Zwei Revolutionen, dasselbe Muster: Deutsche Ingenieure erfanden das Automobil, doch Ford, GM und später Opel machten es zum Massenprodukt. Ein Jahrhundert später entwickelten deutsche Hersteller die Elektromobilität – und wieder eroberten andere den Weltmarkt. Doch diesmal ist die Lage dramatisch schlechter: Gigantische Altlasten, Software-Rückstand, ein Ingenieur-Mindset aus dem Industriezeitalter und die Illusion, ins Premiumsegment flüchten zu können. Die Geschichte wiederholt sich – aber diesmal gibt es keinen Weg zurück an die Spitze.


Déjà-vu auf vier Rädern

Die Geschichte scheint sich mit irritierender Präzision zu wiederholen. Im späten 19. Jahrhundert revolutionierten Carl Benz und Gottlieb Daimler die Mobilität mit der Erfindung des Automobils. Sie bauten geniale Maschinen, schufen technische Meisterwerke – und blieben doch Manufakturproduzenten für eine wohlhabende Elite. Dann kam Henry Ford. Mit seiner Fließbandfertigung machte er das Auto zum erschwinglichen Massenartikel. In Deutschland war es Adam Opel, der mit der Lizenzproduktion amerikanischer Konzepte und später eigener Massenfertigung das Automobil demokratisierte. Die Erfinder wurden von den Industrialisierern überholt.

Fast genau einhundert Jahre später wiederholt sich dieses Muster bei der Elektromobilität – mit erschreckender Konsequenz. Wieder sind es deutsche Ingenieure, die die Grundlagen legen. Wieder entstehen technisch brillante Prototypen und Pionierlösungen. Und wieder sind es ausländische Hersteller – diesmal Tesla und chinesische Konzerne wie BYD –, die daraus ein Massenprodukt formen und den Weltmarkt erobern. Deutschland steht erneut als staunender Erfinder da, während andere die Früchte ernten.

Akt eins: Der elektrische Pionier

Die Parallele beginnt bereits in der Frühzeit des Automobils. Während Benz und Daimler am Verbrennungsmotor feilten, arbeitete Ferdinand Porsche an einer gänzlich anderen Vision. 1900 präsentierte er auf der Pariser Weltausstellung den Lohner-Porsche – ein Elektrofahrzeug mit Radnabenmotoren, das seiner Zeit technologisch weit voraus war. Allradantrieb, Energierückgewinnung, modularer Aufbau: Konzepte, die heute als Zukunftstechnologien gelten, waren bereits vor 125 Jahren in Deutschland erdacht.

Doch wie Benz‘ erste Patentmotorwagen blieb auch Porsches Elektrovision ein teures Nischenprodukt. Bleiakkumulatoren erlaubten nur 50 Kilometer Reichweite, die Kosten waren prohibitiv. Während der Verbrennungsmotor dank amerikanischer Massenproduktion die Welt eroberte, verschwand das Elektroauto in der Bedeutungslosigkeit. Das technische Können war da – die industrielle Konsequenz fehlte.

Akt zwei: Die verpasste Chance der Nachkriegszeit

Die zweite Welle der Elektromobilität rollte in den 1970er Jahren heran, ausgelöst durch Ölkrisen und wachsendes Umweltbewusstsein. Volkswagen begann 1973 mit systematischen Tests und baute 1976 einen elektrischen Golf. Mercedes präsentierte 1990 einen elektrifizierten 190er mit modernster Technik. Parallel dazu entwickelte VARTA in Hagen, seit 1887 führender Batteriehersteller Europas, die energetischen Herzstücke dieser Fahrzeuge. Von U-Boot-Batterien bis zu Traktionsakkus – die technologische Kompetenz war vorhanden.

Zwischen 1992 und 1996 lief auf Rügen ein vom Bund mit 60 Millionen D-Mark geförderter Großversuch: 60 Elektrofahrzeuge verschiedener Hersteller, Ladeinfrastruktur mit Solarenergie, Alltagstests im realen Betrieb. Es war ein ambitioniertes Projekt, das die Machbarkeit beweisen sollte. Und tatsächlich funktionierte die Technik – VWs CityStromer bot 50 bis 90 Kilometer Reichweite, Mercedes integrierte Rekuperation, die Bedienkonzepte waren serienreif.

Doch wie schon bei Benz und Porsche fehlte der entscheidende Schritt: die radikale Industrialisierung. Die Projekte blieben Piloten, die Stückzahlen klein, die Preise hoch. Man testete und optimierte, während anderswo bereits die Weichen für die Massenfertigung gestellt wurden.

Akt drei: Tesla spielt die Rolle von Ford

Als Tesla 2008 den Roadster präsentierte und später mit dem Model S und Model 3 den Massenmarkt angriff, geschah exakt das, was Henry Ford ein Jahrhundert zuvor mit dem Model T vorgemacht hatte: radikale Vereinfachung, massive Skalierung, aggressive Preispolitik. Elon Musk übernahm Fords Strategie und kombinierte sie mit moderner Lithium-Ionen-Technologie und vertikaler Integration. Das Ergebnis war kein besseres Auto – es war ein erschwinglicheres, marktfähiges Produkt.

Parallel dazu perfektionierten chinesische Hersteller wie BYD diese Strategie noch weiter: staatliche Förderung, gigantische Produktionskapazitäten, gnadenlose Kostenoptimierung. Sie kopierten nicht Teslas Autos, sondern Fords Methode. Während deutsche Hersteller noch an der Optimierung ihrer Verbrennertechnologie festhielten und E-Mobilität als Ergänzungsprogramm betrachteten, bauten Tesla und China ein neues Imperium.

Das Muster der Zurückhaltung

Warum wiederholt sich dieses Muster? Die Antwort liegt in der deutschen Ingenieurskultur selbst. Deutsche Hersteller perfektionieren, testen, verfeinern – bis das Produkt technisch makellos ist. Das schafft Qualität, aber auch Zögerlichkeit. Ford und später Sloan bei General Motors – und heute Musk und die chinesischen Konzerne – handelten anders: Sie brachten gute, aber nicht perfekte Produkte auf den Markt und verbesserten sie während der Massenfertigung.

Hinzu kommt die Pfadabhängigkeit: Wer Jahrzehnte mit Verbrennungsmotoren erfolgreich war, scheut die Kannibalisierung des eigenen Geschäfts. Die deutschen Hersteller verdienten zu gut mit ihren Premiummodellen, um das Risiko einer radikalen Transformation einzugehen. So wie Benz und Daimler an der Manufakturproduktion festhielten, während Ford die Welt veränderte, hielten VW, Mercedes und BMW an ihrer bewährten Strategie fest – zu lange.

Die doppelte Niederlage

Deutschland hat damit zweimal die Automobilrevolution ausgelöst und zweimal den Massenmarkt anderen überlassen. Beim Verbrennungsmotor waren es Ford und Opel, die das Auto demokratisierten. Bei der Elektromobilität sind es Tesla und chinesische Hersteller, die aus deutscher Pionierarbeit ein Weltwirtschaftsgut formen. Von Porsches Radnabenmotor über VARTAs Batterien bis zu den systematischen Feldtests der 1990er Jahre war alles vorhanden: Wissen, Technik, Infrastruktur.

Was fehlte, war der Mut zur Disruption. Die Bereitschaft, das eigene Geschäftsmodell zu opfern für eine neue Vision. Der Wille, nicht nur zu erfinden, sondern zu industrialisieren – radikal, schnell, kompromisslos.

Der entscheidende Unterschied: Diesmal sind die Fesseln viel enger

Doch bei aller Ähnlichkeit gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen damals und heute – und er macht die Lage der deutschen Industrie dramatisch prekärer. Als Ford und Opel die Massenfertigung des Automobils starteten, betraten sie weitgehend Neuland. Es gab kaum Altlasten. Opel konnte seine Produktion von Nähmaschinen und Fahrrädern relativ flexibel auf Automobile umstellen. Ford baute seine Fabriken von Grund auf neu. Die Investitionen waren überschaubar, die Strukturen schlank, die Pfadabhängigkeiten minimal.

Die deutsche Automobilindustrie von heute steht in einer völlig anderen Situation. Sie verfügt über gigantische Motorenwerke, hochspezialisierte Getriebefabriken, ein globales Zulieferernetzwerk für Verbrennertechnologie, Millionen Quadratmeter Produktionsfläche und Hunderttausende Arbeitsplätze, die an der alten Technologie hängen. Die sunk costs sind astronomisch. Jede Fabrik, jede Maschine, jedes Entwicklungszentrum für Verbrennungsmotoren repräsentiert Kapital, das abgeschrieben werden muss. Jeder Arbeitsplatz in der Motorenfertigung ist ein politischer Faktor.

Tesla und die chinesischen Hersteller hatten dieses Problem nicht. Sie bauten ihre Fabriken von Anfang an für Elektroantriebe. Keine Remanenz alter Produktionslinien, keine Belegschaften, die umgeschult werden müssen, keine Zulieferer, die um ihre Existenz bangen. Sie konnten die optimale Lösung bauen, während deutsche Hersteller versuchen müssen, einen Supertanker auf hoher See umzubauen.

Die Pfadabhängigkeit ist heute ungleich stärker als in der Frühzeit des Automobils. Damals bedeutete der Umstieg auf Massenfertigung vor allem Wachstum und Expansion. Heute bedeutet der Umstieg auf Elektromobilität schmerzhafte Schrumpfung in ganzen Industriezweigen, Werksschließungen, soziale Verwerfungen. Ein Elektromotor hat 90 Prozent weniger Teile als ein Verbrennungsmotor – das ist nicht nur ein technischer, sondern ein volkswirtschaftlicher Paradigmenwechsel.

Die dritte Dimension: Software schlägt Mechanik

Doch damit nicht genug. Die heutige Transformation ist noch fundamentaler als der bloße Wechsel des Antriebssystems. Das moderne Elektroauto ist kein fahrendes Fahrzeug mehr, sondern ein Computer auf Rädern. Software, digitale Plattformen, Over-the-Air-Updates, künstliche Intelligenz, Flottenvernetzung – hier liegt die eigentliche Revolution. Und hier offenbart sich eine Schwäche, die tiefer reicht als fehlende Fabriken oder falsche Investitionen: das deutsche Ingenieur-Mindset selbst.

Deutsche Automobilhersteller denken in Bauteilen, Toleranzen und Materialwissenschaft. Sie perfektionieren Türscharniere, optimieren Spaltmaße, testen Millionen Kilometer. Diese Kultur schuf die besten Verbrennungsmotoren der Welt – aber sie ist für die Softwarewelt ungeeignet. Software verlangt Iteration statt Perfektion, agile Entwicklung statt Wasserfallplanung, schnelle Releases statt jahrelanger Produktzyklen. Tesla bringt wöchentlich Updates, deutsche Hersteller brauchen Jahre für eine neue Infotainment-Generation.

Der Rückstand bei Software und digitalen Plattformen wiegt schwerer als jeder Vorsprung in traditioneller Ingenieurskunst. Während deutsche Hersteller noch darüber diskutieren, welche IT-Architektur die stabilste ist, haben Tesla und chinesische Konzerne längst eigene Betriebssysteme entwickelt, Ökosysteme aufgebaut und Nutzerdaten gesammelt. BYD und Tesla denken wie Apple und Google – deutsche Hersteller denken wie Bosch und Siemens.

Diese kulturelle Kluft lässt sich nicht durch Investitionen überwinden. Man kann Software-Ingenieure einkaufen, aber nicht das Mindset einer ganzen Organisation ändern. Hierarchien, die für die Optimierung komplexer Mechanik funktionierten, ersticken die Agilität, die Software-Entwicklung braucht. Das Qualitätsdenken, das deutsche Autos zur Referenz machte, wird zum Hemmschuh, wenn Geschwindigkeit über Perfektion entscheidet.

Hinzu kommt: Während beim Übergang vom Handwerk zur Massenfertigung deutsche Hersteller noch aufholen konnten, weil es letztlich um industrielle Prozesse ging – etwas, das Deutschland traditionell beherrscht –, ist der Sprung zur Software-dominierten Mobilität ein kultureller Bruch. Es geht nicht mehr um besseres Engineering, sondern um anderes Engineering. Um Denkweisen, die der deutschen Industrietradition fremd sind.

Die Illusion der Premiumflucht

Angesichts dieser mehrfachen Überforderung flüchten sich viele in eine vertraute Strategie: den Rückzug ins Premiumsegment. Die Argumentation klingt plausibel: Wenn China den Massenmarkt mit billigen E-Autos überschwemmt, konzentriert sich Deutschland eben auf das, was es immer auszeichnete – Luxus, Qualität, Premiummarken. Mercedes, BMW und Audi gegen BYD und Tesla – David gegen Goliath, aber mit deutscher Ingenieurskunst bewaffnet.

Doch diese Hoffnung ist trügerisch. Das Premiumsegment war in der Verbrenner-Ära ein Refugium, weil technische Komplexität einen echten Mehrwert schuf. Ein V12-Motor, ein Achtgang-Automatikgetriebe, aufwendige Fahrwerksabstimmung – diese Dinge kosteten Entwicklungszeit, Know-how und Präzisionsfertigung. Sie schufen eine objektive Differenzierung, die den Preisaufschlag rechtfertigte.

Im Elektrozeitalter kollabiert diese Logik. Ein Elektromotor ist simpel – ob von BYD oder Mercedes, die Leistungsdaten ähneln sich. Die Batterie kommt oft vom selben Zulieferer. Die Software? Tesla und chinesische Hersteller sind hier überlegen, nicht unterlegen. Was bleibt als Differenzierung? Ledersitze, Ambientebeleuchtung, Markenprestige? Das sind Attribute, die in einer Software-definierten Mobilität zunehmend irrelevant werden.

Schlimmer noch: Gerade die junge, technikaffine Käuferschicht – die früher zu BMW oder Audi griff – wählt heute Tesla oder Polestar. Nicht trotz, sondern wegen der Software-Features, der Updates, der Integration ins digitale Ökosystem. Status definiert sich nicht mehr über Hubraum und Zylinderanzahl, sondern über Autopilot-Funktionen und Beschleunigung per Update. Deutsche Premiumhersteller verkaufen noch das Versprechen von gestern an die Käufer von vorgestern.

Und selbst wenn das Premiumsegment noch eine Weile trägt – es ist zu klein, um die riesigen Entwicklungskosten, die enormen Fabriken und die Hunderttausenden Arbeitsplätze zu rechtfertigen. Porsche kann als Nischenanbieter überleben. Volkswagen, mit Millionen verkauften Fahrzeugen pro Jahr, kann das nicht. Die Flucht ins Premium ist keine Strategie, sondern ein kontrollierten Rückzug – mit ungewissem Ausgang.

Die Lehre aus zwei Jahrhunderten – und eine düstere Prognose

Die Geschichte der deutschen Automobilindustrie ist die Geschichte brillanter Innovationen und verpasster Chancen. Sie zeigt: Wer zuerst kommt, mahlt nicht automatisch zuerst. Entscheidend ist nicht die Erfindung, sondern die Umsetzung. Nicht das Patent, sondern die Produktionslinie. Nicht der Prototyp, sondern der Massenmarkt.

Zweimal hat Deutschland die technologischen Grundlagen für eine Mobilitätsrevolution gelegt. Zweimal haben andere daraus ein Weltgeschäft gemacht. Doch diesmal sind die Aussichten auf ein Comeback deutlich düsterer. Beim ersten Mal konnte Deutschland aufholen – Opel wurde zum Massenproduzenten, die deutsche Industrie holte Ford und GM ein und überholte sie sogar in puncto Qualität und Innovation.

Diesmal ist die Ausgangslage ungleich schwieriger. Die deutschen Hersteller müssen nicht nur eine neue Technologie beherrschen, sondern gleichzeitig eine alte, profitable abwickeln. Sie müssen gegen Konkurrenten antreten, die ohne diese Bürde operieren. Sie müssen politische, soziale und ökonomische Rücksichten nehmen, während Tesla und BYD einfach bauen können.

Die Frage ist nicht mehr, ob sich Geschichte wiederholen kann. Die Frage ist: Kann man aus einem rollenden Zug springen und gleichzeitig einen neuen besteigen – während andere bereits mit Höchstgeschwindigkeit davonfahren? Die Geschichte wiederholt sich. Aber diesmal mit höherem Einsatz, größeren Hindernissen und womöglich endgültigen Konsequenzen.


Quellen:

Warum haben deutsche Automobilhersteller den Sprung verpasst?

Die Jagd auf Tesla: Warum deutsche Autohersteller scheitern

BYD überholt Tesla: China dominiert den Elektroauto-Markt

Warum deutsche Autobauer in China so schwächeln

Lohner-Porsche

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