Theodore Levitt warnte einst: Nichts ist verschwenderischer, als Dinge mit großer Effizienz zu tun, die gar nicht getan werden sollten. Doch moderne Volkswirtschaften und Konzerne verfallen immer wieder in dieselbe Falle – sie verwechseln Anstrengung mit Richtung und glauben, mehr Einsatz würde den Erfolg bringen. Ein Essay über die verlorene Kunst des strategischen Denkens und warum Deutschland ausgerechnet jene Prinzipien vergessen hat, die der preußische Generalstab im 19. Jahrhundert perfektionierte.
Das Laufband-Paradox
Theodore Levitt erkannte eine zentrale Spannung im Management: die Balance zwischen kreativem Hinterfragen und operativer Exzellenz. Seine provokante These lautet, dass selbst die kostengünstigste Produktion wertlos ist, wenn sie etwas herstellt, das der Markt nicht mehr braucht. „Keine noch so kostengünstige Produktion oder kein noch so ertragreicher Verkauf ist gut genug im Dienste dessen, was selbst nicht gut genug ist“, schrieb er und forderte damit etwas Radikales: Innovation müsse eine Konstante sein – überall in der Organisation, auf allen Ebenen und in Bezug auf alle Aufgaben.
Doch was Levitt beschrieb, ist nicht nur ein betriebswirtschaftliches Problem einzelner Unternehmen. Es ist die Grundkrankheit fast aller modernen Volkswirtschaften und Großkonzerne: die Unfähigkeit, den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen. Stattdessen herrscht die Überzeugung vor, mehr Einsatz würde den gewünschten Erfolg bringen – es sei nur eine Frage der Anstrengung.
Diese Logik durchdringt mittlerweile auch die Politik. Die Forderung nach längeren Arbeitszeiten, späterem Renteneintritt und mehr „Einsatz“ basiert auf derselben Annahme: Mehr vom Gleichen wird es schon richten. Mehr Arbeitsstunden führen zu mehr Produktivität, zu günstigeren Produkten, zu besseren Absatzchancen. Es ist die Verwechslung von Quantität mit Qualität, von Tempo mit Richtung.
Doch wenn die Produktpalette am Markt vorbeigeht, wenn Geschäftsmodelle obsolet werden, wenn strukturelle Probleme vorliegen – dann ist „mehr arbeiten“ wie härter in die Pedale zu treten, während man auf dem falschen Fahrrad sitzt. Man kommt nur schneller am falschen Ort an.
Die verlorene Kunst des Generalstabs
Was fehlt, ist die Kunst des strategischen Denkens, wie sie in Deutschland ausgerechnet der preußische Generalstab im 19. Jahrhundert unter Helmuth von Moltke perfektioniert hatte. Moltke und Clausewitz verstanden etwas Fundamentales: Strategischer Rückzug ist keine Niederlage, sondern oft die klügste Option. Frontbegradigung spart Ressourcen und konzentriert Kräfte auf das Wesentliche. Flexibilität ist wichtiger als stures Festhalten an Positionen. Realistische Lagebeurteilung zählt mehr als Wunschdenken.
Eine gute Strategie schließt, wenn keine bessere Alternative zur Verfügung steht, den strategischen Rückzug mit ein. Moltkes berühmtes Diktum „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung“ bedeutet permanente Anpassung statt starrer Pläne. Ein Clausewitz und ein Moltke als Ökonomen wären zu anderen Entscheidungen gelangt als die heutigen Politiker und Konzernlenker.
Die Ironie der Geschichte: Deutschland hat diese strategische Tradition militärisch perfektioniert, aber ökonomisch weitgehend vergessen. Stattdessen herrschen Subventionierung sterbender Industrien statt geordneter Rückzug, Verteidigung aller Positionen gleichzeitig statt Konzentration auf Zukunftsfelder, politische Durchhalteparolen statt ehrlicher Lagebeurteilung.
Andy Grove: Clausewitz des Silicon Valley
Einer der wenigen, der diese Prinzipien in die moderne Wirtschaft übertrug, war Andy Grove bei Intel. Sein Buch „Only the Paranoid Survive“ ist im Grunde die Übersetzung militärstrategischen Denkens auf die Ökonomie. Grove erkannte strategische Wendepunkte frühzeitig, stieg rechtzeitig aus dem aus, was nicht mehr funktionierte – Intels Ausstieg aus dem Speicherchip-Geschäft war eine strategische Kapitulation in einem Geschäftsfeld, um in einem anderen zu dominieren.
Grove hatte, was Moltke hatte: den Mut zur Frontbegradigung. Die Bereitschaft, Positionen zu räumen, um Kräfte zu konzentrieren. Die konstruktive Paranoia statt Selbstgefälligkeit. Während deutsche Konzerne oft alle Positionen gleichzeitig verteidigen wollen, praktizierte Grove die preußische Maxime der Schwerpunktbildung.
Was militärische Strategen besser verstanden
Militärische Strategen hatten strukturelle Vorteile gegenüber modernen Managern und Politikern:
- Erstens die Akzeptanz von Verlusten. Im Krieg ist klar, dass rechtzeitiger Rückzug Leben rettet. In der Wirtschaft gilt Rückzug als „Versagen“, das karrieretechnische Konsequenzen hat.
- Zweitens die langfristige Perspektive. Moltke dachte in Kampagnen und Jahren, nicht in 90-Tage-Quartalszyklen. Moderne Manager werden nach kurzfristigen Kennzahlen beurteilt, nicht nach strategischer Weitsicht.
- Drittens die ehrliche Lagebeurteilung. Selbsttäuschung kostet im Krieg sofort Menschenleben, in der Wirtschaft zeigen sich die Folgen erst verzögert. Das verführt zu Realitätsverweigerung.
- Viertens die Bereitschaft zur Transformation. Der Generalstab studierte Napoleon, um ihn zu überwinden – Konzerne studieren die Konkurrenz meist nur, um sie zu imitieren.
Die Innovationsblindheit
Was bei der Fixierung auf „mehr Einsatz“ verloren geht, ist genau das, was Levitt einforderte: Zeit zum Nachdenken über neue Wege. Raum für Innovation und Experimente. Mut zur Kurskorrektur statt Durchhalteparolen. Die Frage nach dem „Warum“ statt nur nach dem „Wie schneller“.
Deutschland ist hier ein Paradebeispiel: Weltmeister in operativer Exzellenz – Ingenieurskunst, Qualität, Prozesse – aber oft zögerlich bei fundamentalen Neuausrichtungen. Die Automobilindustrie liefert das Lehrbuchbeispiel: jahrelang perfektionierter Verbrennungsmotor, während die Frage „Wohin bewegt sich die Mobilität?“ zu spät gestellt wurde.
Die offene Frage
Ein moderner Moltke hätte vermutlich gesagt: „Wir können nicht gleichzeitig Verbrennermotoren, E-Mobilität, Digitalisierung, Energiewende und Verteidigungsfähigkeit auf Weltklasse-Niveau halten. Wir müssen Schwerpunkte setzen und Positionen räumen.“
Doch wo genau liegt die größte Blockade für dieses strategische Denken? In den Strukturen – Aktionärskapitalismus mit Quartalsdenken, Wahlzyklen mit kurzfristigen Anreizen? Oder in der Mentalität der Entscheider selbst, die Rückzug nicht als strategische Option, sondern als persönliches Versagen interpretieren?
Diese Frage muss zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben. Sicher ist nur: Wer 70 Stunden in die falsche Richtung arbeitet, kommt nur 40 Prozent schneller am falschen Ort an. Theodore Levitt hätte hinzugefügt: Und nichts ist verschwenderischer als das.