – geprägt von Deindustrialisierung, Energiepreisverzerrungen, Investitionsstau und Innovationsschwäche – wird von den meisten Wirtschaftsmedien massiv unterschätzt.
Statt die tektonischen Verschiebungen in Produktion, Kapitalströmen und Wertschöpfungsketten zu analysieren, dominieren Beschwichtigungen und anekdotische Erfolgsgeschichten. Kritische Berichte über den Verlust industrieller Substanz, über Standortpolitik, Bürokratie oder Kapitalflucht bleiben die Ausnahme.
Der Journalismus spiegelt damit die Selbsttäuschung eines Landes wider, das seine ökonomische Stabilität für selbstverständlich hält – und die Tiefe seiner Krise nicht begreift.
Ein Ausblick: Wie es besser gehen könnte
Ein neuer Wirtschaftsjournalismus müsste sich radikal erneuern:
- Pluraler in der Ausbildung, mit Einblicken in Betriebswirtschaft, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und Technologie.
- Praktischer, durch Pflichtphasen in Unternehmen oder Start-ups, um ökonomische Realität zu erleben.
- Kooperativer, in internationalen Recherchenetzwerken, um Machtmissbrauch global sichtbar zu machen.
- Selbstkritischer, mit offenem Diskurs über eigene Fehler und Abhängigkeiten.
Die deutsche Wirtschaft braucht kritische Journalisten – keine - Hofberichterstatter. Die nächste Krise kommt bestimmt.
Die Frage bleibt: Wer wird diesmal rechtzeitig hinsehen?
Nur wenn Wirtschaftsjournalisten ihre blinden Flecken erkennen und die „Unwirklichkeiten“, die sie produzieren, durch echte Wirklichkeitsvermittlung ersetzen, können sie ihrer demokratischen Verantwortung gerecht werden. Ansonsten bleibt der Berufsstand das, was er zu oft ist: ein Chronist des Scheiterns statt ein Mahner vor der Katastrophe.
Quellen:
Pluralismus-Debatte meets Wirtschaftsjournalismus
Wirtschaftsjournalismus in der Krise
Die Wirtschaftsjournalisten in der Krise. Seher mit blindem Fleck
nr-Werkstatt: Kritischer Wirtschaftsjournalismus. Analysen und Argumente, Tipps und Tricks
Hanno Beck warnt vor Herdenvirus
Wirtschaftsjournalisten – eine aussterbende Spezies?
Wirecard und die Medien: Der Journalist, der alles aufdeckte
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