Deutsche Unternehmer beklagen den Staat – und können ohne ihn nicht mehr wirtschaften. Über eine Abhängigkeit, die niemand wahrhaben will, und ihre Folgen für die Innovationsfähigkeit einer ganzen Volkswirtschaft.


Es gehört zu den Ritualen des deutschen Wirtschaftslebens: Auf Verbandstagen und in Interviews beklagen Unternehmer die Bürokratie, fordern den schlanken Staat und warnen vor dem Untergang des Standorts. Die Rhetorik folgt einem ordoliberalen Katechismus, den Ludwig Erhard selbst hätte verfassen können. Doch hinter der Fassade marktgläubiger Bekenntnisse verbirgt sich eine andere Realität: ein Wirtschaftssystem, das auf staatliche Alimentierung angewiesen ist wie ein Patient am Tropf.

Das Paradox ist offensichtlich, sobald man hinschaut. Dieselben Manager, die den Staat aus der Wirtschaft heraushalten wollen, stehen Schlange, wenn Fördermittel verteilt werden. Sie beklagen Regulierung – und fordern gleichzeitig Subventionen. Sie preisen unternehmerisches Risiko – und erwarten staatliche Absicherung, sobald dieses Risiko real wird. Es ist die deutsche Variante eines Problems, das Mariana Mazzucato als Sozialisierung von Risiken bei Privatisierung von Gewinnen beschrieben hat. Nur dass es hierzulande niemand so nennt.

Die Anatomie der Abhängigkeit

Die Zahlen sprechen für sich. Im Namen der Energiewende fließen Hunderte Millionen Euro an die Stahlindustrie, damit Thyssenkrupp klimaneutralen Stahl produzieren kann – irgendwann. Die Automobilhersteller, einst Symbole deutscher Ingenieurskunst und unternehmerischen Wagemuts, haben sich die Transformation zur Elektromobilität vom Staat mitfinanzieren lassen: durch Kaufprämien, Steuervergünstigungen, Ladeinfrastrukturprogramme. Der Wohnungsbau existiert nur noch dank verbilligter KfW-Kredite und Zuschüsse. Landwirtschaft, Bergbau, Schifffahrt, Luftfahrt – kaum eine Branche, die ohne staatliche Unterstützung auskommt.

Man könnte einwenden, dass staatliche Industriepolitik durchaus ihre Berechtigung hat. Südkorea hat seine Chaebol mit Staatskrediten aufgebaut. Die amerikanische Halbleiterindustrie verdankt ihre Existenz DARPA-Projekten. Chinas technologischer Aufstieg wäre ohne massive staatliche Lenkung undenkbar. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: In diesen Ländern fungiert der Staat als strategischer Investor, der auf Zukunftsmärkte setzt. In Deutschland dagegen wirkt er vor allem als Rückversicherer für Risiken, die Unternehmen nicht selbst tragen wollen. Das eine zielt auf Durchbrüche, das andere auf Bestandswahrung.

Das Kausalitätsproblem

Wer die Debatte verfolgt, stößt schnell auf eine verbreitete These: Die Subventionsabhängigkeit verursache die Risikoaversion deutscher Unternehmen. Wer sich auf staatliche Hilfe verlassen könne, habe keinen Anreiz zur Innovation. Doch diese Argumentation verwechselt Ursache und Wirkung.

Die Risikoaversion ist kein Produkt der Förderpolitik – sie ist ihr Grund. Sie wurzelt tief in den institutionellen Strukturen der deutschen Wirtschaft: in der Governance der Aktiengesellschaft mit ihrem Aufsichtsratssystem, das Disruption systematisch bestraft; im Konsensprinzip der Mitbestimmung, das radikale Kurswechsel erschwert; in einer Unternehmensfinanzierung, die auf Bankkredite statt Wagniskapital setzt und daher Planbarkeit über Wachstum stellt. Max Weber hätte hier eine protestantische Ethik erkannt, die das Bewahren heiligt und das Wagen verdächtigt.

Die Subventionssuche ist also nicht Ursache, sondern Symptom. Sie ist die logische Konsequenz eines Systems, das Risiken vermeiden will, aber gezwungen ist, sich in einer Welt zu behaupten, die permanente Transformation verlangt. Der Staat wird zum deus ex machina gerufen, weil die Unternehmen die Transformation zwar für notwendig, aber für sich selbst für zu riskant halten. Die Energiewende? Bitte sehr, aber der Staat soll zahlen. Elektromobilität? Gern, aber mit Kaufprämien. Digitalisierung? Natürlich, aber bitte mit Förderprogrammen.

Die Governance-Falle

Wenn staatliche Industriepolitik in anderen Ländern funktioniert, warum dann nicht in Deutschland? Die Antwort liegt in der Governance der Förderpolitik selbst. Der amerikanische Inflation Reduction Act oder der CHIPS Act definieren klare Ziele und schaffen massive Anreize für private Investitionen.

Sie belohnen Ergebnisse, nicht Absichten. Die deutsche Förderlandschaft dagegen gleicht dem, was Kritiker ein Sammelsurium ohne Kompass nennen: Hunderte Programme über Dutzende Ministerien und Behörden verstreut, jedes mit eigener Logik, eigenen Antragsverfahren, eigenen Berichtspflichten.

Das Ergebnis ist pervers: Unternehmen optimieren nicht auf Markterfolg, sondern auf Förderbarkeit. Sie richten ihre Investitionsentscheidungen an politischen Prioritäten aus statt an technologischen oder wirtschaftlichen. Sie beschäftigen ganze Abteilungen, deren einzige Aufgabe es ist, Fördertöpfe aufzuspüren und Anträge zu schreiben. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns würde hier eine Kolonialisierung der Wirtschaft durch die Politik diagnostizieren – mit dem Unterschied, dass die Kolonialisierten selbst um ihre Unterwerfung bitten.

Die doppelte Obsoleszenz

Das eigentliche Problem liegt tiefer als die Frage, ob Subventionen gut oder schlecht sind. Es liegt in dem, was sie ermöglichen – oder vielmehr: verhindern. Die staatliche Absicherung erlaubt es Unternehmen, an Geschäftsmodellen festzuhalten, die ohne diese Absicherung längst aufgegeben worden wären. Sie verlangsamt den schöpferischen Zerstörungsprozess, den Joseph Schumpeter als Wesen des Kapitalismus beschrieben hat.

Die deutsche Automobilindustrie ist das prominenteste Beispiel. Die Förderung der Elektromobilität sollte den Wandel beschleunigen. Tatsächlich hat sie ihn verzögert. Kaufprämien hielten die Nachfrage nach mittelmäßigen ersten Elektromodellen künstlich hoch und nahmen so den Druck zur raschen Innovation. Die Hersteller konnten ihre Transformation in einem gemächlichen Tempo vorantreiben, das ihren internen Strukturen entsprach – und nicht dem Tempo des Marktes. Als die chinesische Konkurrenz auftauchte, waren sie nicht vorbereitet.

Ähnliches lässt sich für die digitale Transformation beobachten. Deutsche Unternehmen bauen an Plattformen, die bei ihrer Fertigstellung bereits veraltet sein werden. Sie investieren in Technologien, die niemand braucht, weil Förderprogramme sie subventionieren. Sie planen für eine Welt, die es nicht mehr geben wird, wenn ihre Projekte abgeschlossen sind. Die doppelte Obsoleszenz – praktisch gescheitert, weil nicht genutzt; konzeptionell gescheitert, weil für veraltete Paradigmen gebaut – ist das Kennzeichen deutscher Technologiepolitik geworden.

Was Schumpeter und Drucker dazu sagen würden

Die deutsche Misere lässt sich schärfer fassen, wenn man sie durch die Brille zweier Denker betrachtet, die das moderne Verständnis von Unternehmertum geprägt haben: Joseph Schumpeter und Peter Drucker.

Schumpeter hat den Unternehmer nicht als Verwalter definiert, nicht als Optimierer des Bestehenden, sondern als Zerstörer – genauer: als schöpferischen Zerstörer. Der echte Unternehmer ist bei Schumpeter derjenige, der neue Kombinationen durchsetzt: neue Produkte, neue Produktionsmethoden, neue Märkte, neue Organisationsformen. Er handelt gegen den Strom, gegen die Trägheit des Gewohnten, gegen den Widerstand etablierter Interessen. Er ist kein Risikominimierer, sondern Risikoumarmer. Sein Gewinn ist die Prämie für die Überwindung von Widerständen, nicht die Rendite auf vorsichtiges Kapital.

Was würde Schumpeter zur deutschen Wirtschaft sagen? Vermutlich, dass sie keine Unternehmer mehr hat – jedenfalls nicht in seinem Sinne. Was sie hat, sind Manager: Verwalter von Beständen, Optimierer von Prozessen, Hüter von Marktanteilen. Der deutsche Mittelstand, oft romantisch als Hort des Unternehmertums verklärt, besteht zu großen Teilen aus Familienunternehmen in der dritten oder vierten Generation, deren Geschäftsmodell die Bewahrung ist, nicht die Disruption. Sie sind erfolgreich darin, das Bestehende zu perfektionieren – und genau deshalb unfähig, das Neue zu schaffen.

Schumpeter hat diese Entwicklung vorausgesehen. In „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ warnte er, dass der Kapitalismus an seinem eigenen Erfolg zugrunde gehen könnte: Die Rationalisierung des Wirtschaftslebens, die Bürokratisierung der Großunternehmen, die Ersetzung des Unternehmers durch den Angestellten-Manager würden die schöpferische Zerstörung zum Erliegen bringen. Deutschland ist der lebende Beweis dieser These.

Peter Drucker, der andere große Theoretiker des Unternehmertums, würde die Diagnose ergänzen. Für Drucker war Innovation keine mystische Unternehmergabe, sondern eine erlernbare Praxis – allerdings eine, die bestimmte Bedingungen voraussetzt. Sie verlangt systematische Suche nach Chancen, Fokus auf Ergebnisse statt auf Prozesse, und die Bereitschaft, Ressourcen von gestern auf morgen umzuschichten. Manager, so Drucker, müssen sich ständig fragen: Was würden wir tun, wenn wir das nicht schon täten?

Diese Frage stellt in Deutschland niemand. Die Förderpolitik belohnt das Gegenteil: Sie finanziert das Weiter-so, sie subventioniert die Optimierung des Bestehenden, sie bestraft implizit jeden, der Bestehendes aufgibt, um Neues zu wagen. Druckers Konzept des „systematischen Aufgebens“ – die regelmäßige Überprüfung aller Aktivitäten mit der Bereitschaft, obsolete Programme zu beenden – ist der deutschen Wirtschaftskultur fremd. Stattdessen herrscht das Prinzip der Besitzstandswahrung, verstärkt durch staatliche Garantien.

Beide Denker würden im deutschen Subventionssystem eine Perversion dessen erkennen, was Unternehmertum ausmacht. Bei Schumpeter ist der Unternehmer der Agent des Wandels, der gegen Widerstände durchsetzt, was die Zukunft verlangt. In Deutschland dagegen werden Widerstände subventioniert, nicht überwunden. Bei Drucker ist der Manager derjenige, der Ressourcen systematisch dorthin lenkt, wo sie die größte Wirkung entfalten. In Deutschland werden Ressourcen dorthin gelenkt, wo sie die größte politische Wirkung entfalten – was selten dasselbe ist.

Das Ergebnis ist eine Wirtschaft ohne Unternehmer im Schumpeterschen Sinne und ohne Manager im Druckerschen Sinne. Was bleibt, sind Verwalter: Menschen, die Prozesse optimieren, Anträge schreiben und Fördertöpfe ausschöpfen. Sie sind nicht unfähig – im Gegenteil, sie sind hochqualifiziert in dem, was sie tun. Nur ist das, was sie tun, nicht das, was eine Volkswirtschaft braucht, die sich im globalen Wettbewerb behaupten will.

Herbert Giersch, der langjährige Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und eine der prägenden Stimmen des deutschen Wirtschaftsliberalismus, hat das Problem mit einer Präzision benannt, die heute prophetisch wirkt: „Eine Industriepolitik, die sich auf die Unterstützung ganz bestimmter Aktivitäten konzentriert, wird dazu neigen, das zu begünstigen, was schon da ist und was man kennt. Zukunftsorientierte Ressourcen sind für solches Drängen an die Subventionskrippe angesichts alternativer Verwendungsmöglichkeiten viel zu knapp.“

Das Bild der Subventionskrippe trifft den Kern. Es beschreibt nicht nur ein ökonomisches Phänomen, sondern eine Mentalität: das Drängen etablierter Interessen nach staatlicher Fürsorge, die Verdrängung des Neuen durch das Alte, die systematische Fehlallokation von Ressourcen. Giersch verstand, was viele seiner Nachfolger vergessen haben: Dass die eigentlichen Kosten von Subventionen nicht in den ausgezahlten Summen liegen, sondern in dem, was stattdessen hätte entstehen können. Jeder Euro, der in die Rettung einer sterbenden Industrie fließt, fehlt bei der Geburt einer neuen.

Die deutsche Wirtschaftspolitik hat Gierschs Warnung in den Wind geschlagen. Sie hat das Drängen an die Krippe nicht eingedämmt, sondern institutionalisiert. Sie hat aus der Ausnahme die Regel gemacht, aus der Notfallhilfe den Dauerzustand. Und sie hat damit genau das bewirkt, was Giersch vorausgesagt hat: eine Volkswirtschaft, die das Bekannte pflegt und das Unbekannte verkümmern lässt.

Der schwierige Ausweg

Was folgt daraus? Nicht die naive Forderung nach einem Ende aller Subventionen – sie wäre unter den gegebenen Umständen wirtschaftspolitischer Selbstmord. Aber auch nicht die Fortsetzung des Bestehenden, das offensichtlich nicht funktioniert.

Der erste Schritt wäre intellektuelle Ehrlichkeit: das Eingeständnis, dass die deutsche Wirtschaft kein Musterbeispiel freier Märkte ist, sondern ein korporatistisches System mit starker staatlicher Beteiligung. Der zweite Schritt wäre eine Reform der Förderpolitik nach dem Vorbild erfolgreicher Industriepolitik anderswo: klare Ziele statt Gießkannenprinzip, Belohnung von Ergebnissen statt Subventionierung von Absichten, Konzentration auf wenige große Wetten statt Streuung über tausend kleine Programme.

Der dritte und schwierigste Schritt wäre eine Veränderung der Unternehmenskultur selbst – jener tiefsitzenden Risikoaversion, die das eigentliche Problem ist. Doch hier stößt Politik an ihre Grenzen. Kultur lässt sich nicht verordnen. Sie kann nur langsam wachsen, und sie braucht andere Vorbilder, andere Anreize, andere Institutionen.

Bis dahin bleibt Deutschland gefangen in einer Abhängigkeit, die beide Seiten zementiert: Unternehmen, die nach dem Staat rufen, den sie öffentlich verdammen; und einen Staat, der Strukturen am Leben erhält, die ohne ihn längst verschwunden wären. Es ist ein Arrangement, das niemanden glücklich macht – und das doch niemand aufkündigen will. Die deutsche Wirtschaft, so scheint es, ist süchtig nach dem Tropf. Und wie jeder Süchtige weiß sie das, ohne etwas dagegen tun zu können.


Quellen

Schumpeter

Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung

Drucker

Innovationsmanagement für Wirtschaft und Politik,

Sinnvoll Wirtschaften

Giersch

Marktwirtschaftliche Perspektiven für Europa

Mazzucato

The Entrepreneurial State

Weber:

Die Protestantische Ethik