Miele verlagert nach Polen, Mercedes streicht das Wort „Luxus“, VW verliert gegen BYD. Was nach Einzelfällen aussieht, offenbart eine tektonische Verschiebung: Der deutsche Premiumaufschlag beruht nicht mehr auf technologischer Überlegenheit, sondern nur noch auf Markenmythos. Während Indien und China das alte Volkswagen-Prinzip neu erfinden – erschwinglich, massentauglich, elektrifiziert –, verfangen sich deutsche Hersteller in einem Narrativ ohne Substanz. Ein Beitrag über den Zusammenbruch einer industriellen Weltordnung.


Das Ende einer Erzählung

Es gibt Momente, in denen sich industrielle Epochen nicht mit Fanfaren verabschieden, sondern mit Pressemitteilungen. Miele verlagert 700 Arbeitsplätze nach Polen. Mercedes streicht das Reizwort „Luxus“ aus der Unternehmensstrategie. VW verkauft im Januar 2025 in China 64.348 Fahrzeuge – ein Rückgang um 27 Prozent, während BYD im selben Zeitraum über 310.000 Einheiten absetzt. Was nach isolierten Managemententscheidungen aussieht, ist in Wahrheit das Symptom einer tektonischen Verschiebung: Das deutsche Premiummodell, jahrzehntelang Rückgrat der industriellen Identität, verliert seine materielle Grundlage.

Die verbreitete Annahme, man könne durch Produktionsverlagerung nach Osteuropa bei gleichzeitiger Verteidigung des „Made in Germany“-Labels die bisherigen Strukturen im Kern bewahren, greift fundamental zu kurz. Der Fall Miele zeigt exemplarisch: Diese Strategie ist kein Kontinuitätsprojekt, sondern ein Übergangsmanöver unter Druck – und eines, das die eigentliche Krise nur verschleiert.

Miele in Polen: Kosten senken, Marke retten?

Miele verlagert Teile seiner Waschmaschinenproduktion von Gütersloh ins polnische Ksawerów. Rund 700 Arbeitsplätze wandern ab, weltweit werden etwa 2.000 Stellen gestrichen. Das erklärte Ziel: Kosten senken, Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Treiber sind hohe Energiepreise, Lohnkosten und bürokratische Genehmigungsprozesse in Deutschland. Ein „Transformationsprogramm“ soll Einsparungen von 500 Millionen Euro ermöglichen. Zugleich betont das Unternehmen, man wolle die deutschen Werke erhalten und investiere bis 2028 insgesamt 500 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung am Standort Deutschland.

Die Logik klingt einleuchtend: Produktion dort, wo es billiger ist – Innovation dort, wo die Kompetenz sitzt. Doch diese Zweigleisigkeit birgt einen strukturellen Widerspruch. Der Qualitätsaufschlag „Made in Germany“ basierte nie nur auf geografischer Herkunft, sondern auf technologischer Eigenleistung, Prozessqualität und Ingenieurskultur. Eine schrittweise Erosion dieser Strukturen – durch Outsourcing, Personalabbau, Trennung von Fertigung und Entwicklung – unterminiert mittelfristig genau das Markenkapital, das Premiumanbieter wie Miele oder BMW überhaupt erst trägt.

Hinzu kommt: Während Osteuropa kurzfristige Produktionsvorteile bietet, leiden Unternehmen dort zunehmend unter Fachkräftemangel, politischer Instabilität und wachsenden Lohnspannungen. Die Annahme, alles könne beim Alten bleiben – nur billiger produziert –, unterschätzt die Komplexität industrieller Qualitätssysteme fundamental. Was hier stattfindet, ist keine strategische Neuausrichtung, sondern der Versuch, Zeit zu kaufen.

Mercedes und das gescheiterte Luxusversprechen

Besonders deutlich wird die Sackgasse am Fall Mercedes-Benz. Der Konzern hat sich in den vergangenen Jahren explizit als Luxusmarke positioniert – mit internen Segmenten wie „Entry Luxury“, „Core Luxury“ und „Top-End Luxury“. Diese Strategie sollte hohe Margen sichern, führte aber zu drastischen Absatzverlusten: 2025 fiel der Gewinn um mehr als die Hälfte, in China brachen die Verkäufe um 14 Prozent ein. Inzwischen zieht Konzernchef Ola Källenius die Notbremse und streicht das Wort „Luxus“ aus der Strategie.

Die neue Linie soll „marktnäher“ werden – allerdings ohne wirklichen Strategiewechsel. Statt breiter zu werden, bleibt Mercedes auf „das Besondere“ fixiert. Die Konsequenz: Der Konzern steckt zwischen Massenmarkt und Innovation fest – zu teuer für Volumen, zu träge für echte Premiumdisruption. Was hier zutage tritt, ist keine vorübergehende Schwäche, sondern ein grundsätzliches Problem: Die Premium-Erzählung funktioniert nicht mehr, weil sie ihren technologischen Unterbau verloren hat.

Indien und China: Das neue Volkswagen-Prinzip

Während deutsche Hersteller sich in symbolischem Kapital verfangen, entsteht anderswo eine neue industrielle Realität. Indien baut Elektroautos ab 10.000 Euro – funktional, robust, massentauglich. Tata Motors verkauft den Tiago EV für umgerechnet 10.000 Euro, den Nexon EV ab 13.500 Euro. Diese Fahrzeuge kombinieren vereinfachte Komponentenarchitektur mit praxisgerechter Reichweite und geringem Materialeinsatz. Sie greifen damit genau jene industrielle Logik auf, die Volkswagen in den 1950er-Jahren großgemacht hat: einfache Technik, Serienfertigung, breite Zugänglichkeit.

In China dominieren BYD, Geely und Chery längst den globalen Elektroautomarkt – mit Millionenstückzahlen und atemberaubender Kosteneffizienz. BYD verkaufte im Januar 2025 allein über 310.000 Fahrzeuge. Damit ist das ursprüngliche westliche „Volkswagen“-Modell längst in Asien reinkarniert worden – allerdings elektrifiziert, softwarezentriert und ohne Premium-Attitüde.

Die strategische Divergenz könnte kaum größer sein: Während asiatische Hersteller Skaleneffekte und Industrialisierung konsequent ausweiten, suchen deutsche Autobauer ihr Heil im symbolischen Kapital – Exklusivität, Heritage, Markenmythos. Diese Strategie ist zunehmend defensiv. Sie erklärt den Preis, statt ihn zu rechtfertigen. Genau das unterscheidet eine innovationsgetriebene Industrie von einer, die sich in Marktverteidigung erschöpft.

Der technologische Rückstand: Batterien, Chips, Software

Der Rückstand ist inzwischen strukturell und lässt sich nicht durch Produktionsverlagerungen oder Premiumaufschläge ausgleichen. Nach einer Deloitte-Analyse stammen 70 Prozent aller E-Auto-Batterien aus China, während nur 13 Prozent der weltweiten Batteriefertigung auf europäische Standorte entfällt – fast ausschließlich Zweigwerke asiatischer Konzerne. Der Anteil chinesischer Hersteller an Schlüsselmaterialien wie Anoden, Kathoden und Elektrolyten liegt zwischen 70 und 90 Prozent.

Die Abhängigkeit von ausländischen Halbleitern bleibt eine der größten industriepolitischen Schwachstellen. Deutsche Hersteller sind stark auf Zulieferer wie Nexperia und TSMC angewiesen; Engpässe bei Standardchips führten bereits zu drohenden Produktionsstopps bei VW und BMW. In modernen Elektrofahrzeugen stecken inzwischen 5.000 bis 7.000 Chips – dreimal so viele wie bei Verbrennern.

Noch gravierender ist das Software-Defizit. Versuche wie die VW-Softwaretochter Cariad zeigen, wie schwierig der Aufbau digitaler Plattformen für vernetzte Fahrzeuge bleibt. Während Tesla und BYD eigene Betriebssysteme entwickeln und Daten aus Milliarden Fahrkilometern nutzen, bleibt bei deutschen Herstellern vieles fragmentiert. Das wirkt sich direkt auf Innovationsgeschwindigkeit und Kundenerfahrung aus – zentrale Faktoren für den künftigen Markterfolg.

Der Premium-Aufschlag ohne technologische Substanz

Der technologische oder qualitative Vorsprung deutscher Premiumhersteller, der über Jahre hinweg den Preisaufschlag rechtfertigte, ist in der Elektromobilität weitgehend entfallen. Im AutomotiveINNOVATIONS Report 2025 liegt die chinesische Marke Nio an der Spitze der innovationsstärksten Premiummarken – noch vor Audi und Tesla. Nio bringt mit Semi-Festkörperbatterien, 1.000 Kilometer Reichweite und 640-kW-Ladesystemen echte Weltneuheiten in Serie, während deutsche Hersteller in denselben Kategorien nur inkrementelle Verbesserungen bieten.

Auch bei Software und Fahrassistenzsystemen besteht keine Führungsrolle mehr. Laut aktuellen Studien liegen Mercedes, BMW und Audi in mehreren Disziplinen – besonders Reichweite, Ladegeschwindigkeit und Konnektivität – hinter asiatischen Anbietern.

Während der BYD Dolphin Surf mit 18.900 Euro Einstiegspreis und 300 Kilometer Reichweite den europäischen Markt aufmischt, kosten vergleichbare deutsche Elektroautos wie der VW ID.3 oder BMW iX1 mindestens das Doppelte. Der technologische Mehrwert rechtfertigt diese Differenz nicht mehr.

Befragungen zeigen zwar, dass Konsumenten in westlichen Märkten deutschen Marken weiterhin das höchste Qualitätsvertrauen entgegenbringen. Diese Wahrnehmung speist sich aber eher aus historischer Markenautorität als aus objektivem technologischen Vorsprung. In China liegen BYD und Nio bereits vor deutschen Premiummarken – die symbolische Ordnung kippt auch dort, wo sie am stabilsten schien.

Fazit: Die Illusion der Kontinuität

Was bleibt, ist eine unbequeme Erkenntnis: Der deutsche Premiumaufschlag beruht heute primär auf Gewohnheit, Symbolwert und Restvertrauen – nicht mehr auf überlegenem Produkt. Die Strategie „Produktion nach Osteuropa, Marke bleibt deutsch“ ist keine nachhaltige Fortsetzung des bisherigen Modells, sondern ein Übergangsmanöver, das die eigentliche Herausforderung verschleiert: den Verlust des technologischen Eigengewichts.

Das „neue Volkswagen“-Prinzip entsteht nicht mehr in Wolfsburg, sondern in Pune, Shenzhen und Changsha. Während dort industrielle Systeme entstehen, die Massenproduktion, Elektrifizierung und Softwareinnovation vereinen, erschöpft sich die deutsche Industrie in der Verteidigung eines Narrativs, das seine materielle Grundlage verloren hat.

Die Frage ist nicht mehr, ob sich die Premium-Illusion halten lässt. Die Frage ist, was passiert, wenn sie endgültig zerbricht.