Spätestens seit den 1980er Jahren existiert die Vision einer Organisation, die in der Lage ist, sich weitestgehend ohne Hierarchie selbst zu steuern. Konzepte wie das Computer Integrated Manufacturing (CIM) traten mit dem Anspruch an, die Fabriken vollständig zu automatisieren. Allein, es wurde nichts daraus. Hans-Jürgen Warnecke, schrieb dazu in seinem Buch Die Fraktale Fabrik. Revolution der Unternehmenskultur:

Das zugrunde liegende deterministische Weltbild mit bekannten oder bei entsprechendem Forschungsaufwand erkennbaren Zusammenhängen zwischen Ursache und Wirkung ist nicht ausreichend, da es nur für abgegrenzte Teilbereiche der Realität gilt[1].

Demgegenüber empfahl Warnecke, die Realität zu akzeptieren, d.h. die Nicht-Linearität der Abläufe in Wirtschaft und Gesellschaft, deren Einfluss sich kein Unternehmen und keine Fabrik entziehen kann, anzuerkennen. Anders lassen sich die Herausforderungen der Zukunft nicht bewältigen:

Wir befinden uns in einer Revolution. Die bisherigen Formen der Leistungserstellung haben einen sehr hohen Reifegrad erreicht. Sie sind somit in einem Zustand, wo auch mit noch so hohem Aufwand nur noch ein gegen Null gehender Grenznutzen zu erreichen ist.

Das war im Jahr 1992. Heute, so August-Wilhelm Scheer in seinem neuen Buch Composable Enterprise: agil, flexibel, innovativ, stehen uns mit dem Cloud-/Edge-Computing und ML/Deep Learning zumindest die technischen Mittel zur Verfügung, um die Vision Realität werden zu lassen. Scheer orientiert sich dabei an der Definition der Analystenorganisation Gartner:

A composable enterprise is an organization that can innovate and adapt to changing business needs through the assembly and combination of packaged business capabilities[1]Auf den Seiten der Scheer Group heißt es: „Composable enterprise refers to an organization that is built on a flexible and modular architecture that enables it to quickly adapt to changing … Continue reading.

Zur Verwirklichung der wesentlichen Eigenschaften des Composable Enterprise tragen vorwiegend seine Informationssysteme bei. Jedoch nutzt ein neues Informationssystem nur wenig, wenn es nicht zur Organisationsstruktur passt. Am besten geeignet ist laut Scheer das aus Fraktalen bestehende Netzwerkmodell. Der Bezug zum Modell der Fraktalen Fabrik von Warnecke ist offensichtlich:

Dieses Prinzip der Selbstähnlichkeit wurde von Warnecke bereits 1992 in seinem Buch „Die fraktale Fabrik“ herausgestellt und wird in dieser Arbeit häufig angewendet.

Die Transformation zum Composable Enterprise ist indes alles andere als trivial; sie benötigt mehrere Jahre, wie Scheer zu bedenken gibt:

Trotzdem kann in neu eingeführten organisatorischen Prozesseinheiten oder in besonders dringend nach mehr Flexibilität verlangenden Bereichen sofort begonnen werden. Hier ist dann die Integrationsmöglichkeit zu bestehenden Altsystemen der Shared Services[2]gemeint sind damit zentrale Dienste, wie Personal, Rechnungswesen und Einkauf über die Plattform[3]gemeint: Application Composition Platform besonders wichtig[4]Vgl. dazu: Was für Composable-Architekturen spricht.

Scheer empfiehlt ein abgestuftes Vorgehen.

Das Composable Enterprise kann in zwei Richtungen an diesen Entwicklungen[5]die Entwicklung zu Plattformunternehmen bzw. zur Plattformökonomie in zwei Richtungen teilnehmen. Als bereits bestehendes Unternehmen kann es ein zweites digitales Businessmodell aufbauen und mit diesem schrittweise das traditionelle Modell ablösen[6]Vgl. dazu: Ambidextrous Organizations. Als Startup-Unternehmen kann es zunächst in einer kleinen Marktnische beginnen und das Businessmodell schrittweise auf weitere Marktsegmente ausweiten. In beiden Fällen bietet die Fähigkeit der Application Composition Platform, Lösungen schnell zu entwickeln sowie diese einfach zu ergänzen und zu integrieren, günstige Voraussetzungen.

Die Industrie 4.0 ist für Scheer ein wichtiger Schritt in Richtung eines Industrial Composable Enterprise.

Deshalb wird das Konzept Industrie 4.0 auf alle Funktionen eines Industriebetriebs erweitert und um die Application Composition Platform ergänzt.

Durch die Application Composition Platform werden die wichtigen Funktionen der Prozessautomatisierung, der Low-Code-Entwicklung und des Lifecycle-Managemenst berücksichtigt. Davon profitiert laut Scheer vor allem die Produktentwicklung, die in der Industrie 4.0 bislang zu kurz kommt. Hier dominiere noch die Sicht der Fertigungstechnik. Die mehr kaufmännischen Funktionen einschließlich der Logistik würden pauschal unter ERP subsumiert und als Black Box betrachtet.

Es ist aber gerade die Produktentwicklung, die Grunddaten wie die Fertigungsstückliste sowohl Arbeitspläne erzeugt, die sowohl für die Fertigung als auch für die Planung und Steuerung der Logistik benötigt werden. Sie werden deshalb auch häufig von ERP-Systemen übernommen und verwaltet.

Zum Schluss stellt Scheer die Vorgehensweise zur Einführung eines composable Indudstrieunternehmen vor:

  • Strategie 1: Blue Ocean-Strategie: Organisatorische Veränderungen durch Dezentralisierung, Plattform, Software, Cloud, Edge
  • Strategie 2: Lösung herkömmlicher Probleme mit I4.0-Technologien
  • Strategie 3: Isolierte Musterlösungen in der Fertigung
  • Strategie 4: PLM und Open Innovation
  • Strategie 5: Logistik
  • Strategie 6: Anbieten von I4.0-Beratungsleistungen
  • Strategie 7: Produktbezogene Dienstleistungen
  • Strategie 8: Build-Own-Operate (BOO)

Schlussbetrachtung

Die technischen Voraussetzungen zur Verwirklichung selbststeuernder Organisationen sind mittlerweile weitestgehend gegeben. Unternehmen sind jedoch auch sozio-technische Systeme, die häufig auf informellen Strukturen ebenso wie auf Hierarchien beruhen[7]Vgl. dazu: „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ von Niklas Luhmann. Beide haben ein vitales Interesse an ihrem Fortbestehen. Dies muss nicht bedeuten, dass selbststeuernde Unternehmen eine Utopie bleiben. Allerdings gilt es die Komplexitätsfalle der Hochautomatisierung bzw. des Overengineering zu vermeiden[8]Vgl. dazu: Sackgasse Hochautomatisierung? Praxis des Abbaus von Overengineering in der Produktion

In ihrer Studie Wachstum durch Verzicht. Schneller Wandel zur Weltklasse: Vorbild Elektronikindustrie gelangten Jürgen Kluge et al. zu der Feststellung:

Erfolgreiche Unternehmen, das beweisen auch die Untersuchungen in der Elektroindustrie, vermeiden ein Ausweichen in die vermeintlich attraktiven und renditeträchtigen, aber stark zersplitterten High-End-Nischen. Sie wissen, dass sie damit eine Abwärtsspirale mit schwindendem Volumen und steigenden Kosten in Gang setzen. Sie besetzen oder schaffen neue Volumenmärkte. Dabei verringern sie ihre Produktkomplexität, sie verzichten auf “individualisierte” Produkte, sie lenken ihre Ressourcen gezielt auf wenige Produkte und Geschäfte. Sie erhöhen so ihre Innovation und Produktivität. Ohne den überschweren “Rucksack” der Komplexität können sie eine viel größere Dynamik und Schnelligkeit an den Tag legen[9]Wachstum durch Verzicht. Schneller Wandel zur Weltklasse: Vorbild Elektronikindustrie.

Oder um mit Niklas Luhmann zu sprechen[10]Organisation und Entscheidung:

Jede feste und deshalb störempfindliche Kopplung basaler Technologien und jede sich darauf stützende hierarchische Konzentration und Kontrolle muss daher in ein System eingebettet sein, das auf anderen, robusteren Bedingungen der Reproduktion beruht. Technik funktioniert, soweit sie funktioniert, zuverlässig, aber Zuverlässigkeit darf nicht mit Robustheit verwechselt werden. … Organisationen, die Arbeitsvollzüge technisieren, werden demnach immer feste Kopplungen und lose Kopplungen nebeneinander und im Verbund miteinander vorsehen müssen.

Auf der anderen Seite steht das Konzept der fokussierten Fabrik[11]The Focused Factory, das 1974 von Wickham Skinner vorgestellt wurde.

Seiner Ansicht nach versuchte die konventionelle Fabrik zu viele widersprüchliche Produktionsaufgaben im Rahmen einer inkonsistenten Produktionspolitik zu erledigen. Im Ergebnis führte das dazu, dass das Werk wahrscheinlich nicht wettbewerbsfähig war, weil seine Strategien nicht auf die eine zentrale Fertigungsaufgabe ausgerichtet waren, die für eine erfolgreiche Konkurrenzfähigkeit in seiner Branche unerlässlich ist. In The Focused Factory erörterte Skinner das Konzept der fokussierten Fertigung als Möglichkeit, die Kompromisse zwischen den einzelnen Elementen des Produktionssystems zu beenden und auf Wettbewerbsstärke aufzubauen.

Aus seinen Forschungsergebnissen gehe klar hervor, dass die fokussierte Fabrik mehr produzieren und weniger verkaufen wird als die komplexe Fabrik und schnell einen Wettbewerbsvorteil erlangen wird. Die fokussierte Fabrik leistet bessere Arbeit, weil die Wiederholung und Konzentration auf einen Bereich es der Belegschaft und den Managern ermöglicht, effektiv und erfahren in den für den Erfolg erforderlichen Aufgaben zu werden. Die fokussierte Fabrik ist überschaubar und kontrollierbar. Ihre Probleme sind anspruchsvoll, aber in ihrem Umfang begrenzt.

Mittlerweile jedoch, u.a. durch die Verbreitung des 3D-Drucks besteht die Möglichkeit, kleine fokussierte Fabriken, sog. Mikrofabriken[12]„Eine Mikrofabrik kann sich auch auf eine Fabrik beziehen, die für eine flexible Kleinserienproduktion ausgelegt ist und eine Vielzahl von Produkten herstellen kann, im Gegensatz zu einer … Continue reading[13]Ein weiterer spannender Ansatz ist die Kombination von Nanotechnologie und Metrologie: Nanomanufacturing and Metrology zu errichten, wie beim britischen Hersteller von Elektrofahrzeugen Arrival:

Eine Mikrofabrik von Arrival kann in einem Standardlager mit einer Fläche von 200.000 Quadratfuß errichtet werden. Sie kann innerhalb weniger Monate in Betrieb genommen werden und kostet im Gegensatz zu den exorbitanten Kapitalkosten von Gigafabriken nur 38 Millionen Pfund. Für Mike Abelson, CEO von Arrival, wird dies der Schlüssel zum Erfolg des Unternehmens sein und eine größere Flexibilität bei der Reaktion auf Marktveränderungen bedeuten. Mit einer solch enormen Senkung der Kapitalkosten und der Fähigkeit, schnell zu arbeiten, müssen diejenigen, die den Ansatz der Mikrofabriken verfolgen, nicht Jahre im Voraus planen[14]Manufacturing with a smaller footprint: Automation & the rise of the microfactory[15]Das alleine reicht anscheinend nicht aus: „Im Oktober 2022 kündigte das Unternehmen den Abbau von Arbeitsplätzen im Zuge der Verlagerung seiner Transporterproduktion von Bicester in die USA … Continue reading.

Mikrofabriken benötigen neue Transportkonzepte und Maschinenarchitekturen, wie XTS (Multi-Mover-System für inverse Linearbewegungen) und XPlanar (Planarantriebssystem) von Beckhoff. Mit letzterem ist laut Hans Beckhoff der Übergang von einem linearen zu einem nicht-linearen Ansatz für die Materialhandhabung möglich – die vielleicht bedeutendste Veränderung in der Massenproduktion seit Henry Ford[16]Automation World Exclusive Interview with Beckhoff.

An dieser Stelle kommt das Industrial Composable Enterprise ins Spiel. Der technische Reifegrad ist jedenfalls gegeben.

Scheer, u.a. der Erfinder von ARIS und Autor wegweisender Bücher der Wirtschaftsinformatik, gelingt es auf eindrucksvolle Weise, das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen der System- bzw. Plattformarchitektur des Composable Enterprise zu veranschaulichen.

References

References
1 Auf den Seiten der Scheer Group heißt es: „Composable enterprise refers to an organization that is built on a flexible and modular architecture that enables it to quickly adapt to changing business requirements. Application Composition Platforms are often used to enable companies to become more composable by rapidly creating custom applications that can be integrated with other systems and processes“.
2 gemeint sind damit zentrale Dienste, wie Personal, Rechnungswesen und Einkauf
3 gemeint: Application Composition Platform
4 Vgl. dazu: Was für Composable-Architekturen spricht
5 die Entwicklung zu Plattformunternehmen bzw. zur Plattformökonomie
6 Vgl. dazu: Ambidextrous Organizations
7 Vgl. dazu: „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ von Niklas Luhmann
8 Vgl. dazu: Sackgasse Hochautomatisierung? Praxis des Abbaus von Overengineering in der Produktion
9 Wachstum durch Verzicht. Schneller Wandel zur Weltklasse: Vorbild Elektronikindustrie
10 Organisation und Entscheidung
11 The Focused Factory
12 „Eine Mikrofabrik kann sich auch auf eine Fabrik beziehen, die für eine flexible Kleinserienproduktion ausgelegt ist und eine Vielzahl von Produkten herstellen kann, im Gegensatz zu einer einzigen monolithischen Massenproduktion. Die Fertigungsprozesse von Mikrofabriken nutzen in der Regel digitale Fertigungstechnologien wie 3D-Druck und CNC-Maschinen, um dies zu erreichen. Local Motors unterhielt beispielsweise Mikrofabriken in Phoenix, Arizona, und Knoxville, Tennessee. Das Unternehmen baute in seinen Mikrofabriken Produkte wie den Rally Fighter Prerunner Sportwagen“, in: Wikipedia
13 Ein weiterer spannender Ansatz ist die Kombination von Nanotechnologie und Metrologie: Nanomanufacturing and Metrology
14 Manufacturing with a smaller footprint: Automation & the rise of the microfactory
15 Das alleine reicht anscheinend nicht aus: „Im Oktober 2022 kündigte das Unternehmen den Abbau von Arbeitsplätzen im Zuge der Verlagerung seiner Transporterproduktion von Bicester in die USA an. Außerdem kündigte es eine Umstrukturierung seines Geschäfts an, um sich auf den US-Markt zu konzentrieren und die Anreize des Inflation Reduction Act von 2022 zu nutzen. Im Januar 2023 reduzierte es die verbleibende britische Belegschaft um die Hälfte auf 800 Mitarbeiter, um sich auf die USA zu konzentrieren und von den Subventionen für grüne Energie zu profitieren.[18] Das Unternehmen ernannte außerdem Igor Torgov zu seinem CEO. Arrival arbeitet derzeit an einem Fusionsprozess mit Kensington Capital Acquisition Corp., der für Anfang 2023 angekündigt wurde“, in: Wikipedia
16 Automation World Exclusive Interview with Beckhoff