Warum Hierarchie keine Netzwerke schafft – und deutsche Kooperation am Zwang scheitert

Im 13. Jahrhundert verstanden Hansekaufleute eine ökonomische Grundwahrheit: Netzwerke funktionieren durch horizontale Kooperation, reziprokes Vertrauen und intrinsischen Wert. Über 500 Jahre bewies die Hanse, dass n²-Effekte nur bei struktureller Gleichheit entstehen.

Heute versucht die deutsche Automobilindustrie mit Catena-X, ein Datenökosystem zu schaffen – und repliziert dabei exakt die Fehler, an denen die Hanse nie gelitten hätte: Hierarchie statt Horizontalität, erzwungene Teilnahme statt freiwilliger Kooperation, asymmetrische Machtverteilung statt Reziprozität.

Fast 200 Mitglieder, 100 Millionen Euro Förderung, internationale Expansion – die Zahlen klingen beeindruckend. Aber sie verschleiern drei strukturelle Unmöglichkeiten: Vertikale Hierarchien können keine horizontalen Netzwerkeffekte erzeugen. Jahrzehntelang ausgebeutete Zulieferer vertrauen ihren Ausbeutern nicht. Und regulatorischer Zwang erzeugt Minimalkonformität, keine Innovation.

Eine Analyse darüber, warum deutsche Unternehmen systematisch unfähig sind, Netzwerkwert zu verstehen – und warum sie aus Catena-X erst lernen werden, nachdem es gescheitert ist.


I. Die Hanse: Anatomie eines funktionierenden Netzwerks

Im 13. Jahrhundert begriffen Fernhandelskaufleute eine fundamentale ökonomische Wahrheit: Der Wert eines Netzwerks übersteigt exponentiell die Summe seiner Teile. Ein Lübecker Kaufmann ohne Hanse hatte keinen Zugang zu Nowgorod, Bergen oder Brügge. Mit Hanse besaß er Kontore, Rechtsschutz, Konvoischutz, Kreditwürdigkeit und Marktinformationen. Die Rechnung war simpel: Autonomieverzicht (Unterordnung unter Hanseregeln) gegen Netzwerkzugang. Der Return on Investment war messbar – die Alternative war existenzielles Scheitern.

Über fünf Jahrhunderte funktionierte dieses Modell aus drei Gründen, die heute systematisch fehlen:

  • Strukturelle Gleichheit: Hansekaufleute waren weitgehend ebenbürtig. Lübeck hatte Vorteile durch geografische Lage und akkumulierte Erfahrung, aber keine strukturelle Dominanz. Jeder Kaufmann konnte mit jedem anderen direkt handeln, Allianzen bilden, Routen wählen. Die Netzwerklogik war: n Akteure, n²-Verbindungen möglich. Das ist echte Horizontalität.
  • Reziprokes Vertrauen: Die Hanse baute Vertrauen nicht durch Verträge, sondern durch Gegenseitigkeit auf. Jeder gab etwas (Beiträge für Kontore, Unterordnung unter Hanserecht), jeder bekam etwas (Marktzugang, Schutz, Information). Die Tauschbedingungen waren fair, weil keine Seite strukturelle Macht hatte, die andere auszubeuten.
  • Intrinsischer Wert: Die Hanse war existenziell notwendig. Ohne Kontor in Nowgorod kein Pelzhandel. Ohne Konvoischutz Tod durch Piraterie. Ohne Hanserecht Willkür der Fürsten. Der Netzwerkwert war nicht abstrakt, sondern konkret messbar am Überleben des Handelshauses.

Diese drei Faktoren – Horizontalität, Reziprozität, intrinsischer Wert – schufen ein System, in dem Netzwerkeffekte tatsächlich funktionierten. Jeder neue Hansekaufmann erhöhte den Wert für alle anderen. Metcalfes n²-Gesetz galt, weil die Struktur es zuließ.

II. Die Arithmetik der Verweigerung: Deutsches Kooperationsversagen

Moderne Netzwerkökonomie quantifiziert, was Hansekaufleute intuitiv wussten: Der Wert eines Netzwerks steigt mit n² (Metcalfes Gesetz), während die Kosten nur mit n steigen. Jeder zusätzliche Teilnehmer erhöht den Wert für alle anderen überproportional. Dieser Netzwerkeffekt ist die ökonomische Grundlage digitaler Plattformen von Alibaba bis Amazon.

Deutsche Unternehmen operieren jedoch mit einer additiven Kooperationslogik: Netzwerk = Summe der Einzelinteressen. Dabei gilt in Netzwerkökonomien: Netzwerkwert ≠ Σ(Einzelwerte), sondern entsteht durch emergente Eigenschaften der Interaktion.

Das strukturelle Missverständnis zeigt sich prototypisch bei allen deutschen Plattforminitiativen der letzten Jahre – Gaia-X, ADAMOS, Tapio, Wero/paydirekt, jetzt Catena-X:

Phase 1: Konsensfiktion

Man einigt sich auf ein gemeinsames Ziel (Datenökosystem, digitale Souveränität, europäische Alternative). Die Initiative wird mit Fördermitteln gestartet, Pressemitteilungen verkünden den Aufbruch.

Phase 2: Standardkrieg

Jeder Großakteur versucht, seine proprietären Systeme als Netzwerkstandard zu etablieren. Bei Catena-X: BMW will seine Datenarchitektur, VW seine Prozesslogik, Bosch seine technischen Spezifikationen durchsetzen. Das Ziel ist nicht Interoperabilität, sondern kostenfreie Durchsetzung eigener Standards.

Die implizite Kalkulation: „Wenn mein System der Standard wird, habe ich 0% Anpassungskosten und 100% Netzwerkzugang.“ Dass diese Rechnung für maximal einen Akteur aufgehen kann, wird ignoriert.

Phase 3: Minimalkonsens oder Blockade

Da niemand nachgibt, entsteht entweder ein Minimalkonsens (kleinster gemeinsamer Nenner, der niemandem wehtut, aber auch keinen Wert schafft) oder komplette Blockade. Bei Gaia-X: Blockade. Bei Catena-X: Kompromiss, aber nur unter externem Zwang.

Phase 4: Externe Intervention

Erst wenn ein externer Akteur (Regulator, dominanter Kunde) Druck ausübt, entsteht Bewegung. Bei Catena-X: Die EU-Verordnung zum Digital Product Passport (DPP) ab 2027 und OEM-Vertragsklauseln. Ohne diese Interventionen wäre Catena-X gescheitert wie Gaia-X.

Das ökonomische Missverständnis

Deutsche Konzerne denken:

Szenario A (Wunsch):

Meine Systeme werden Standard
Meine Anpassungskosten: 0
Mein Netzwerkzugang: 100%
Meine Position: dominant

Szenario B (Realität bei Kooperation):

Gemeinsamer Standard
Meine Anpassungskosten: 100
Mein Netzwerkzugang: 100%
Meine Position: gleichberechtigt

Jedes Unternehmen präferiert A über B. Da A aber nur für einen möglich ist, blockieren sich alle gegenseitig. Das Ergebnis ist Szenario C:

Szenario C (Faktisch):

Kein funktionierendes Netzwerk
Meine Anpassungskosten: variabel (Insellösungen)
Mein Netzwerkzugang: 0%
Meine Position: isoliert

Ökonomisch ist B >> C, aber kognitiv dominiert die Hoffnung auf A die Entscheidungsfindung. Das ist die Arithmetik der Verweigerung: Man verzichtet auf sicheren Netzwerkwert (B), um die Chance auf kostenlosen Netzwerkzugang (A) zu wahren, und landet bei Wertvernichtung (C).

Warum sich deutsche Unternehmen so systematisch selbstzerstörerisch verhalten:

  • Hierarchische Kontrollillusion: Deutsche Unternehmenskultur ist geprägt von vertikaler Integration und hierarchischer Kontrolle. Netzwerke erfordern horizontale Koordination und Kontrollverzicht. Das wird als Schwäche interpretiert, nicht als strategische Investition. Die Hanse funktionierte, weil Kaufleute verstanden: Geteilte Kontrolle über ein großes Netzwerk > vollständige Kontrolle über ein kleines Netzwerk.
  • Principal-Agent-Problem: Der Manager, der bei Catena-X auf unternehmenseigene Standards verzichtet, trägt das Karriererisiko („Er hat unsere Systeme aufgegeben“), partizipiert aber nicht am langfristigen Netzwerkerfolg. In der Hanse war der Kaufmann principal und agent in einer Person. Heute optimieren angestellte Manager für persönliche Risikominimierung.
  • Quarterly Capitalism: Netzwerkeffekte brauchen Zeit. Die Hanse hatte 200 Jahre, um sich zu etablieren. Catena-X wird nach drei Jahren am Quartalsergebnis gemessen. Die Anpassungskosten sind sofort sichtbar (CFO: „5 Millionen dieses Quartal“), der Netzwerkwert ist langfristig und probabilistisch.
  • Fehlende Metriken: Klassische Unternehmensrechnung erfasst EBIT, ROI, ROE (sichtbar, präzise), aber nicht: „Wert des Zugangs zu n Akteuren“, „Opportunitätskosten des Netzwerkausschlusses“. Was nicht messbar ist, wird nicht gemanagt.

III. Catena-X: Die Hierarchie im Netzwerkgewand

Catena-X ist der Präzedenzfall für deutsches Kooperationsversagen – und zugleich dessen theoretisch interessantester Fall, weil er eine zusätzliche Pathologie offenbart: Die Replizierung hierarchischer Strukturen in vermeintlich horizontale Netzwerke.

Die strukturelle Täuschung

Die Hanse war horizontal. Catena-X ist vertikal. Das ist nicht nur ein technischer Unterschied – das ist der Unterschied zwischen Netzwerk und Hierarchie, zwischen Kooperation und Extraktion.

Die Hanse funktionierte durch strukturelle Gleichheit: Lübecker Kaufleute, Kölner Kaufleute, Hamburger Kaufleute – alle waren autonome Wirtschaftssubjekte mit vergleichbarer Macht. Lübeck hatte Vorteile, aber keine strukturelle Dominanz. Ein Hansekaufmann konnte mit jedem anderen direkt handeln.

Catena-X repliziert dagegen die bestehende Machtarchitektur der deutschen Automobilindustrie:

Ebene 1: OEMs (BMW, VW, Mercedes) – Auftraggeber, Preissetzer, Standarddiktator
Ebene 2: Tier-1 (Bosch, ZF, Continental) – Systemlieferanten mit eigener Macht
Ebene 3: Tier-2 (Mittelständler) – unter permanentem Preisdruck
Ebene 4: Tier-3 (Kleinzulieferer) – existenziell gefährdet

Diese Hierarchie wird nicht durch Catena-X aufgebrochen, sondern digitalisiert. Die Plattform bildet die Lieferkette ab – und damit die Machtverhältnisse. Ein Tier-3-Zulieferer kann nicht direkt mit einem OEM verhandeln, nicht eigene Standards setzen, nicht alternative Abnehmer finden. Er bleibt in der Kette gefangen.

Das ist das Gegenteil von Netzwerklogik. Echte Plattformen (Alibaba, Amazon Marketplace) schaffen horizontale Märkte: Jeder Verkäufer kann mit jedem Käufer handeln. Die Plattform reduziert Transaktionskosten, schafft aber keine Hierarchie.

Catena-X schafft eine vertikale Dateninfrastruktur: Daten fließen von unten nach oben (Tier-3 → OEM), Anweisungen von oben nach unten. Das ist kein Netzwerk. Das ist eine digitale Kommandostruktur.

Die Vertrauenszerstörung als systemisches Problem

Noch fundamentaler: Warum sollte ein Zulieferer den OEMs überhaupt vertrauen?

Die Geschichte der deutschen Automobilindustrie der letzten 30 Jahre ist eine Geschichte systematischer Zuliefererausbeutung:

  • Preisdiktate: Jährliche Preissenkungsforderungen von 3-5%, unabhängig von Kostenstrukturen. Der VDA-Euphemismus: „Wir erwarten 3% Produktivitätssteigerung.“ Übersetzung: „Wir senken euren Preis, ihr seht zu, wie ihr das schafft.“
  • Risikotransfer: Just-in-Time ohne Puffer bedeutet: OEMs lagern Lagerkosten und Produktionsrisiken auf Zulieferer aus. Wenn VW die Produktion für zwei Wochen stoppt (Chip-Krise), tragen Zulieferer die Fixkosten.
  • Technologie-Enteignung: OEMs fordern Einblick in Fertigungsprozesse („für Qualitätssicherung“), nutzen das Wissen dann, um Alternativen aufzubauen oder Preise weiter zu drücken.
  • Wechseldrohungen: „Wenn ihr nicht liefert, gehen wir nach China/Osteuropa.“ Viele Mittelständler haben sich kaputt rationalisiert, um dann trotzdem den Auftrag zu verlieren.

Das Ergebnis: Systematische Erosion der Zuliefererbasis. Hunderte deutscher Automobilzulieferer sind in den letzten 20 Jahren insolvent gegangen oder wurden aufgekauft. Die deutsche Automobilzulieferindustrie hat seit 2019 über 100.000 Arbeitsplätze verloren. Durchschnittliche EBIT-Margen von Tier-2/Tier-3 liegen bei 2-4% – das ist überlebensunfähig bei steigenden Kapitalkosten.

Und jetzt sollen diese Unternehmen den OEMs Produktionsdaten geben (damit diese noch besser Preise drücken können?), Kapazitätsdaten offenlegen (damit OEMs Verhandlungsmacht haben?), Qualitätsdaten teilen (damit OEMs Schwachstellen für Preisverhandlungen nutzen)?

Die Logik ist absurd. Catena-X verspricht „Datensouveränität“ – aber in einer Hierarchie gibt es keine Souveränität. Wenn dein Kunde 80% deines Umsatzes ausmacht und vertragliche Macht hat, bist du nicht souverän. Du bist abhängig.

Die Hanse-Gegenprobe

Stellen wir uns vor, die Hanse hätte so funktioniert: Lübeck diktiert allen anderen Städten die Handelsbedingungen, erhält alle Handelsdaten, kann jederzeit Zugang zu Kontoren verweigern, nutzt Informationen um mit Konkurrenten zu verhandeln.

  • Die Hanse wäre nie entstanden. Kein Kaufmann wäre dieser „Kooperation“ beigetreten. Es wäre keine Kooperation gewesen, sondern Unterwerfung.
  • Die Hanse funktionierte, weil sie reziprokes Vertrauen durch strukturelle Gleichheit ermöglichte.
  • Catena-X scheitert, weil es asymmetrisches Misstrauen durch strukturelle Ungleichheit institutionalisiert.

Die ökonomische Analyse: Asymmetrische „Netzwerkeffekte“

Echte Netzwerkeffekte setzen voraus, dass jeder neue Teilnehmer den Wert für alle anderen erhöht. Bei Catena-X gilt das nicht:

Ein neuer Tier-3-Zulieferer erhöht den Wert für BMW (mehr Transparenz)
Aber: Erhöht BMW den Wert für den Tier-3-Zulieferer? Nein. BMW war vorher schon Kunde. Jetzt ist BMW Kunde plus Datenempfänger.

Ein neuer Tier-2-Zulieferer gibt Kapazitätsdaten
Profitiert er, wenn ein anderer Tier-2 auch Daten gibt? Nein. Im Gegenteil: Jetzt können OEMs die beiden gegeneinander ausspielen („Euer Konkurrent hat freie Kapazitäten, also senkt eure Preise“).

Die Netzwerkeffekte sind asymmetrisch: Sie akkumulieren an der Spitze (OEMs), nicht am Rand (Zulieferer). Das ist kein Netzwerk. Das ist eine Extraktionsmaschine.

Die Hanse hatte symmetrische Netzwerkeffekte: Wenn Köln dem Netzwerk beitrat, profitierten alle anderen (mehr Handelspartner, mehr Informationen, mehr politische Macht). Köln profitierte genauso von allen anderen. n²-Effekt funktioniert nur bei Symmetrie.

IV. Warum die Zahlen lügen: Die Illusion des Fortschritts

Die offizielle Erzählung klingt erfolgreich: Fast 200 teilnehmende Organisationen Plattformindustrie40CGI, darunter alle großen deutschen OEMs. BMW hat seit Oktober 2024 mehr als 100 Verbindungen zu anderen Unternehmen über Catena-X aufgebaut Plattformindustrie40. Seit Oktober 2023 gibt es über 45 zertifizierte Apps Telekom. Internationale Expansion: AIAG als nordamerikanischer Hub mit 4.900 Mitgliedern Telekom, Partnerschaften in China, Japan, Frankreich.

Die Realität sieht anders aus.

Das Adoptionsproblem

Eine BearingPoint-Umfrage im Dezember 2024 ergab: „Unsicherheit über den konkreten Nutzen“, die flächendeckende Implementierung stellt nach wie vor eine Herausforderung dar. BearingPoint resümiert: „Der Erfolg von Catena-X ist eng mit den spezifischen Nutzenpotenzialen der Unternehmen verknüpft, die von diesen jedoch oft noch nicht ausreichend erkannt werden“ Automobilwoche.

Oliver Ganser selbst gibt zu: „Aktuell sind es vor allem die großen Unternehmen, die Catena-X bereits nutzen“ AutomotiveIT. Das ist das zentrale Warnsignal: Wenn nur die Top-50-Unternehmen dabei sind, entstehen keine n²-Effekte, sondern Inseln.

190 Vereinsmitglieder klingen nach viel. Die deutsche Automobilzulieferindustrie hat aber mehrere tausend relevante Unternehmen. Die Netzwerkeffekte entstehen erst bei der kritischen Masse der gesamten Lieferkette – und die ist nicht erreicht.

Das Zwangsproblem

Das entscheidende Detail: Catena-X wächst nicht durch überzeugende Wertversprechen, sondern durch Zwang.

Bei Ford und BMW ist Catena-X seit Juli 2024 in den Lieferantenverträgen verankert Plattformindustrie40. Das ist kein freiwilliger Netzwerkbeitritt – das ist vertragliche Pflicht. BMW erklärt unverblümt: Ein Ausfall von Catena-X würde heute zu Produktionsausfällen und ernsten Compliance-Problemen führen Plattformindustrie40.

Die Hanse funktionierte, weil Kaufleute den Wert verstanden. Catena-X funktioniert (soweit es das tut), weil OEMs es erzwingen. Das ist keine Kooperation. Das ist Nötigung mit digitalen Mitteln.

Catena-X läuft auf drei Krücken:

  • Regulatorischer Zwang: Die EU-Verordnung zum Digital Product Passport ab 2027 Catena-X erzwingt Teilnahme. Ohne DPP: kein Marktzugang.
  • OEM-Diktat: Ford und BMW schreiben es in Verträge. Zulieferer haben keine Wahl.
  • Fördermittel: Über 100 Millionen Euro BMWK-Förderung DLR. Wenn die Förderung endet – wer zahlt dann aus eigener Tasche?

Das Nutzungstiefenproblem

„100 Verbindungen“ bei BMW – was heißt das konkret? Werden tatsächlich kritische Daten ausgetauscht? Oder sind das technische Proof-of-Concepts ohne operativen Wert?

Mercedes und BASF testen das Demand-and-Capacity-Management seit Q4 2024 in einer Pilotphase AutomotiveIT. Seit Kurzem. Das ist kein produktiver Rollout, das ist Experimentieren.

Bosch berichtet von Früherkennung von Problemen „vier Monate früher“ Automotiveit – das ist messbar wertvoll. Aber: Ein einzelner Use Case bei einem Tier-1. Die Frage ist: Skaliert das auf Tier-2 und Tier-3, wo die IT-Budgets um Faktor 100 kleiner sind?

Ein häufig genannter Kritikpunkt ist die fehlende Geschwindigkeit. Zudem ist die Integration kleinerer Unternehmen eine Herausforderung, die häufig begrenzte Ressourcen und Know-how haben Automotiveit.

Das Ökosystem-Defizit

Echte Plattformen erzeugen Ökosysteme. Bei iOS: Millionen Apps. Bei Alibaba: tausende Händler. Bei Catena-X: 45+ zertifizierte Apps Telekom. Das ist winzig. Der Apple App Store hatte nach drei Jahren über 500.000 Apps.

Oliver Ganser räumt ein: „Wir wollten bereits weiter sein. Wir hatten das Ziel, viel früher am Markt zu sein, schneller mehr Kunden zu gewinnen. Das haben wir nicht erreicht“ AutomotiveIT.

Die drei kritischen Indikatoren

Für echten Erfolg müssten bis Ende 2026 folgende Bedingungen erfüllt sein:

  1. Tier-2/Tier-3-Adoption: Mindestens 1.000+ kleinere Zulieferer als operative Nutzer (nicht nur Vereinsmitglieder). Aktueller Stand: Ganser spricht von „großen Unternehmen“ – das ist das Eingeständnis des Scheiterns bei KMUs.
  2. Emergenz komplementärer Services: Unabhängige Dienstleister, die auf der Plattform Mehrwert schaffen (Analytics, Optimierung, Services). Aktueller Stand: 45 Apps sind keine Ökosystem-Dynamik.
  3. Freiwilliges Transaktionsvolumen: Datenaustausch ohne regulatorischen Zwang. Wenn Unternehmen Catena-X nur für DPP-Compliance nutzen, ist es eine Compliance-Plattform, keine Wertschöpfungsplattform. Aktueller Stand: Die meisten Use Cases sind Compliance-getrieben.
    Keiner dieser Indikatoren ist auch nur annähernd erfüllt.

VI. Die unvermeidliche Katastrophe

Catena-X wird scheitern. Nicht weil die technische Architektur falsch ist, nicht weil die Entwickler inkompetent sind, nicht weil die Vision falsch wäre. Catena-X scheitert an drei strukturellen Unmöglichkeiten:

  • Unmöglichkeit 1: Hierarchie kann keine Netzwerkeffekte erzeugen
    Man will n²-Effekte durch n-Strukturen schaffen. Das ist mathematisch unmöglich. Echte Netzwerke setzen horizontale Verbindungsmöglichkeiten voraus. Catena-X zementiert vertikale Hierarchien. Ein Tier-3-Zulieferer, der BMW Daten gibt, bekommt keine Netzwerkeffekte – er bekommt mehr Transparenzpflichten.
  • Unmöglichkeit 2: Zerstörtes Vertrauen ist nicht digital wiederherstellbar
    Man erwartet Datenoffenheit von Akteuren, die jahrzehntelang systematisch ausgebeutet wurden. Catena-X verspricht „Datensouveränität“, aber in asymmetrischen Machtverhältnissen ist Souveränität eine Illusion. Ein abhängiger Zulieferer, der 80% seines Umsatzes mit BMW macht, ist nicht souverän – er ist erpressbar. Die Hanse baute Vertrauen durch jahrhundertelange Reziprozität auf. Catena-X will Vertrauen per Governance-Dokument erzeugen, während die OEMs gleichzeitig die Preisschraube weiterdrehen. Das ist psychologisch absurd.
  • Unmöglichkeit 3: Zwang erzeugt Minimalkonformität, keine Innovation
    Regulatorischer Druck (DPP) und vertraglicher Zwang (OEM-Verträge) erzwingen Teilnahme. Aber Zwang führt zu Minimallösungen: Unternehmen werden das Nötigste tun (DPP-Daten hochladen), aber keine operativen Prozesse integrieren, keine Innovationen entwickeln, keine echte Kooperation eingehen.

Das ist Gaia-X 2.0: Technisch existent, regulatorisch erforderlich, operativ irrelevant. Eine Zombie-Plattform.

Die Prognose: Drei Szenarien

Szenario A (30% Wahrscheinlichkeit): Erfolg durch Pfadabhängigkeit

Falls der DPP-Druck 2027 wirklich kommt und alle Zulieferer gezwungen sind, könnte durch sunk costs eine Pfadabhängigkeit entstehen. Die Integrationskosten sind bezahlt, dann könnte man es auch für anderes nutzen. Das ist der optimistische Fall – aber er setzt voraus, dass die EU die Verordnung durchsetzt (unsicher) und dass Integrationskosten für KMUs drastisch sinken (auch unsicher).

Szenario B (50% Wahrscheinlichkeit): Zombie-Plattform

Catena-X wird zur Compliance-Infrastruktur ohne Wertschöpfung. Unternehmen nutzen es minimal (DPP-Daten), aber nicht für operative Prozesse. Es überlebt, weil regulatorisch notwendig, schafft aber keine Innovation. Das ist das wahrscheinlichste Szenario: Ein weiteres deutsches Großprojekt, das technisch funktioniert und wirtschaftlich irrelevant ist.

Szenario C (20% Wahrscheinlichkeit): Vollständiges Scheitern

Wenn zu viele Unternehmen Ausnahmen vom DPP finden, wenn Integrationskosten zu hoch bleiben, wenn chinesische oder amerikanische Alternativen attraktiver werden – dann kollabiert Catena-X. Die 190 Mitglieder sind dann wertlose Investitionen. Die Hanse scheiterte, als nationale Handelsmonopole attraktiver wurden. Catena-X könnte scheitern, wenn proprietäre Plattformen (SAP, Siemens, chinesische Lösungen) attraktiver werden.

Die eigentliche Lehre:

Die Kooperationsdebatte kommt jetzt – nach Jahren amerikanischer und chinesischer Plattformdominanz. Catena-X ist der verzweifelte Versuch, Kooperation zu erzwingen, nachdem freiwillige Kooperation gescheitert ist. Aber erzwungene Kooperation ist ein Widerspruch in sich. Man kann Unternehmen zwingen, Daten hochzuladen. Man kann sie nicht zwingen, zu kooperieren.

Die Hanse funktionierte, weil die Alternative – Einzelkämpfertum – tödlich war. Catena-X funktioniert nicht, weil die Alternative – proprietäre Lösungen, ausländische Plattformen, Minimalkonformität – noch attraktiver ist als echte Kooperation.

Das fundamentale Problem ist nicht Catena-X. Das fundamentale Problem ist die deutsche Unfähigkeit, Netzwerkwert zu verstehen, solange dieser nicht existenziell erzwungen wird.

Wenn deutsche Konzerne erst kooperieren, wenn die Alternative Untergang ist, kooperieren sie zu spät. Netzwerke brauchen Vorlaufzeit. Die Hanse hatte 200 Jahre Vorsprung vor nationalen Konkurrenten. Catena-X ist 15 Jahre hinter chinesischen und amerikanischen Plattformen.

Die bittere Wahrheit: Deutschland wird aus Catena-X lernen – aber erst, nachdem es gescheitert ist. Und dann wird die nächste Initiative gestartet, mit denselben Fehlern, denselben Illusionen, demselben Ergebnis.

Die Hanse lehrte: Kooperation braucht Horizontalität, Reziprozität und intrinsischen Wert. Catena-X ignoriert alle drei Lektionen. Es ist keine Netzwerkökonomie. Es ist hierarchische Kontrolle in digitalem Gewand.

Und deshalb wird es scheitern.