Köln war einmal die größte Stadt des Deutschen Reiches, ein Finanzplatz vor Frankfurt, eine Handelsmetropole vor Hamburg. Wo im Mittelalter die ersten Bankiers Europas residierten und im 19. Jahrhundert Universalbanken die Industrialisierung des Ruhrgebiets finanzierten, herrscht heute provinzielle Bedeutungslosigkeit. Die Geschichte dieses Niedergangs erzählt von einer spezifisch rheinischen Misere: dem Klüngel als System organisierter Mittelmäßigkeit – einem Phänomen, das ausgerechnet dann entstand, als die Stadt ihre wirtschaftliche Substanz verlor.


Die Erzählung vom wirtschaftlichen Niedergang deutscher Städte folgt meist einem bekannten Muster: Weltkriegszerstörungen, Strukturwandel, Globalisierung. Doch Kölns Abstieg offenbart ein tieferes strukturelles Versagen, das erst im historischen Kontrast seine volle Schärfe gewinnt. Denn Köln war nicht irgendeine Industriestadt, die den Anschluss verpasste – es war über Jahrhunderte hinweg die bedeutendste Wirtschaftsmetropole des deutschen Sprachraums, ein Finanzplatz, der Frankfurt um Jahrhunderte voraus war, ein Handelszentrum, dessen Kaufleute in ganz Europa präsent waren.

Im Mittelalter war Köln die mit Abstand größte Stadt im Deutschen Reich, ein zentraler Verkehrsknotenpunkt und Umschlagplatz für Waren aller Art. Bereits im 3. Jahrhundert siedelten sich die ersten Bankiers an. Im Mittelalter finanzierte Gerhard Unmaze, der als Mitbegründer des Kölner Bankwesens gilt, den Italienzug Friedrich Barbarossas. Die Stadt war neben Lübeck das Haupt der Hanse, ihre Kaufleute dominierten den Londoner Stahlhof. Nach Augsburg und Nürnberg hatte Köln die drittälteste Börse Deutschlands. Die Bankiersfamilie Hackeney wurde wegen ihres Reichtums die „Fugger von Köln“ genannt.

Diese Dominanz setzte sich bis ins 19. Jahrhundert fort. Während Frankfurter Banken sich auf Staatsanleihen konzentrierten, betrieben Kölner Privatbankiers bereits in den 1830er Jahren erfolgreich Universalbankgeschäfte mit Schwerpunkt auf Industriefinanzierung. Sie finanzierten die Textil- und Montanindustrie, den Eisenbahnbau, vor allem aber die Industrialisierung des Ruhrgebiets. Im Bereich der Industriefinanzierung, des Konsortial- und Emissionsgeschäfts nahm das Kölner Bankwesen nach Berlin die zweite Stelle in Deutschland ein. Namen wie Sal. Oppenheim (gegründet 1789), J.H. Stein oder der A. Schaaffhausen’sche Bankverein repräsentierten eine Finanzelite, die deutsche Wirtschaftsgeschichte prägte.

Doch Köln war mehr als nur Finanzplatz – es war im 19. Jahrhundert ein Zentrum technischer Innovation und industriellen Unternehmertums, dessen Bedeutung heute weitgehend vergessen ist. In dieser Zeit entstanden jene Unternehmen und Persönlichkeiten, die nicht nur Kölns industrielle Größe begründeten, sondern deutsche Technik- und Wirtschaftsgeschichte schrieben.

Die zentrale Figur dieser Epoche war Eugen Langen, Sohn des Zuckerfabrikanten Johann Jakob Langen. Eugen Langen verkörperte den Typus des technisch gebildeten, visionären Unternehmers, der wissenschaftliche Erkenntnis in industrielle Anwendung übersetzte. 1864 wurde er auf Nicolaus August Otto aufmerksam, einen Kaufmann, der in seiner Freizeit an der Verbesserung des Gasmotors arbeitete. Langen erkannte das Potenzial sofort und gründete mit Otto bereits einen Monat später die erste Motorenfabrik der Welt, „N. A. Otto & Cie.“. Auf der Pariser Weltausstellung 1867 erhielt ihr verbesserter Gasmotor die Goldmedaille.

Als diese erste Fabrik in Konkurs ging, gründete Langen in Deutz mit Fremdkapital eine neue Firma – die Gasmotorenfabrik Deutz, aus der später der Konzern Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD) hervorging. Um die Produktion zu sichern, verpflichtete Langen zwei Mechaniker: Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach. In Deutz, am rechten Rheinufer, entwickelte Otto mit diesen beiden Ingenieuren den Verbrennungsmotor – eine der folgenreichsten technischen Innovationen der Moderne. Doch hier zeigt sich bereits das verhängnisvolle Muster: Daimler und Maybach gingen später nach Stuttgart und schufen dort das Fundament der deutschen Automobilindustrie. Köln erfand den Verbrennungsmotor, aber die automobile Revolution fand woanders statt.

Parallel baute Langen ein zweites Industrieimperium auf. 1870 gründete er zusammen mit Emil Pfeifer und dessen Sohn Valentin die Firma Pfeifer & Langen, einen Zuckerfabrikationskonzern. Langen erfand das „Langensche Würfelverfahren“ zur Zuckerproduktion – den Würfelzucker, der sich weltweit durchsetzte. Mit seinen technischen Kenntnissen setzte er modernste Produktionsmethoden ein und machte Pfeifer & Langen zu einem der führenden Zuckerunternehmen Europas. Das Unternehmen existiert bis heute als drittgrößter deutscher Zuckerproduzent – einer der wenigen Überlebenden aus jener Gründerzeit.

Langen war zudem im Bereich des Schienenfahrzeugbaus tätig und entwickelte die Schwebebahn, die in Wuppertal realisiert wurde. Er war Vorsitzender des Vereins Deutscher Ingenieure, Förderer von Kolonialgesellschaften – ein Unternehmer von nationaler Bedeutung. Doch seine Bedeutung reichte weit über einzelne Erfindungen hinaus: Er repräsentierte eine Kölner Unternehmerschicht, die technische Innovation mit industrieller Umsetzung verband, die Kapital mobilisierte, internationale Netzwerke knüpfte und Köln als Industriestandort etablierte.

Neben der Motoren- und Zuckerindustrie entwickelte sich im 19. Jahrhundert auch die Kölner Chemieindustrie. 1858 wurde die Chemische Fabrik Vorster & Grüneberg gegründet, später als Chemische Fabrik Kalk (CFK) bekannt. Sie wurde zeitweise der zweitgrößte Sodaproduzent Deutschlands und mit bis zu 2400 Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber im rechtsrheinischen Kölner Stadtgebiet. Die Farben- und Duftstoffindustrie siedelte sich an, nutzte die Nähe zum Absatzmarkt und die günstige Verkehrslage. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verschoben sich die Gewichte in der Kölner Wirtschaft deutlich: Die Metall- und Chemieindustrie wurde relevanter als Textilindustrie und Zuckersiederei.

Was all diese Unternehmen und Unternehmer gemeinsam hatten: Sie machten Köln zu einem Zentrum industrieller Innovation. Sie verbanden wissenschaftliche Forschung mit praktischer Anwendung, sie mobilisierten Kapital für langfristige Investitionen, sie schufen Industrieimperien mit europäischer Reichweite. Und – das ist entscheidend – von jenem Phänomen, das heute als „kölscher Klüngel“ folklorisiert wird, war im 19. Jahrhundert nichts zu spüren. Die Unternehmerkultur jener Zeit war leistungsorientiert, international vernetzt, technologisch ambitioniert. Eugen Langen studierte am Polytechnikum in Karlsruhe, arbeitete mit französischen und englischen Ingenieuren zusammen, orientierte sich an internationalen Märkten. Die Kölner Privatbanken finanzierten das Ruhrgebiet nach betriebswirtschaftlichen Kalkülen, nicht nach persönlichen Gefälligkeiten.

Der Klüngel, wie wir ihn heute kennen – dieses System aus persönlichen Beziehungen, gegenseitigen Abhängigkeiten, lokalen Loyalitäten und Vetternwirtschaft – ist kein historisches Kontinuum, sondern eine Erfindung der Nachkriegszeit. Er entstand nicht als Ausdruck rheinischer Geselligkeit, sondern als Kompensationsmechanismus für den Verlust echter wirtschaftlicher Macht. Und darin liegt die eigentliche Tragik: Der Klüngel trat an die Stelle jener Substanz, die er zu ersetzen vorgab.

Nach 1945 stand Köln vor der Wahl: entweder eine strategische industrielle Rekonstruktion nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts – Kapitalmobilisierung, technologische Innovation, internationale Ausrichtung – oder die Verwaltung des Niedergangs durch persönliche Netzwerke. Die Stadt wählte den zweiten Weg, ohne dass dies je als bewusste Entscheidung artikuliert worden wäre. Der halbherzige, visionlose Wiederaufbau, bei dem Industrieanlagen nicht rekonstruiert, sondern abgerissen und in Dienstleistungs- und Logistikflächen umgewandelt wurden, schuf ein wirtschaftliches Vakuum. In diesem Vakuum entstand der Klüngel als informelle Struktur zur Verteilung von Ressourcen, Posten und Einfluss.

Wo im 19. Jahrhundert Unternehmer wie Langen aufgrund ihrer technischen Expertise und unternehmerischen Vision reüssierten, zählten nun persönliche Beziehungen. Wo früher Banken Kredite nach Geschäftsmodellen und Profitabilität vergaben, spielten nun Verbindungen und Gefälligkeiten die entscheidende Rolle. Wo einst internationale Märkte und technologische Exzellenz die Maßstäbe setzten, wurde die Fähigkeit wichtig, sich in lokalen Netzwerken zu bewegen, Kompromisse auszuhandeln, Interessen auszubalancieren.

Der Klüngel funktionierte – solange die Welt überschaubar blieb und externe Herausforderungen begrenzt waren. Er ermöglichte in den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders eine Art von Stabilität, eine Berechenbarkeit von Abläufen, eine soziale Integration. Doch er tat dies auf Kosten von Innovation, Leistung und strategischer Weitsicht. Im Klüngel geht es nicht um Excellence, sondern um Loyalität. Nicht um Disruption, sondern um Besitzstandswahrung. Nicht um die beste Lösung, sondern um den tragfähigen Kompromiss. Der Klüngel bevorzugt das Mittelmaß, weil Exzellenz das fragile Gleichgewicht stört.

Der Fall der Privatbank Sal. Oppenheim illustriert diese Mechanismen auf besonders eindrückliche Weise. Hier wurde der rheinische Klüngel in seiner ganzen destruktiven Wirkung sichtbar – nicht als harmlose Folklore, sondern als System, das eine jahrhundertealte Institution in den Abgrund trieb. Die Privatbank, gegründet 1789, die im 19. Jahrhundert die Industrialisierung des Rheinlands finanzierte, kollabierte nicht an Marktveränderungen oder externen Schocks, sondern an der inneren Erosion durch ein Netzwerk aus persönlichen Abhängigkeiten, Interessenkonflikten und lokalen Loyalitäten, das jede strategische Neuausrichtung verhinderte.

Der Niedergang von Oppenheim ist exemplarisch, weil er zeigt, wie der Klüngel konkret funktioniert: Die Bank wurde zum Spielfeld konkurrierender Familieninteressen, bei denen persönliche Beziehungen wichtiger waren als bankfachliche Kompetenz. Statt sich als europäisches Finanzinstitut zu positionieren und die notwendigen Strukturreformen durchzusetzen, wurde die Bank durch das Geflecht lokaler Verbindungen gelähmt. Die Verstrickungen zwischen Bank, Vermögensverwaltern wie Esch Funds & Advisory und Kölner Wirtschaftskreisen schufen ein System, in dem niemand bereit war, die harten Entscheidungen zu treffen, die für das Überleben notwendig gewesen wären.

Das Verhältnis zur Vermögensverwaltung Esch war dabei symptomatisch: Hier überlappten sich geschäftliche und persönliche Beziehungen derart, dass klare Trennlinien verschwanden. Im Klüngel gibt es keine saubere Unterscheidung zwischen Geschäftspartner, Freund und Interessenkonflikt. Alles fließt ineinander, alles wird über persönliche Kanäle geregelt, formale Strukturen werden durch informelle Absprachen ausgehöhlt. Was nach außen als Geschäftsbeziehung erscheint, ist in Wahrheit Teil eines dichten Netzes gegenseitiger Verpflichtungen, in dem niemand dem anderen weh tun will, weil man sich ja morgen beim Rosenmontagszug oder im Rotary Club wiedersieht.

Diese Struktur verhinderte systematisch jene Governance, die eine moderne Bank benötigt. Entscheidungen fielen nicht nach strategischen Kriterien oder nach den Interessen der Kunden und Aktionäre, sondern nach den Logiken persönlicher Netzwerke. Wer gehörte zum richtigen Kreis? Wer hatte die richtigen Verbindungen? Wer musste geschont werden, weil die Familie seit Generationen bekannt war? Im Klüngel ersetzt Herkunft Leistung, Loyalität Kompetenz, persönliches Vertrauen institutionelle Kontrolle.

Als die Finanzkrise kam und globale Märkte, institutionelle Investoren und regulatorische Standards die gemütliche Welt persönlicher Absprachen zerstörten, hatte die Bank keine Substanz mehr, auf die sie sich hätte stützen können. Die Strukturen waren ausgehöhlt, die Governance mangelhaft, die strategische Ausrichtung unklar. Was blieb, waren persönliche Beziehungen – doch die halfen nicht, als die Deutsche Bank als Retter einspringen musste und letztlich die traditionsreiche Privatbank verschwand.

Der Fall Oppenheim/Esch zeigt den Klüngel in Reinform: ein System, das nach innen durch persönliche Loyalitäten zusammengehalten wird, aber nach außen keine Antworten auf strukturelle Herausforderungen hat. Ein System, das Innovation verhindert, weil jede Veränderung das fragile Gleichgewicht stört. Ein System, das Mittelmäßigkeit systematisiert, weil Exzellenz die etablierten Netzwerke bedroht. Und ein System, das den Niedergang verwaltet, statt ihn zu verhindern.

Ähnlich erging es der Chemischen Fabrik Kalk, die 1993 geschlossen wurde, weil – wie es in den Quellen heißt – „versäumt worden war, die Fabrik zu modernisieren und neue Produkte einzuführen“. Was hier als technisches Versäumnis erscheint, ist in Wahrheit ein systemisches: Im Klüngel gibt es keine Dringlichkeit für radikale Modernisierung, keine Notwendigkeit für riskante Innovation. Solange die persönlichen Beziehungen funktionieren, solange die öffentlichen Aufträge fließen, solange die lokalen Märkte geschützt sind, besteht kein Anreiz zur Transformation. Der Klüngel schafft eine Illusion von Stabilität, die verhindert, dass notwendige Veränderungen rechtzeitig erkannt und umgesetzt werden.

Und hier zeigt sich das Perfide: Der Klüngel wird heute als harmlose Folklore verkauft, als rheinische Eigenart, als Ausdruck von Geselligkeit und Menschlichkeit. „Jeder kennt jeden“, „man hilft sich“, „persönliche Beziehungen öffnen Türen“ – diese Narrative verschleiern die destruktive Wirkung eines Systems, das systematisch Leistung durch Loyalität, Kompetenz durch Beziehungen, strategisches Denken durch taktisches Lavieren ersetzt. Die Folklorisierung des Klüngels ist seine wirkungsvollste Verteidigungsstrategie: Wer ihn kritisiert, gilt als humorlos, als Außenseiter, als jemand, der die rheinische Mentalität nicht versteht.

Doch der historische Vergleich zeigt: Im 19. Jahrhundert, als Köln prosperierte, gab es diesen Klüngel nicht. Eugen Langen baute keine Industrieimperien durch persönliche Gefälligkeiten, sondern durch technische Innovation und unternehmerische Vision. Die Kölner Privatbanken dominierten nicht durch lokale Netzwerke, sondern durch finanzielle Expertise und internationale Vernetzung. Die Chemische Fabrik Kalk wurde nicht durch Beziehungen zum zweitgrößten Sodaproduzenten Deutschlands, sondern durch industrielle Effizienz und Produktqualität.

Der Klüngel ist also keine historische Konstante, sondern ein Symptom des Niedergangs. Er entstand, als die Substanz verschwand. Er stabilisierte nicht etwa eine erfolgreiche Wirtschaftskultur, sondern verwaltete deren Auflösung. Und er verhinderte systematisch jene Art von Erneuerung, die notwendig gewesen wäre, um Köln als bedeutenden Wirtschaftsstandort zu erhalten.

An die Stelle echter Wertschöpfung trat die Inszenierung von Bedeutung. Köln versucht sich heute als „Medienmetropole“ zu verkaufen – eine Selbstdarstellung, die das gleiche Verschleierungsmuster aufweist wie die Folklorisierung des Klüngels. Gewiss, Köln besitzt mit über 30 Prozent den höchsten Produktionsanteil am Fernsehprogramm in Deutschland. Hier haben sich der WDR, RTL und zahlreiche Produktionsfirmen angesiedelt. Doch bei näherer Betrachtung offenbart sich auch hier die altbekannte Struktur: keine strategische Kontrolle, keine echte Entscheidungsmacht, keine eigenständige Wertschöpfung.

Der WDR ist eine öffentlich-rechtliche Anstalt, deren Existenz sich politischen Entscheidungen und medialem Föderalismus verdankt, nicht der Innovationskraft Kölner Unternehmer. Die strategischen Weichenstellungen für die ARD fallen in München und Hamburg, die Programmentscheidungen unterliegen politischen Gremien, die Finanzierung erfolgt über den Rundfunkbeitrag unabhängig von Marktleistung. Der WDR ist in Köln, weil nach 1945 die britische Besatzungszone hier ihre Rundfunkanstalt errichtete – eine Zufälligkeit der Geschichte, kein Ergebnis wirtschaftlicher Dynamik.

RTL wiederum gehört zur Bertelsmann-Gruppe mit Sitz in Gütersloh. Die strategischen Entscheidungen über Programm, Budget und Ausrichtung fallen nicht in Köln, sondern in der Konzernzentrale. Köln ist Produktionsstandort, nicht Entscheidungszentrum. Und selbst diese Position ist fragil: RTL steht für jene Art von niedrigschwelligem Unterhaltungsfernsehen, das zunehmend an Relevanz verliert.

Dschungelcamp, Scripted Reality, Castingshows – ein Programm, mit dem sich international kaum punkten lässt. Die Fernsehbranche steht unter dem Druck von Streaming-Diensten, die Werbeeinnahmen erodieren, die Relevanz linearen Fernsehens schwindet. RTL mag physisch in Köln präsent sein, aber die Zukunft der Medienindustrie wird in Silicon Valley, in Los Angeles, in Seoul entschieden – nicht in Köln.

Die Medienindustrie folgt damit exakt jenem Muster, das bereits bei Banken, Versicherungen und Industrie zu beobachten war: Köln beherbergt operative Funktionen, während strategische Macht anderswo konzentriert ist. Es gibt keine Kölner Streaming-Plattform, die Netflix Konkurrenz macht. Es gibt keine Kölner Content-Produktionsfirma mit globaler Reichweite. Es gibt keinen Kölner Medienkonzern, der internationale Märkte erobert. Was es gibt, sind Zweigstellen, Produktionsstätten, regionale Studios – Funktionen ohne Gestaltungsmacht.

Die Selbstinszenierung als Medienmetropole verschleiert, dass Köln auch in diesem Sektor in einer subalternen Position verharrt. Man verwaltet, was andere entschieden haben. Man produziert, was andere konzipiert haben. Man beschäftigt Menschen in einem Sektor, dessen strategische Ausrichtung extern gesteuert wird. Die „Medienstadt Köln“ ist damit ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Selbsttäuschung – ähnlich wie der Klüngel als Folklore präsentiert wird, obwohl er Innovation blockiert, wird die Medienbranche als Erfolgsgeschichte verkauft, obwohl sie nur die Abhängigkeit von fremden Entscheidungen illustriert.

Dieses Muster durchzieht die gesamte Kölner Wirtschaftsgeschichte nach 1945. Die Namen, die heute nur noch als Straßenschilder existieren, repräsentieren eine verschwundene Welt: Die Gerling-Versicherungen, einst einer der führenden europäischen Versicherungskonzerne. Otto Wolff, der Eisengroßhändler und Industrielle. Stollwerck und die Familie Imhoff, die Köln zum Zentrum deutscher Schokoladenproduktion machten. Die Klöckner-Humboldt-Deutz, jene Motorenfabrik, die Eugen Langen und Nikolaus Otto gegründet hatten und die einmal zu den bedeutendsten ihrer Art weltweit zählte. Ford in Niehl mag noch produzieren, aber die strategischen Entscheidungen fallen in Dearborn.

Was heute als Strukturwandel bezeichnet wird – der Übergang von Industrie zu Dienstleistung, von Produktion zu Medien – verdeckt eine fundamentale Schwäche: Eine Stadt ohne eigene Entscheidungsmacht wird abhängig von Strategien, die anderswo entwickelt werden. Köln ist heute eine Dienstleistungsstadt, gewiss. Aber die entscheidende Frage ist: welche Art von Dienstleistungen?

In der funktionalen Hierarchie deutscher Wirtschaftsstandorte hat sich Frankfurt als dominanter Finanzplatz etabliert: Hier sitzt die Europäische Zentralbank, hier haben die großen Investmentbanken ihre Deutschlandzentralen, hier werden die strategischen Finanzentscheidungen getroffen. Frankfurt kontrolliert die Kommandohöhen der deutschen Finanzwirtschaft.

Köln hingegen hat Dienstleistungen – aber eben nicht jene, die strategische Macht verleihen. Die Stadt hat Banken, aber es sind Zweigstellen. Sie hat Versicherungen, aber die Konzernzentralen sitzen anderswo. Sie hat Medienunternehmen, aber die sind entweder öffentlich-rechtlich finanziert oder extern gesteuert und auf Massenunterhaltung spezialisiert. Was in Köln stattfindet, ist operative Abwicklung, nicht strategische Steuerung. Es sind die Backoffices, nicht die Boardrooms. Die Sachbearbeitung, nicht die C-Suite. Die Programmproduktion, nicht die Plattformentscheidung.

Diese funktionale Unterordnung ist umso bemerkenswerter, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Köln historisch der führende Finanzplatz war – vor Frankfurt. Die Stadt finanzierte die Industrialisierung des Ruhrgebiets. Eugen Langen gründete die erste Motorenfabrik der Welt. Gerhard Unmaze lieh deutschen Kaisern Geld. Die Kölner Börse war die drittälteste Deutschlands. Doch diese historische Bedeutung wurde verspielt – nicht durch Katastrophen, sondern durch ein System, das Mittelmäßigkeit systematisierte und den Verlust von Substanz durch folkloristische Inszenierung kompensierte.

Was bleibt, ist eine Stadt, die wirtschaftlich lebt, aber nicht wirtschaftlich entscheidet. Die Beschäftigung bietet, aber keine Karriereperspektiven an der Spitze. Die Fernsehsendungen produziert, aber keine Streaming-Plattformen schafft. Die Dienstleistungen erbringt, aber keine Dienstleistungsmacht aufbauen konnte. Im deutschen Städtesystem ist Köln zur Peripherie geworden – nicht geografisch, aber funktional. Und der Klüngel, der als Lösung präsentiert wurde, war in Wahrheit Teil des Problems, während die Selbstdarstellung als Medienmetropole nur die neueste Version der Selbsttäuschung darstellt.

Die aktuellen Belastungen – hohe Energiekosten, bürokratische Hürden, geschwächte Inlandsnachfrage – wirken auf diese geschwächte Struktur wie Beschleuniger eines längst eingesetzten Verfalls. Der Online-Handel trifft eine Stadt, die ihre Messe- und Handelsfunktion nie zu einem digitalen Ökosystem weiterentwickelt hat. Die Digitalisierung der Logistik führt nicht zu Kölner Plattformen, sondern zur weiteren Integration in globale Netzwerke, deren Schaltstellen anderswo liegen. Und die Medienwelt wandert ins Netz ab – dorthin, wo Köln keine Rolle spielt.

Köln ist damit zum Menetekel für ein doppeltes Versagen geworden: die allgemeine deutsche Unfähigkeit, industrielle Transformation als strategische Aufgabe zu begreifen, und die spezifisch rheinische Erfindung eines Systems, das Substanz durch Beziehungen ersetzte und diesen Mangel als Folklore verkaufte. Der Niedergang vollzieht sich nicht als dramatischer Kollaps, sondern als schleichende Provinzialisierung.

Eine Stadt, die einmal größer war als Paris, die Europa finanzierte und die Hanse dominierte, in der Eugen Langen die erste Motorenfabrik der Welt gründete und den Verbrennungsmotor zur Reife brachte, ist heute eine Agglomeration ohne ökonomisches Zentrum, ohne strategische Entscheidungsmacht, ohne die Fähigkeit, ihre eigene wirtschaftliche Zukunft zu gestalten. Die Namen der verschwundenen Unternehmen sind nicht nur Wirtschaftsgeschichte – sie sind Grabsteine einer tausendjährigen Tradition, die in zwei Generationen verspielt wurde, während der Klüngel als gemütliche Folklore und Trash-TV als Medienmetropole das Versagen verbrämen.


Quellen: 

Die Geschichte des Kölner Bankwesens

„Kraft für die Welt. 1864-1964 Klöckner-Humboldt-Deutz AG“ von Gustav Goldbeck

Eugen Langen

Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Langen
Abgerufen: November 2025

Inhalt: Biographie Eugen Langen (1833-1895), Gründung der Gasmotorenfabrik Deutz mit Nicolaus Otto, Entwicklung des Verbrennungsmotors, Zusammenarbeit mit Daimler und Maybach, Gründung von Pfeifer & Langen, Erfindung des Würfelzuckers

Pfeifer & Langen

Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Pfeifer_%26_Langen
Abgerufen: November 2025

Inhalt: Unternehmensgeschichte seit 1870, Gründer Emil Pfeifer, Valentin Pfeifer und Eugen Langen, Zuckerproduktion, Standorte, Entwicklung bis heute

Wirtschaft Kölns

Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaft_K%C3%B6lns

Inhalt: Chemieindustrie im 19. Jahrhundert, Gasmotorenfabrik Deutz/KHD, Automobilindustrie, Medienstandort

Chemische Fabrik Kalk

Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Chemische_Fabrik_Kalk
Inhalt: Gründung 1858, Entwicklung zum zweitgrößten Sodaproduzenten Deutschlands, Schließung 1993

Weitere Online-Quellen

Chemische Fabrik Kalk (CFK) – Objektansicht

KuLaDig (Kultur.Landschaft.Digital.), https://www.kuladig.de/Objektansicht/O-80276-20131127-5
Inhalt: Bedeutung der CFK für die Entwicklung des Stadtteils Kalk, Beschäftigtenzahlen, regionale Wirtschaftsgeschichte

Eine ganz normale Stadt. Ein Blick in die Kölner Geschichte

Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/239702/eine-ganz-normale-stadt-ein-blick-in-die-koelner-geschichte/
Datum: 6. Januar 2017

Inhalt: Industrialisierung Kölns im 19. Jahrhundert, Metall- und Chemieindustrie, Farben- und Chemieindustrie

Die Chemie Region

ChemCologne, https://www.chemierheinland.de/die-chemie-region
Inhalt: Chemiestandort Rheinland, Duftstoffindustrie seit dem 18. Jahrhundert, Chemieparks

INEOS in Köln – Unternehmen

INEOS Köln, https://www.ineoskoeln.de/unternehmen/
Inhalt: Geschichte des Chemiestandorts seit 1957, aktuelle Bedeutung

Verwendete Konzepte und Theorien

Systemtheorie (Niklas Luhmann) – im Kontext der Analyse von Organisationsstrukturen
Managementtheorie (Peter Drucker) – im Kontext von Unternehmensführung und Innovation
Soziologische Kapitaltheorie (Pierre Bourdieu) – im Kontext der Analyse von sozialem Kapital und Netzwerken