Goethe und Thomas Mann werden seit Jahrzehnten im deutschen Kulturbetrieb zu Tode verwertet. Immer neue Biografien, immer weitere Deutungen, immer abseitigere Nischenaspekte – doch was bleibt von der künstlerischen Substanz, wenn die Heroen nur noch als Rohstoff für fremde Karrieren dienen? Ein Essay über die schamlose Kapitalisierung großer Talente durch Menschen, die nicht annähernd deren künstlerisches Format besitzen.
Der selbstnährende Wirtschaftszweig
Es gibt im deutschen Literaturbetrieb ein merkwürdiges Phänomen: Die großen Namen hören niemals auf, produktiv zu sein. Goethe, Thomas Mann, Schiller – sie alle arbeiten noch immer, Jahrzehnte nach ihrem Tod, und zwar für andere. Jedes Jahr erscheinen neue Bücher über sie, neue Biografien, neue Perspektiven auf ihr Liebesleben, ihre Reisegewohnheiten, ihre Freundschaften, ihre Lektüre. Der Markt scheint unersättlich, die Aura unerschöpflich.
Doch wer profitiert von dieser Dauerverwertung? Wer liest diese Bücher, wer schreibt sie, und vor allem: Wer verdient daran?
Die Hauptzielgruppe bilden literarisch und kulturhistorisch Interessierte – Akademiker, Lehrende, Studierende und ein feuilletonistisches Publikum, das an Anekdoten und psychologischen Details bekannter Autoren interessiert ist. Sammler und Bewunderer greifen gezielt zu neuen Veröffentlichungen, um seltene Aspekte oder bislang unbekannte Bezüge kennenzulernen. Im Bildungskontext werden solche Titel in Seminaren und Museen herangezogen, da sie Aktualität für die Vermittlung kulturellen Erbes versprechen.
Die Produzenten des Sekundären
Geschrieben werden diese Bücher von Literaturwissenschaftlern, Historikern, Germanisten und gelegentlich Journalisten, die ihre Forschungen popularisieren oder neue Deutungsmuster anbieten möchten. Es gibt professionelle Biografen, die gezielt Nischenaspekte als Monografien aufbereiten und so immer wieder neue Perspektiven in den Markt bringen. Verlage, die sich auf Kulturgeschichte spezialisiert haben, beauftragen gezielt Nachwuchsautoren aus dem universitären Bereich.
Das Problem dabei: Diese Menschen besitzen nicht annähernd die künstlerischen Qualitäten der Heroen, über die sie schreiben. Sie sind Verwalter fremder Genialität, Kommentatoren ohne eigenes schöpferisches Format, Nutznießer einer Aura, die sie selbst nicht erschaffen haben. Sie versuchen, aus dem Talent anderer für sich Kapital zu schlagen – symbolisches wie ökonomisches.
Das erschöpfte Reservoir
Die Vorstellung einer „unerschöpflichen Aura“ wird im Literaturbetrieb selbst durchaus kritisch gesehen. Auch bei Goethe und Thomas Mann sind die wirklich relevanten biografischen und werkbezogenen Themen irgendwann weitgehend ausgeschöpft – das bestätigen Literaturkritiker und Biografen selbst. Viele Neuerscheinungen versuchen die endgültige Ausschöpfung zu umgehen, indem sie marginale, oft nebensächliche Aspekte aufgreifen, die wissenschaftlich oder literarisch meist nur wenig Neues bieten.
Der Literaturkritiker Edo Reents bemängelt, dass auch bei Thomas Mann nur noch einführende Charaktere oder Nischenaspekte einen Anlass für Neuauflagen oder neue Deutungen bieten, da das Lebenswerk selbst in großen Teilen erschöpfend behandelt wurde. Biografische Arbeiten geraten im Diskurs häufig zur Wiederholung bereits erforschter Tatsachen, wobei die Originalität oft in der Stilform, der Perspektive oder in fiktionalisierenden Darstellungsweisen gesucht wird.
Symbolisches Kapital statt Erkenntnis
Der Erkenntnisgewinn durch immer neue biografische Veröffentlichungen ist vielfach marginal bis gar nicht vorhanden. Für viele, die diese Werke publizieren, stehen andere Motive im Vordergrund: die Generierung von symbolischem Kapital – Reputation, wissenschaftliches Renommee, Medienpräsenz – oder ökonomischer Gewinn durch Buchverkäufe und Anschlussprojekte.
Besonders aufschlussreich ist dabei die Rolle der Literaturkritik selbst. Die Plattform „Literaturkritik.de“, auf der Goethe- und Thomas-Mann-Biografien meist wohlwollend besprochen werden, wird vom Beck-Verlag betrieben – einem Verlag, der selbst aktiver Teil der Dauerverwertungsgesellschaft ist. Der Kreis schließt sich: Diejenigen, die die Bücher verlegen, kontrollieren auch einen wesentlichen Teil des Diskurses über sie. Die scheinbar unabhängige Kritik ist eingebunden in dieselbe ökonomische Struktur, die von der endlosen Reproduktion profitiert.
Nach Bourdieu funktioniert das Feld so: Der Ruhm und das Talent des Originalautors werden als Ressourcen betrachtet, die durch biografische, essayistische und literaturkritische Sekundärprodukte verwertet werden können. Die eigentliche künstlerische Leistung bleibt unberührt, doch Verlage und Autoren profitieren wirtschaftlich oder reputationsbezogen durch die Kommerzialisierung und ständige Reinterpretation des Helden.
Literaturwissenschaftler und Autoren nutzen neue Veröffentlichungen, um ihre Position im akademischen oder feuilletonistischen Feld zu behaupten oder auszubauen, oft unabhängig vom tatsächlichen Beitrag zur Forschung. Verlage profitieren durch die Vermarktung etablierter Heroen, da bekannte Namen immer eine gewisse Grundaufmerksamkeit garantieren, selbst wenn keine echten neuen Einsichten geboten werden.
Der Missbrauch der Heroen
Es entsteht ein Kreislauf, in dem die Werke und Persönlichkeiten großer Autoren immer wieder als Material und Projektionsfläche für neue Publikationen dienen, oft unabhängig von echtem Erkenntnisgewinn oder eigener Originalität. Kritiker sprechen von einer „Ausschlachtung“ oder „Stilisierung“ der Künstlerfiguren, bei der die Würde des Werks und der Person instrumentalisiert wird, um den Betrieb am Laufen zu halten.
Die eigentliche Substanz des Werks geht dabei manchmal verloren zugunsten der Dauerbeobachtung und marginaler, oft nur vermeintlich origineller Aspekte. Die posthume Kommerzialisierung wird als Form von kulturellem Missbrauch und als Zeichen eines entleerten Literaturbetriebs begriffen, der die Originalität der Heroen lediglich als Rohstoff ausschlachtet.
Was hätten die Heroen selbst dazu gesagt?
Weder Thomas Mann noch Goethe hätten es wohl kommentarlos hingenommen, auf so schamlose Weise nach ihrem Tod ausgebeutet zu werden. Beide waren sich zu Lebzeiten der Gefahr bewusst, als öffentliche Figur und Projektionsfläche für fremde Interessen instrumentalisiert zu werden.
Thomas Mann äußerte sich mehrfach kritisch zu Versuchen, seine Person für ideologische oder kommerzielle Zwecke zu gebrauchen. Er sah sich als Repräsentant deutschen Geisteslebens und war sensibel für Vereinnahmung und Missbrauch seines Werks durch Nachgeborene.
Goethe reflektierte vielfach über die Vereinnahmung von Werk und Persönlichkeit durch die Nachwelt und verachtete Oberflächlichkeit und bloße Nachahmung. Diese Empfindung galt im übertragenen Sinne auch für die posthume Behandlung seines Nachlasses und die eigene Rolle im Kulturbetrieb.
Fazit: Kulturindustrielle Selbsterhaltung
Die wirtschaftliche Nutzung der literarischen Heroen ist weniger ein Zeichen echter kreativer Auseinandersetzung, sondern ein Beispiel für die Kapitalisierung fremder Talente im Kulturbetrieb. Das Geschäft mit den Heroen ist häufig weniger ein Erkenntnisprojekt als ein Mechanismus kultureller Selbsterhaltung und Kapitalgenerierung.
Die dauernde Wieder-Aufbereitung und kreative Ausschlachtung berühmter Autorenfiguren ist ein selbstnährender Wirtschaftszweig innerhalb der deutschen Buch- und Kulturlandschaft, in dem Verlage, Akademiker, Autoren und der Literaturbetrieb jeweils ihre Teilinteressen verfolgen. Sie alle profitieren von der Aura alter Helden – Helden, die sich nicht mehr wehren können, die nicht mehr widersprechen, die nicht mehr verhindern können, dass ihr Name und ihr Werk zum bloßen Material für fremde Karrieren werden.
Der Wunsch nach „unerschöpflicher Aura“ von Heroen wie Goethe und Mann ist im Grunde ein Produkt der kulturindustriellen Verwertung, das zunehmend an seine Grenzen stößt. Wirklich neue und relevante Aspekte gibt es nur noch selten, und vieles ist aus wissenschaftlicher Sicht inzwischen auserzählt. Was bleibt, ist ein Betrieb, der sich selbst am Leben hält, indem er die Toten immer weiter ausbeutet.
Quellen:
Thomas Mann auf zweihundert Seiten. Zu Edo Reents Kurzbiographie im Claassen Verlag
Sterben wie Goethe! Hermann Kurzke vernetzt Thomas Manns Leben und Werk