Wie findet der Mensch seinen Weg in einer Welt ohne feste Traditionen? Der Soziologe David Riesman entwickelte mit seinem Konzept der Innen-Lenkung eine faszinierende Antwort auf diese Frage der Moderne. Seine Metapher vom seelischen Kreiselkompass beschreibt, wie wir gelernt haben, uns selbst zu steuern – oft auf Kosten unseres seelischen Wohlbefindens.


Die moderne Gesellschaft stellt uns vor ein fundamentales Problem: Wir müssen uns in einer dynamischen, sich ständig wandelnden Umwelt zurechtfinden, ohne auf die Sicherheit überlieferter Traditionen zurückgreifen zu können. David Riesman hat diesen Wandel in seiner Gesellschaftsanalyse präzise erfasst und dabei zwei grundlegend verschiedene Formen sozialer Steuerung gegenübergestellt.

In traditionell gelenkten Gesellschaften ist das Leben der Menschen weitgehend vorgezeichnet. Stabilität prägt diese Ordnung, Rollen sind festgelegt, und die Kultur – verkörpert durch Riten, Brauchtum und Religion – hält alles zusammen. Wenig Energie fließt in die Suche nach neuen Lösungen für alte Probleme. Die bestehende Ordnung wird als gegeben akzeptiert, solange die äußere Umwelt stabil bleibt. Diese Fraglosigkeit ist das eigentliche Wesen traditioneller Kultur.

Mit der Renaissance jedoch vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel. Die Traditionslenkung weicht zunehmend einer neuen Form: der Innen-Lenkung. Doch auch hier bleibt die zentrale Frage bestehen: Wie lässt sich die Konformität der Gesellschaftsmitglieder sicherstellen, wenn die direkte Bindung an die Tradition fehlt? Riesmans Antwort ist der innen-geleitete Charaktertyp – Menschen, die ihr Leben ohne selbstverständliche Traditionslenkung zu führen vermögen.

Das psychologische Instrument, das dies ermöglicht, bezeichnet Riesman mit einer eindrücklichen Metapher als seelischen Kreiselkompass. Einmal von Eltern und Autoritäten in Gang gesetzt, hält dieser Kompass den Menschen auf Kurs, selbst wenn die Tradition seine Verhaltensweisen nicht mehr vorschreibt. Der innen-geleitete Mensch muss fortwährend ein empfindliches Gleichgewicht herstellen zwischen den Forderungen seiner Lebensziele und den Stößen der Außenwelt.

Die Konsequenzen für die Erziehung sind einschneidend. Kinder werden nicht primär mit Liebe umsorgt, sondern erzogen – und zwar so, dass sie frühzeitig mit jenem Kreiselkompass ausgestattet werden, der sie durch die Unwägbarkeiten ihres Lebensweges leiten soll. Selbst nach dem Verlassen des Elternhauses setzt sich diese Erziehung als Selbsterziehung fort. Der Gedanke, am eigenen Charakter arbeiten zu müssen, begleitet diese Menschen ihr Leben lang.

Riesman beschönigt die Härte dieses Systems nicht. Das Unbehagen im streng innen-geleiteten Elternhaus – die fehlende Nachsicht im Umgang mit Kindern – bereitet diese auf die Einsamkeit und das seelische Unbehagen vor, das sie später erwarten wird. Die Eltern bauen einen seelischen Kreiselkompass ein, geeicht nach ihren eigenen Maßstäben und denen anderer Autoritäten. Dabei besteht stets die Gefahr, dass sich die Drehzahl zu hoch oder zu niedrig einstellt – mit der Folge hysterischen Zusammenbruchs oder sozialen Versagens.

Doch Riesman belässt es nicht bei dieser düsteren Diagnose. Er sieht durchaus Auswege für jene, die sich nicht eindeutig typisieren lassen. Die moderne Arbeitswelt mit ihrer maschinellen Organisation übernimmt zunehmend Fähigkeiten, die einst mühselige handwerkliche und charakterliche Schulung erforderten. In Krankenhäusern, Anwaltskanzleien und Universitäten findet sich Raum nicht nur für jene, die sich auf den Umgang mit Menschen verstehen, sondern auch für sachorientierte Fachleute, die mit Formeln, Paragraphen und Ideen arbeiten – für Menschen, die es weder können noch wollen, mit den Wölfen zu heulen.

Riesmans Analyse der Innen-Lenkung bleibt auch heute bemerkenswert aktuell. Sie erinnert uns daran, dass die Freiheit von traditionellen Bindungen ihren Preis hat: die Last der ständigen Selbststeuerung, die Einsamkeit der Eigenverantwortung und das permanente Arbeiten am eigenen Charakter. Zugleich zeigt sie, dass die moderne Gesellschaft Nischen bereithält für jene, die sich den Zwängen sozialer Anpassung entziehen möchten – ein hoffnungsvoller Gedanke in einer Zeit, die oft nur Konformität zu kennen scheint.


Quelle:

Die einsame Masse (David Riesman)