Willy Korf baute in drei Jahrzehnten einen der innovativsten Stahlkonzerne Europas auf – und verlor alles in der Krise. Seine Geschichte ist mehr als Wirtschaftshistorie: Sie ist ein Lehrstück über die Ambivalenz unternehmerischer Tugenden und die strukturellen Verwerfungen der deutschen Industriepolitik. Der Vergleich mit Nucor in den USA und Jürgen Großmanns Georgsmarienhütte zeigt, warum weder Innovation noch Anpassung in Deutschland eine Erfolgsgarantie bieten.
Als Willy Korf 1948 mit neunzehn Jahren den elterlichen Baustoffhandel in Baden übernahm, deutete nichts auf die Karriere eines Industriepioniers hin. Der frühe Tod des Vaters zwang ihn in eine Rolle, für die er nicht vorbereitet war. Doch gerade diese Unvorbereitetheit erwies sich als Vorteil: Korf kam ohne die Denkschablonen der etablierten Stahlbranche, ohne die ehrfurchtsvolle Scheu vor den Ruhrbaronen, ohne das Bewusstsein, was man als Außenseiter angeblich nicht tun durfte.
Was folgte, war ein Aufstieg von shakespearescher Dramatik. Vom Betonstahlimport aus Lothringen über die punktgeschweißten Baustahlmatten in Kehl bis zum Verkauf an Klöckner für zwanzig Millionen Mark – jeder Schritt erschien im Nachhinein zwingend, war aber im Moment des Handelns eine Wette gegen die Wahrscheinlichkeit. Der Clou: Als Korf 1961 sein Kehl-Werk verkaufte, band ihn eine Wettbewerbsklausel. Er durfte keine Baustahlmatten mehr produzieren. Also tat er das Naheliegende – er baute ein Stahlwerk.
Die technologische Wette
Das Midrex-Verfahren, das Korf 1972 in Hamburg einführte, war keine inkrementelle Verbesserung. Es war ein Paradigmenwechsel: Europas erstes Stahlwerk ohne Koks, ohne Hochofen, ohne die gewaltigen Kapitalanforderungen der integrierten Hüttenwerke. Die etablierte Branche beobachtete das mit einer Mischung aus Skepsis und Verachtung. Ein Außenseiter aus Baden, der glaubte, er könne die Stahlproduktion neu erfinden – das konnte nicht gutgehen.
Es ging gut, zumindest eine Dekade lang. Korf expandierte in die USA, nach Frankreich, nach Brasilien. Er sammelte Ehrungen ein, darunter die Ehrendoktorwürde der TH Aachen. 1981 erreichte sein Konzern einen Umsatz von 2,78 Milliarden Mark und produzierte 2,7 Millionen Tonnen Rohstahl. Für einen Mann, der dreiunddreißig Jahre zuvor einen Baustoffhandel geerbt hatte, war das eine bemerkenswerte Bilanz.
Die Dialektik der Stärke
Hier beginnt die eigentlich interessante Geschichte, die Geschichte des Scheiterns. Denn was Korf groß machte, wurde ihm zum Verhängnis. Er hatte jeden Gewinn reinvestiert, jede freie Mark in Expansion gesteckt. In der Wachstumsphase galt das als visionär. In der Rezession fehlte das Polster.
Die Stahlkrise Ende der siebziger Jahre traf alle Produzenten. Aber sie traf nicht alle gleich. Die großen Ruhr- und Saarstahl-Konzerne hatten etwas, was Korf nicht hatte: den Staat im Rücken. Während Korf nach den Regeln des freien Marktes spielte – jenem freien Markt, den er als ordnungspolitischer Liberaler verteidigte –, wurden seine Konkurrenten mit Bürgschaften, Subventionen und politischem Wohlwollen gestützt.
Es ist eine bittere Pointe, dass am Ende ausgerechnet Bürgschaften des Landes Baden-Württemberg die Badischen Stahlwerke retteten. Der Marktliberale, der gegen staatsgestützte Konkurrenz verloren hatte, wurde selbst zum Empfänger staatlicher Hilfe. Korf hat diese Ironie vermutlich gespürt, auch wenn er sie nie öffentlich kommentierte.
Das amerikanische Gegenmodell: Nucor
Um zu verstehen, was bei Korf schiefging, lohnt der Blick über den Atlantik. Nucor, gegründet 1940 als Nuclear Corporation of America und in den sechziger Jahren unter Kenneth Iverson zum Stahlproduzenten umgebaut, verfolgte einen verblüffend ähnlichen Ansatz: Mini-Mills statt integrierter Hüttenwerke, Elektrolichtbogenöfen statt Hochöfen, Schrott als Rohstoff statt Erz. Wie Korf war Nucor ein Außenseiter, der die Kostenstrukturen der Branche unterbot.
Aber Nucor überlebte nicht nur die Stahlkrise – das Unternehmen wurde zum größten Stahlproduzenten der USA. Die Unterschiede sind aufschlussreich. Erstens: Nucor wuchs organisch und finanzierte Expansion aus dem Cashflow, nicht aus Krediten. Iverson hasste Schulden mit einer Intensität, die an Paranoia grenzte. Zweitens: Der amerikanische Markt war größer und weniger kartelliert. Es gab Raum für Newcomer, ohne dass der Staat die Etablierten künstlich am Leben hielt. Drittens: Nucors radikale Dezentralisierung – flache Hierarchien, leistungsabhängige Bezahlung bis zum Stahlarbeiter, keine Konzernzentrale im üblichen Sinne – schuf eine Kostenflexibilität, die Korf mit seinem eher konventionellen Management nicht erreichte.
Der entscheidende Punkt ist jedoch ein anderer: In den USA gab es keinen Montanmitbestimmungsapparat, keine IG Metall mit Vetorechten, keine politische Klasse, die ihr Selbstverständnis aus der Rettung von Stahlarbeitsplätzen bezog. Nucor konnte Werke schließen und eröffnen, ohne dass Ministerpräsidenten intervenierten. Korf operierte in einem System, das den Außenseiter strukturell benachteiligte.
Das deutsche Gegenmodell: Großmann und die Georgsmarienhütte
Ein Vierteljahrhundert nach Korfs Scheitern betrat ein anderer Außenseiter die deutsche Stahlbühne: Jürgen Großmann. Auch er kam nicht aus der Branche – sein Hintergrund lag im Maschinenbau und in der Restrukturierung. 1993 übernahm er die insolvente Georgsmarienhütte, ein traditionsreiches Werk in Niedersachsen, das die Krise der achtziger Jahre nicht überlebt hatte.
Großmanns Ansatz war das genaue Gegenteil von Korfs. Wo Korf auf technologische Revolution setzte, setzte Großmann auf operative Exzellenz in der Nische. Wo Korf global expandierte, konzentrierte sich Großmann auf Spezialsortimente und enge Kundenbeziehungen. Wo Korf jeden Gewinn reinvestierte, baute Großmann systematisch Eigenkapital auf. Die Georgsmarienhütte wurde zum Nukleus einer Unternehmensgruppe, die heute über dreißig Firmen umfasst – aber keine davon ist ein technologischer Pionier. Großmann kaufte, was andere nicht mehr wollten, und machte es profitabel.
Der Vergleich ist erhellend. Korf und Großmann waren beide Außenseiter, beide ohne die Reverenz vor den Traditionen der Branche. Aber Korf wollte die Spielregeln ändern, während Großmann lernte, nach den bestehenden Regeln besser zu spielen als die anderen. Großmann arrangierte sich mit der Montanmitbestimmung, pflegte politische Kontakte, nutzte die Fördertöpfe, die Korf aus ordnungspolitischer Überzeugung verschmähte. Man kann das als Pragmatismus loben oder als Opportunismus kritisieren – es funktionierte.
Doch auch das Modell Großmann stößt inzwischen an seine Grenzen – und das ist vielleicht die bitterste Pointe von allen. Die Georgsmarienhütte-Gruppe, jahrzehntelang profitabel durch Nischenfokus und Kundennähe zur Automobilindustrie, gerät in die Zange zwischen zwei Transformationen, die sie nicht kontrollieren kann.
Die eine ist der grüne Stahl. Die EU-Taxonomie, der CO2-Grenzausgleich, die Dekarbonisierungsziele – all das erfordert Investitionen in Größenordnungen, die selbst für einen solide finanzierten Mittelständler existenzbedrohend sind. Die Umstellung von Hochofen auf Direktreduktion mit Wasserstoff, die Korf vor fünfzig Jahren mit dem Midrex-Verfahren vorwegnahm, wird nun politisch erzwungen – aber die Rahmenbedingungen, die Korf zu Fall brachten, bestehen fort. Die Energiepreise in Deutschland sind nicht wettbewerbsfähig. Der grüne Wasserstoff existiert bestenfalls in Pilotanlagen. Die Subventionen fließen bevorzugt zu den Großen, zu ThyssenKrupp und Salzgitter, nicht zu den Nischenspielern.
Die andere Transformation ist die Krise der deutschen Automobilindustrie selbst. Wer sein Geschäftsmodell auf Zulieferung an VW, BMW und Mercedes gebaut hat, spürt jetzt, was es bedeutet, wenn diese Abnehmer selbst ins Straucheln geraten. Die Elektrifizierung entwertet Kompetenzen in Antriebsstrang und Verbrennerkomponenten. Die Verlagerung nach China reduziert den Bedarf an deutschen Zulieferern. Die Margenerosion bei den OEMs wird an die Lieferanten weitergegeben. Großmanns Strategie, sich unverzichtbar zu machen durch Spezialisierung und Kundennähe, funktioniert nur, solange die Kunden selbst funktionieren.
Die Ironie ist kaum zu übersehen: Das Anpassermodell versagt, wenn das System kippt, an das man sich angepasst hat. Großmann hat nicht das System herausgefordert wie Korf – er hat auf seine Stabilität gewettet. Diese Wette geht gerade verloren. In Deutschland überlebt vielleicht doch niemand: weder der Innovator, der das System ändern will, noch der Anpasser, der auf seine Beständigkeit setzt. Überleben werden am Ende die, die rechtzeitig gehen – oder die, die zu groß sind, um fallen gelassen zu werden.
Strukturelle Lektionen
Der Fall Korf ist mehr als eine Fußnote der Wirtschaftsgeschichte. Er illustriert ein Muster, das sich in der deutschen Industrie immer wieder zeigt: die systematische Benachteiligung des Innovators gegenüber dem Etablierten. Korf war technologisch überlegen, aber institutionell unterlegen. Er hatte das bessere Verfahren, aber nicht das bessere Netzwerk. Seine Lobby war schwächer als die der Ruhrbarone.
Das Muster wiederholt sich heute, nur unter anderen Vorzeichen. Wieder sehen wir Unternehmen, die in Boomphasen alles in Wachstum stecken und beim ersten Gegenwind zusammenbrechen. Wieder verzerren staatliche Eingriffe den Wettbewerb, diesmal durch Subventionen für Elektromobilität oder Batterieproduktion. Wieder werden die Etablierten geschont, während die Herausforderer kämpfen müssen.
Die Lehre aus dem Dreiervergleich – Korf, Nucor, Großmann – ist ernüchternder, als sie zunächst erschien. In einem System wie dem amerikanischen kann der technologische Außenseiter gewinnen, wenn er diszipliniert genug wirtschaftet. In einem System wie dem deutschen schien der Ausweg die Anpassung zu sein: das System akzeptieren, die Nischen finden, die politischen Spielregeln beherrschen. Doch dieser Ausweg führt nur so weit, wie das System selbst trägt. Wenn die Automobilindustrie schrumpft, wenn die Energiewende zur Kostenexplosion wird, wenn die Subventionen an die Falschen fließen – dann hilft auch Anpassung nicht mehr.
Korf wollte das System ändern und nach seinen eigenen Regeln spielen. Das war bewundernswert. Es war auch sein Untergang. Großmann akzeptierte das System und spielte nach dessen Regeln. Das funktionierte – bis das System selbst in die Krise geriet. Am Ende bleibt die Frage, ob es in Deutschland überhaupt eine Strategie gibt, die langfristig trägt. Oder ob das Schicksal des deutschen Unternehmertums darin besteht, zwischen falschen Alternativen wählen zu müssen.
Korf starb 1990 bei einem Flugzeugabsturz nahe Innsbruck, sechzig Jahre alt. Seine letzten überlieferten Worte – „Wir befinden uns im Anflug auf Innsbruck“ – waren eine nüchterne Lagebeschreibung, kein Testament. Aber vielleicht passt gerade das zu einem Mann, der sein Leben lang pragmatisch gehandelt hatte, ohne Pathos, ohne die Pose des tragischen Helden. Er hatte ein Imperium aufgebaut, es verloren, neu angefangen. Als der Tod kam, war er wieder unterwegs, auf dem Weg zum nächsten Geschäft.
Die Hamburger Stahlwerke, sein Lebenswerk, gehören heute zu ArcelorMittal. Die Badischen Stahlwerke führen die Familien Seizinger und Weitzmann fort. Das Midrex-Verfahren, seine technologische Innovation, ist weltweit im Einsatz. Willy Korf selbst ist fast vergessen. Aber seine Geschichte verdient es, erzählt zu werden. Nicht als Heldenlegende, sondern als das, was sie ist: ein Lehrstück über die Bedingungen des Unternehmertums in Deutschland.
Ralf Keuper
Quellen:
Willy Korf und Korf-Stahl
Wikipedia: Willy Korf – https://de.wikipedia.org/wiki/Willy_Korf
Der Spiegel (1980er): Bericht über Korfs Weigerung gegen Subventionen und Wettbewerb mit Ruhr-Konzernen. https://www.spiegel.de/wirtschaft/einfach-geweigert-a-acbf9d19-0002-0001-0000-000014024288
WHO’S WHO: Willy Korf Biografie – https://whoswho.de/bio/willy-korf.html
Munzinger Archiv: Willy Korf – https://www.munzinger.de/register/portrait/biographien/korf%20willy/00/12342
Oliver Driesen: Der Feuermacher Willy Korff. Stahl-Rebell aus Leidenschaft, Hoffmann und Campe, Hamburg 2005
Zeilensturm: Absturz eines Stahlbarons (Oliver Driesen) – https://www.zeilensturm.de/absturz-eines-stahlbarons/
Würdigung zwischen Buchdeckeln – November 2010 (online abrufbar)
Nostalgie-Aktien: Geschichte der Korf-Stahl AG – http://antikepapiere.de/korf-stahl.html
Midrex-Verfahren und Direktreduktion
Wikipedia: Midrex-Verfahren – https://de.wikipedia.org/wiki/Midrex-Verfahren
Wikipedia: Eisenschwamm – https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenschwamm
VDI Nachrichten: Direktreduktion – Diese Technik wird den Hochofen beerben – https://www.vdi-nachrichten.com/technik/werkstoffe/direktreduktion-diese-technik-wird-den-hochofen-beerben/
Primetals Technologies: MIDREX – Die führende Technologie zur DRI-Produktion – https://www.primetals.com/de/portfolio/roheisenproduktion/midrexr
GIFA/Bright World of Metals: Best Practices der Stahlindustrie – https://www.gifa.de/de/Media_News/Presse/Pressematerial/Fachartikel/Best_Practices_der_Stahlindustrie
Nucor und Kenneth Iverson
Wikipedia: Nucor – https://en.wikipedia.org/wiki/Nucor_Corporation
Nucor Corporation: History – https://nucor.com/history
Charlotte Museum of History: Ken Iverson and Nucor Corporation – https://charlottemuseum.org/learn/articles/ken-iverson-and-nucor-corporation/
American National Business Hall of Fame: Kenneth Iverson – https://anbhf.org/laureates/kenneth-iverson/
Nucor: Ken Iverson Obituary (2002) – https://nucor.com/news-release/7761
NPR Planet Money: How Nucor Steel’s mini-mill revolutionized the industry – https://www.npr.org/transcripts/1197958509
Ken Iverson: Plain Talk: Lessons from a Business Maverick, Wiley, 1998
Jim Collins: Good to Great, HarperBusiness, 2001
Jürgen Großmann und Georgsmarienhütte
Wikipedia: Jürgen Großmann – https://de.wikipedia.org/wiki/Jürgen_Großmann_(Manager)
Stadt Georgsmarienhütte: Wirtschaftsgeschichte – https://www.georgsmarienhuette.de/portal/seiten/wirtschaftsgeschichte-914000070-22600.html
Digitales Stadtgedächtnis Georgsmarienhütte: Die ehemaligen Klöcknerflächen – https://www.stadtgedaechtnis-georgsmarienhuette.de/portal/seiten/die-ehemaligen-kloecknerflaechen-1009-159.html
Aktuelle Krise der Georgsmarienhütte
Handelsblatt: „Wir stehen kurz vor dem Abgrund“ – Anne-Marie Großmann (30.12.2024) – https://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/familienunternehmer/stahlindustrie-wir-stehen-kurz-vor-dem-abgrund-01/100090906.html
Cleanthinking: Georgsmarienhütte – Wird grüner Stahl zur Standortfrage? – https://www.cleanthinking.de/georgsmarienhuette-stahl-standortfrage/
Blackout News: Grüner Stahl – warum die Georgsmarienhütte um ihre Existenz kämpft – https://blackout-news.de/aktuelles/gruener-stahl-warum-die-georgsmarienhuette-um-ihre-existenz-kaempft/
Haufe Sustainability: Georgsmarienhütte – Grüner Pionier mit Strompreissorgen – https://www.haufe.de/sustainability/strategie/nachhaltig-im-wandel-georgsmarienhuette_575772_630652.html
Finanzmarktwelt: Stahlwerk stellt Produktion ein (21.01.2025) – https://finanzmarktwelt.de/stahlwerk-stellt-produktion-ein-abrechnung-mit-gruener-energiepolitik-336260/
ZfK: Stahlmanagerin Großmann schließt Verlagerung ins Ausland nicht aus – https://www.zfk.de/unternehmen/nachrichten/energiekosten-stahlmanagerin-grossmann-schliesst-verlagerung-ins-ausland-nicht-aus
Produktion.de: Die Georgsmarienhütte und ihr Weg zum grünen Stahl – https://www.produktion.de/rohstoffe/schrott/die-georgsmarienhuette-und-ihr-weg-zum-gruenen-stahl-138.html

