Warum ein Biokybernetiker schon vor Jahrzehnten wusste, was die Automobilindustrie heute noch nicht verstanden hat – und warum das E-Auto allein die Probleme nicht löst


In den hitzigen Debatten um das Verbrennerverbot 2035, Elektromobilität und die Zukunft des Autos wird ein Name auffällig selten erwähnt: Frederic Vester. Dabei hat der Biokybernetiker bereits vor Jahrzehnten die Weichen für ein Verständnis von Mobilität gestellt, das heute aktueller ist denn je. Seine systemische Betrachtungsweise offenbart nicht nur, warum die Automobilindustrie in einer Sackgasse steckt, sondern auch, warum der derzeit propagierte Umstieg vom Verbrenner zum E-Auto das eigentliche Problem verfehlt: die Mobilität selbst.

Das Denken in Systemen statt in Zylindern

Vester verfolgte einen radikal anderen Ansatz als die Ingenieure der Automobilkonzerne. Für ihn war der Verkehr kein isoliertes Phänomen, das sich durch technische Optimierung einzelner Komponenten lösen ließ. Stattdessen betrachtete er Mobilität als komplexes Gesamtsystem, bestehend aus den Teilsystemen Verkehr, Fahrzeug und Wirtschaft, eingebettet in die übergeordneten Dimensionen Mensch, Natur und Gesellschaft.

Diese systemische Perspektive entlarvt das, was Vester als „lineares Denken“ bezeichnete: Die Vorstellung, man könne den Individualverkehr losgelöst von seinen Abhängigkeiten betrachten und verbessern. Ein Trugschluss, der sich bis heute durch die Strategien der Automobilhersteller zieht – und der auch in der aktuellen E-Auto-Euphorie fortlebt.

Die Verbrenner-Debatte: Symptom statt Systemwandel

Ab 2035 dürfen in der Europäischen Union keine neuen Benzin- und Dieselfahrzeuge mehr zugelassen werden – nur noch emissionsfreie Autos sind erlaubt. Diese Regulierung hat eine heftige politische Debatte ausgelöst. Doch aus Vesters systemischer Perspektive wird hier lediglich eine Antriebsform durch eine andere ersetzt, ohne das Gesamtsystem Mobilität grundlegend zu überdenken.

Das Elektroauto reproduziert die gleichen Fehler wie der Verbrenner: Es ist schwer, auf Geschwindigkeit und große Reichweite ausgelegt, als Tourenwagen konzipiert, obwohl die meisten Fahrten Kurzstrecken sind. Es löst weder das Stauproblem noch die Flächenversiegelung, weder die Ressourcenknappheit noch die ineffiziente Nutzung – denn auch das E-Auto steht die längste Zeit ungenutzt herum.

Die Versorgung mit kritischen Rohstoffen wie Kobalt bleibt problematisch, und die Abhängigkeit hat sich lediglich von Öl auf Batteriemetalle verschoben. Die Ladeinfrastruktur wird zwar ausgebaut, doch die mangelnde Verfügbarkeit öffentlicher Ladepunkte bleibt ein zentrales Hindernis.

Vester hatte bereits in den 1990er Jahren vor solchen „Scheinlösungen“ gewarnt: Elektroautos, die lediglich konventionelle Fahrzeuge mit einem anderen Motor ausstatten, ohne das Grundkonzept zu hinterfragen. Genau das erleben wir heute – in großem Maßstab.

Das Inzucht-Engineering: Gestern wie heute

Besonders hellsichtig war Vesters Diagnose des „Inzucht-Engineering“ in den Automobilkonzernen. Damit beschrieb er eine Innovationsblindheit, die aus jahrzehntelanger Selbstreferenz entsteht. Wenn Ingenieure nur innerhalb der Paradigmen des Automobils denken – ob Verbrenner oder Elektro –, entwickeln sie Abwehrmechanismen gegen alles wirklich Neue.

Das Ergebnis: Das Individualfahrzeug steckt weiterhin in seiner ersten Generation fest. Die traditionellen Kriterien – große Motorleistung, hohe Geschwindigkeit, große Reichweite – verhindern nach wie vor eine grundlegende technische, umwelt- und sozialverträgliche Weiterentwicklung. Sie kehren die Hinwendung zur Funktionalität sogar ins Gegenteil um.

Der Widerspruch ist evident und bleibt ungelöst: Die meisten Autos werden nur für Kurzstrecken genutzt und verbringen die längste Zeit bewegungslos. Dennoch sind sie – ob Verbrenner oder E-Auto – weiterhin als Tourenwagen ausgelegt. Diese Fehlorientierung macht nicht nur die Fahrzeuge unzweckmäßig, sondern verhindert auch die Integration in ein effizientes Verbundsystem mit anderen Verkehrsträgern.

Die Vision des Ökomobils und das vergessene RailCab

Vesters Alternative war das „Ökomobil“ – ein Fahrzeugkonzept, das Funktionalität, Umweltverträglichkeit und soziale Verträglichkeit vereint. Seine Vorstellungen vom idealen Stadtmobil waren radikal anders:

Lautlos, recyclefähig, fehlerfreundlich und sicher sollte es sein. Für den urbanen Einsatz forderte Vester ein Fahrzeug, das bequem, hoch und kurz ist – um Querparken zu ermöglichen. Extrem leicht durch superleichte Werkstoffe, voll wendig mit bis zu 90 Grad lenkbaren Rädern, nicht schneller als 60 Stundenkilometer. Und für Langstrecken? Sollte es zur Querverladung auf die Bahn geeignet sein.

Diese Vision setzte voraus, was Vester „gemeinsame Innovationen von Systemlösungen“ nannte: die simultane Anpassung mehrerer beteiligter Komponenten vom Garagentor über das Solardach bis zur dezentralen regenerativen Energieversorgung. Mobilität als integriertes System, nicht als isoliertes Produkt.

Ein konkretes Beispiel für einen solchen systemischen Ansatz war das RailCab-Projekt der Universität Paderborn. Professor Joachim Lückel entwickelte ab 1998 das RailCab-System, ein Konzept für einzeln steuerbare Kabinen auf bestehenden Schienennetzen, die den Zugverkehr fast so individuell wie das Autofahren machen sollten. Ziel war es, neben modernen Fahrwerken und verschleißfreien Linearmotoren den Personenverkehr zu revolutionieren – nicht viele Personen in einem Zug, sondern individuelle Mobilität auf der Schiene.

Das RailCab hätte die Vorteile des Individualverkehrs mit denen des Schienenverkehrs verbinden können: On-Demand-Mobilität ohne Stau, ohne Flächenversiegelung, energieeffizient durch Linearmotoren, integriert in bestehende Infrastruktur. Doch finanzstarke Interessenten für das Konzept fehlten. Das Projekt wurde nicht weiterverfolgt – ein Paradebeispiel dafür, wie innovative Systemlösungen am linearen Denken und an fehlenden Investitionen scheitern.

Stattdessen setzen wir weiter auf das Automobil, nur eben elektrisch. Die Teststrecke in Paderborn wurde abgebaut, um Platz für neue Forschungsgebäude zu schaffen. Eine Metapher für unseren Umgang mit echten Mobilitätsalternativen.

Gemeinsame Innovationen? Fehlanzeige

Vester betonte: „Im eigenen Interesse der Hersteller lohnt es sich jedenfalls, die vielen Anpassungs- und Koppelungsprobleme gemeinsam innovativ zu lösen – vom Flugzeug bis zum Fahrrad, von der Rolltreppe bis zur Pipeline. Die Umstellung auf eine neue Mobilität erfolgt schließlich immer dann am leichtesten, wenn nicht nur die Änderung einer, sondern möglichst mehrerer der beteiligten Komponenten simultan aufgefangen wird, wobei sie sich gegenseitig unterstützen.“

Doch genau das geschieht nicht. Jeder Sektor optimiert für sich: Die Autoindustrie baut E-Autos mit immer größeren Batterien und höheren Reichweiten. Die Energiewirtschaft baut Ladestationen. Die Städte versuchen, den zunehmenden Verkehr zu bewältigen.

Niemand denkt das System als Ganzes.

Ein integriertes Mobilitätssystem würde bedeuten: leichte Stadtmobile für Kurzstrecken, nahtlose Übergänge zu öffentlichen Verkehrsmitteln, autonome Shuttles für die letzte Meile, Carsharing statt Privatbesitz, intelligente Verkehrssteuerung, die verschiedene Verkehrsträger koordiniert. Doch solange jeder Akteur in seinem Silo denkt, bleiben wir im Status quo verhaftet – nur eben mit anderen Motoren.

Die Tesla-Prophezeiung und ihre Grenzen

Vester schrieb: „Aber schließlich sind wirkliche Innovationen in der gesamten Geschichte der Technik schon immer von einzelnen Menschen und nicht von Institutionen ausgegangen.“

Diese Einsicht trifft auf Elon Musk und Tesla zu. Die Automobilmanager hatten weder den Mut noch die Entscheidungsbefugnisse, einen radikalen Schwenk zum E-Auto zu initiieren. Sie waren gefangen zwischen Anteilseignern, Börsenkursen und etablierten Strukturen. Es brauchte einen Außenseiter, um die Disruption voranzutreiben – genau wie Vester es vorhergesagt hatte.

Doch Tesla hat – bei aller Innovationskraft – Vesters Vision nur halb erfüllt. Die Fahrzeuge sind schnell, haben große Reichweiten, sind schwer. Sie folgen den alten Kriterien, nur eben elektrisch. Das Model S ist kein Ökomobil, sondern ein elektrischer Tourenwagen. Tesla hat die Automobilindustrie gezwungen, sich mit Elektromobilität auseinanderzusetzen – aber nicht dazu gebracht, Mobilität neu zu denken.

Auch hier unterwerfen sich die Hersteller, so Vester, „allzu bereitwillig dem Zeitgeist“ – und dieser Zeitgeist verlangt nach Status, Geschwindigkeit, Reichweite. Nicht nach Funktionalität, Systemeffizienz oder ökologischer Vernunft.

Der Crashtest, den wir nicht bestehen

Vesters abschließender Appell liest sich wie eine Warnung an unsere Gegenwart: „Die vergangene Mobilität hat zur Krankheit des Systems geführt. Die zukünftige kann zu einem Stellhebel werden, der auch viele nicht direkt mit dem Verkehrsgeschehen zusammenhängende Leiden unserer Industriegesellschaft zu heilen vermag.“

Utopisch sei nicht diese Vision, sondern der Glaube, es könne mit derselben Technik, Organisation und denselben Kriterien weitergehen – nur eben alles ein bisschen besser, ein bisschen effizienter, ein bisschen elektrischer. „Je länger wir auf diese Weise die längst fällige radikale Operation hinauszögern, um so mehr würde der kranke Zustand zementiert und die Agonie verlängert werden und eines Tages auch nicht mehr bezahlbar sein.“

Die aktuelle Situation bestätigt Vesters Befürchtungen. Die E-Auto-Zahlen steigen zwar – im Januar 2025 um 53,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr –, doch sie steigen auf ein System, das strukturell dysfunktional bleibt. Mehr Autos bedeuten mehr Stau, mehr Flächenverbrauch, mehr Ressourcenverbrauch – nur eben mit anderen Rohstoffen und anderen Emissionen.

Das Verbrennerverbot 2035 mag klimapolitisch notwendig sein, aber es ist keine Mobilitätswende. Es ist ein Antriebswechsel. Die eigentliche Krankheit – die automobile Monokultur, das lineare Denken, die Weigerung, das Gesamtsystem zu betrachten – bleibt unbehandelt.

Die vergessene Aktualität

Frederic Vesters systemische Analyse der Mobilität ist heute relevanter denn je. Seine Kritik am Inzucht-Engineering, seine Forderung nach ganzheitlichen Systemlösungen, seine Vision eines funktionalen Stadtmobils, seine Warnung vor Scheinlösungen – all das hätte die Irrwege der letzten Jahrzehnte verhindern können.

Dass sein Name in den aktuellen Debatten kaum auftaucht, ist nicht nur bedauerlich, sondern symptomatisch. Es zeigt, wie sehr wir noch immer in den Denkmustern verfangen sind, die Vester überwinden wollte: linear, technokratisch, isoliert, fixiert auf das Produkt Auto statt auf die Funktion Mobilität.

Das RailCab-Projekt hätte ein Beispiel sein können für das, was Vester meinte. Stattdessen wurde es eingestellt – während wir Milliarden in eine Elektrifizierung investieren, die die Grundprobleme nicht löst.

Die Mobilität steht nicht nur selbst im Crashtest – sie wird zum Crashtest für unsere Fähigkeit, systemisch zu denken, radikal neu anzufangen und die längst fällige zweite Generation der Mobilität einzuleiten. Einen Test, den wir gerade nicht bestehen.
Vielleicht ist es Zeit, Vesters Stimme wiederzuentdecken. Nicht als nostalgische Übung, sondern als Wegweiser für eine Mobilität, die mehr ist als der Austausch eines Motors gegen einen anderen. Eine Mobilität, die endlich das System als Ganzes begreift.