Wie ein westfälischer Kleriker im 15. Jahrhundert das älteste Mechanik-Buch Westeuropas schrieb – und warum seine Wiederentdeckung unser Bild vom Mittelalter korrigiert

Erst 2006 gelang es, das Geheimnis um den Verfasser des ältesten Mechanik-Traktats Westeuropas zu lüften. Die Spur führte nach Werden an der Ruhr – und von dort in die Fürstenhöfe Norditaliens. Die Geschichte des Konrad Gruter zeigt, wie technisches Wissen im späten Mittelalter zirkulierte, wie Experimente scheiterten und dennoch produktiv wurden, und welche Rolle ein Benediktinerkloster in Westfalen dabei spielen konnte.


Ein verstecktes Akrostichon. Mehr brauchte es nicht, um ein Rätsel zu lösen, das Jahrhunderte überdauert hatte. Im Codex Vaticanus latinus 5961, einem prächtigen, reich illustrierten Maschinenbuch aus dem Jahr 1424, fanden drei deutsche Forscher 2006 jene Buchstabenfolge, die den Namen des Autors preisgab: Conradus Gruter de Werdena. Ein Mann aus Werden an der Ruhr, geboren um 1370 als Sohn einer Ministerialenfamilie des dortigen Benediktinerklosters, Verfasser des ältesten Mechanik-Traktats Westeuropas.

Die späte Identifikation ist symptomatisch. Sie verweist auf einen blinden Fleck in unserem historischen Bewusstsein: die Annahme, das Mittelalter sei eine Epoche technischer Stagnation gewesen. Gruters Werk, entstanden für Erik VII., König von Dänemark, Norwegen und Schweden, dokumentiert das Gegenteil. In drei Teilen behandelt es Wasserhebetechniken, Brunnenbau und verschiedene Arten von Mühlen – mit einer Präzision und einem Detailgrad, der Renaissance-Ingenieuren wie Leonardo da Vinci als Grundlage diente.

Die Karriere eines wandernden Ingenieurs

Konrad Gruters Lebensweg folgt einem Muster, das für die mittelalterliche Wissenszirkulation charakteristisch ist. Nach dem vermutlichen Besuch der Lateinschule des Klosters Werden studiert er zwischen 1391 und 1393 an der Universität Köln. Danach die entscheidende Zäsur: der Aufbruch nach Italien, wo er über drei Jahrzehnte bleiben wird.

Zunächst Rom. Sieben Jahre leitet Gruter am päpstlichen Hof unter Bonifatius IX. eine Art Versuchslabor. Der Gegenstand seiner Experimente: Hydrotechnik und – bemerkenswert – die Konstruktion eines Perpetuum mobile. Das Scheitern dieses Projekts ist dokumentiert. Doch gerade dieses Scheitern ist aufschlussreich. Es zeigt einen experimentellen Zugang zur Mechanik, der nicht bei der Lektüre antiker Autoritäten stehenbleibt, sondern praktisch testet, verwirft, weiterentwickelt.

Nach 1400 beginnt die Phase der Wanderschaft durch norditalienische Fürstenhöfe. Mailand, Modena, Ferrara, Padua, Camerino, Lucca, Florenz, Ravenna, Venedig – überall arbeitet Gruter als Berater und Experimentator. Die Archivfunde in Lucca, die Dietrich Lohrmann 2017 erschloss, dokumentieren diese Tätigkeit. Was sich hier abzeichnet, ist ein Typus: der mobile Spezialist, der sein Wissen nicht einer Institution, sondern verschiedenen Auftraggebern zur Verfügung stellt.

Das Maschinenbuch als Wissensmedium

1424 in Venedig entsteht das Prachtwerk. Der Auftraggeber, der dänische König, bereitet sich auf eine Pilgerreise nach Jerusalem vor. Das Buch soll ihn begleiten – tut es aber nie. Es verbleibt in Italien, gelangt 1623 in die päpstliche Bibliothek, wo es bis zur Identifikation 2006 ein Werk ohne bekannten Autor bleibt.

Die Form des Werkes verdient Aufmerksamkeit. „De aquarum conductibus, molendinis aliisque machinis et aedificiis“ – Von Wasserleitungen, Mühlen und anderen Maschinen und Gebäuden – ist kein theoretischer Traktat im scholastischen Sinn. Es ist ein visuell strukturiertes Kompendium praktischen Wissens. Die Illustrationen sind nicht Beiwerk, sondern konstitutiver Bestandteil der Wissensvermittlung. Sie zeigen Konstruktionsprinzipien, Kraftübertragungen, Mechanismen der Wasserhebung.

Hier manifestiert sich ein spezifischer epistemischer Modus: Die Verbindung von theoretischem Wissen (vermutlich antiker Herkunft über Vitruv und arabische Quellen) mit praktischer Erfahrung (gesammelt in dreißig Jahren Tätigkeit als Ingenieur) und visueller Darstellung (ermöglicht durch die Zusammenarbeit mit Illuminatoren). Das Maschinenbuch ist nicht Ausdruck eines individuellen Genies, sondern eines funktionierenden Wissensmilieus.

Die Bedingungen technischer Innovation

Drei strukturelle Voraussetzungen scheinen bei Gruters Erfolg zusammenzuwirken:

  • Erstens, die monastische Grundbildung. Das Benediktinerkloster Werden bietet Zugang zu Latein, zur Schriftkultur, vermutlich auch zu technischen Texten. Die Verbindung von Gelehrsamkeit und praktischem Handwerk – in monastischen Kontexten nie vollständig getrennt – schafft ein spezifisches Kompetenzprofil.
  • Zweitens, die horizontale Mobilität. Gruters Karriere ist nicht an eine Institution gebunden. Er bewegt sich zwischen verschiedenen Fürstenhöfen, sammelt unterschiedliche Erfahrungen, vergleicht Lösungen. Diese Mobilität ist kein Zeichen von Instabilität, sondern Voraussetzung für Wissenstransfer. Die italienischen Stadtstaaten und Fürstentümer konkurrieren um technische Expertise – und schaffen damit einen Markt für Spezialisten wie Gruter.
  • Drittens, die experimentelle Praxis. Die sieben Jahre in Rom, in denen Gruter am Perpetuum mobile scheitert, sind keine verlorene Zeit. Sie dokumentieren eine Haltung: Mechanik nicht als Anwendung überlieferter Regeln, sondern als iterativen Prozess von Versuch, Scheitern, Modifikation. Das päpstliche „Versuchslabor“ ist ein Schutzraum für diese Art des Arbeitens.
    Leonardo und die Kontinuität

Die Forschung hat nachgewiesen, dass Gruters Arbeiten den Renaissance-Ingenieuren bekannt waren. Besonders bei Leonardo da Vinci finden sich Weiterentwicklungen Gruterscher Ideen. Marc van den Broek widmet in seinem Buch „Leonardo da Vincis Erfindungsgeister“ (2018) der Verbindung ein eigenes Kapitel.

Diese Kontinuität ist bemerkenswert. Sie zeigt, dass technisches Wissen im 15. und 16. Jahrhundert nicht neu erfunden, sondern transformiert wurde. Leonardo ist nicht der einsame Erfinder, als der er im 19. Jahrhundert stilisiert wurde, sondern ein Knoten in einem Netzwerk, das bis nach Werden an der Ruhr zurückreicht.

Die Vorstellung eines radikalen Bruchs zwischen „dunklem Mittelalter“ und „aufgeklärter Renaissance“ erweist sich auch hier als Konstruktion. Was sich ändert, sind nicht die Praktiken des Experimentierens und Konstruierens, sondern ihre Sichtbarkeit, ihre Dokumentationsformen, ihre soziale Einbettung. Gruters Maschinenbuch von 1424 und Leonardos Codices sind Variationen eines ähnlichen Genres.

Das Verschwinden des Autors

Dass Gruters Werk 582 Jahre lang ohne eindeutig identifizierten Autor blieb, wirft eine letzte Frage auf: Was verschwindet, wenn nur das Werk überlebt, aber die Biographie verblasst?

Im Fall Gruters: die spezifische Kombination von Herkunft (Westfalen), Ausbildung (klösterlich-universitär), Praxis (päpstlicher Hof, italienische Fürstenhöfe) und Auftraggeber (dänischer König). All diese Elemente verweisen auf eine europäische Dimension technischen Wissens, die man für das 15. Jahrhundert nicht erwarten würde. Ein Mann aus Werden schreibt in Venedig für einen skandinavischen König ein Buch, das italienische Illuminatoren illustrieren und das ein Jahrhundert später einen florentinischen Künstler inspiriert.

Die Rekonstruktion dieser Zusammenhänge durch Lohrmann, Kranz und Alertz hat mehr geleistet als die Lösung eines philologischen Rätsels. Sie hat einen Prototyp freigelegt: den mobilen, experimentell arbeitenden Spezialisten, der Wissen nicht hortet, sondern zirkulieren lässt. Einen Typus, dessen Existenzbedingungen präzise zu analysieren wären – gerade weil er offenbar nicht dauerhaft reproduziert werden konnte.


Quellen:

Primärliteratur

Lohrmann, Dietrich / Kranz, Horst / Alertz, Ulrich (Hrsg.): Konrad Gruter von Werden: De machinis et rebus mechanicis. Ein Maschinenbuch aus Italien für den König von Dänemark. 1393–1424. 2 Bände (Bd. 1: Einleitung. Bd. 2: Edition.). Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 2006 (= Studi e testi. 428–429). ISBN 88-210-0786-3

Sekundärliteratur

Lohrmann, Dietrich: Das Maschinenbuch des Konrad Gruter für Erich VII., König von Dänemark (1424). In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Bd. 63, 2007, S. 71–92

Lohrmann, Dietrich: Wassertechnik bei Konrad Gruter von Werden (1424). In: Harald Roscher / Gilbert Wiplinger (Red.): Frontinus-Tagungen von 2008 – 2010 und weitere Beiträge (= Schriftenreihe der Frontinus-Gesellschaft. H. 28). Bonn: Frontinus-Gesellschaft 2011, S. 73–94

Lohrmann, Dietrich: Der Ingenieur Konrad Gruter von Werden in Ferrara, Venedig, Lucca und Pietrasanta (ca. 1402–1424). In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Bd. 97, Nr. 1, 2017, S. 135–158

Kranz, Horst: Von Werden an der Ruhr nach Lucca. Ein rheinischer Ingenieur und Autor im spätmittelalterlichen Italien. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein. Bd. 205, 2002, S. 49–64

Broek, Marc van den: Leonardo da Vincis Erfindungsgeister. Eine Spurensuche. Mainz: Nünnerich-Asmus Verlag 2018, S. 30–31, 235. ISBN 978-3-961760-45-9

Rezensionen

Rezension der Edition (2006) in: Bibliothèque de l’École des chartes, Bd. 165, 2007, S. 241–244 (Persée)
Online-Ressourcen

Wikipedia: Konrad Gruter. https://de.wikipedia.org/wiki/Konrad_Gruter (abgerufen am 23.11.2025)