Die Forderung nach einer Rente ab 70 wird häufig mit dem demografischen Wandel begründet: weniger Erwerbstätige, mehr Rentner, längere Lebenserwartung. Doch diese Annahmen verlieren zunehmend ihre Grundlage. Die Lebenserwartung stagniert, die Arbeitswelt steht durch KI und Globalisierung vor tiefgreifendem Wandel – und ein erheblicher Teil der Bevölkerung erlebt den Ruhestand überhaupt nicht mehr.


Bröckelnde Grundlage: Die Lebenserwartung steigt nicht mehr

Nach Jahrzehnten des Anstiegs zeigt die Statistik inzwischen Stillstand – teilweise sogar Rückschritte. In manchen Regionen und Berufsgruppen sinkt die Lebenserwartung leicht. Besonders betroffen sind Menschen in körperlich anstrengenden oder schlecht bezahlten Berufen.

Hinzu kommt ein alarmierender Befund: Rund 20 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland erreichen das Rentenalter überhaupt nicht. Sie sterben vorher – oft infolge von Arbeitsbelastung, Stress oder gesundheitlicher Benachteiligung. Eine pauschale Rente ab 70 würde diese Ungleichheit weiter verschärfen: Wer hart arbeitet, zahlt jahrzehntelang ein – und hat am Ende kaum oder gar nichts vom Ruhestand.

Der Wandel der Arbeit: KI, Automatisierung und globaler Druck

Während über höhere Renteneintrittsalter diskutiert wird, erlebt der Arbeitsmarkt eine tiefgreifende Transformation. Künstliche Intelligenz und Automatisierung ersetzen zunehmend menschliche Arbeit – nicht nur in der Industrie, sondern auch im Handel und in Dienstleistungsberufen.

Laut aktuellen Studien rechnet etwa ein Drittel der deutschen Industrieunternehmen mit einem signifikanten Stellenabbau in den kommenden fünf Jahren, weil Prozesse automatisiert oder durch KI-Systeme ersetzt werden. Maschinen übernehmen immer mehr Routine- und Analyseaufgaben, während der versprochene Boom neuer, hochwertiger KI-Jobs bislang ausbleibt. Der deutsche Arbeitsmarkt erlebt derzeit eher Stagnation statt Wachstum im Technologiebereich.

Zudem verschärft der internationale Wettbewerb die Lage: Der Konkurrenzdruck aus Asien, insbesondere aus China, führt zu Produktionsverlagerungen, Marktanteilsverlusten und Industrieabbau. Innerhalb eines Jahres gingen in Deutschland über 100.000 Industriearbeitsplätze verloren – mehr als die Hälfte davon im Automobilsektor.

Ein paradoxes Szenario: Arbeitnehmerüberschuss statt Fachkräftemangel

Trotz politischer Rhetorik vom „Fachkräftemangel“ entsteht in vielen Branchen das gegenteilige Bild: ein wachsamer Überschuss an Arbeitskräften. Besonders betroffen sind ältere und geringer qualifizierte Beschäftigte – genau jene, die von einem höheren Renteneintrittsalter am härtesten getroffen würden.

Wenn Unternehmen gleichzeitig automatisieren, auslagern und Personal abbauen, während Arbeitnehmer bis 70 arbeiten sollen, entsteht ein gefährlicher Widerspruch. Für viele bedeutet das nicht längeres Arbeiten, sondern längeres Bangen – zwischen Arbeitslosigkeit, Krankheit und vorzeitiger Rente mit hohen Abschlägen.

Zukunftsfähige Reformen: flexibel, sozial und technologisch realistisch

Eine zukunftsorientierte Rentenpolitik muss den technologischen und globalen Strukturwandel aktiv mitdenken. Statt starrer Altersgrenzen braucht es flexible Übergänge, Sonderregelungen für langjährig Versicherte und körperlich belastende Berufe sowie Qualifizierungs- und Auffangprogramme für Beschäftigte, deren Tätigkeiten durch KI und Automatisierung verschwinden.

Auch die Finanzierungsgrundlagen der Rentenversicherung sollten breiter aufgestellt werden – etwa durch stärkere Steuerzuschüsse, die Einbeziehung zusätzlicher Einkommensarten und eine gerechtere Verteilung der Produktivitätsgewinne, die durch Automatisierung entstehen.

Fazit: Rente ab 70 – Symbol einer Politik ohne Wirklichkeitsbezug

Die Idee einer Rente ab 70 mag auf dem Papier logisch erscheinen, doch sie steht im Widerspruch zu den sozialen und technologischen Realitäten unserer Zeit. Wenn fast jeder fünfte Arbeitnehmer das Rentenalter gar nicht erreicht, wenn Arbeitsplätze verschwinden und neue Risiken entstehen, dann ist das Festhalten an dieser Zahl kein Zeichen ökonomischer Vernunft – sondern sozialer Blindheit.

Eine moderne Rentenpolitik darf nicht länger auf statistische Durchschnittswerte bauen, sondern muss die realen Lebensläufe, Belastungen und Chancen der Menschen berücksichtigen. Die Zukunft der Arbeit wird durch KI, Automatisierung und globalen Wettbewerb geprägt – und wer das ignoriert, reformiert an der Wirklichkeit vorbei.

Die Rente ab 70 ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in ein Denken, das Menschen als Rechengrößen behandelt. Eine gerechte Zukunft verlangt mehr: soziale Intelligenz – und politische Weitsicht.


Quellen:

Die Rente mit 73 ist nur noch eine Frage der Zeit

Rentenalter hoch? Diese Argumente sprechen dagegen

Bricht Merz-Regierung das Renten-Versprechen? „Kürzung für alle, die sich kaputt geschuftet haben“

Rente erst ab 70? Altersgrenzen, Alterserwerbstätigkeit

Fit bis 67? Wie der Job ältere Beschäftigte krank macht

Rente: Warum viele Ältere vorzeitig in den Ruhestand wechseln wollen

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Lebenserwartung in Deutschland fällt erstmals unter EU-Durchschnitt

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