Es gibt Momente in der Geschichte, in denen eine Gesellschaft spürt, dass eine Epoche zu Ende geht – ohne dass sie bereits bereit wäre, die nächste zu beginnen. Stefan Zweig beschrieb dieses Gefühl eindrücklich in seiner Erinnerung an die untergehende österreichisch-ungarische Monarchie. Deutschland steht heute an einer ähnlichen Schwelle: Zwischen nostalgischem Festhalten und ideologiegetriebenem Radikalumbau. Karl Popper warnte vor solchen holistischen Großprojekten. Max Weber mahnte zum Augenmaß. Beides fehlt in einer Debatte, die nur zwei Extreme zu kennen scheint.
I.
Man muss Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ nicht gelesen haben, um das Gefühl zu kennen, das er so meisterhaft beschreibt: jene eigentümliche Mischung aus Wehmut und Lähmung, wenn eine Ära unwiderruflich zu Ende geht. Zweig schrieb über eine Welt voller Stabilität und Sicherheit, die sich in ihrer Beständigkeit so selbstverständlich fühlte, dass niemand ihr Ende für möglich hielt – bis sie eines Tages einfach verschwunden war.
Deutschland erlebt heute seine eigene Version dieses Abschieds. Nicht von einer Monarchie, sondern von einem wirtschaftlichen Selbstverständnis, das Jahrzehnte lang Wohlstand und Identität garantierte. Der Verbrennungsmotor als Symbol deutscher Ingenieurskunst. Die mittelständischen Familienunternehmen als Rückgrat der Wirtschaft. Die Sparkassen und Genossenschaftsbanken als Garanten regionaler Verankerung. All diese Säulen, auf denen das deutsche Wirtschaftswunder ruhte, wanken.
Die Reaktionen darauf sind vorhersehbar – und beide problematisch. Die einen klammern sich an das Alte, als könnte das Festhalten die Zeit anhalten. Die anderen fordern den radikalen Bruch, den großen Umbau, die alternativlose Transformation – als gäbe es nur einen richtigen Weg in die Zukunft.
Beide übersehen, was Zweigs Geschichte eigentlich lehrt: Nicht das Ende einer Epoche ist das Problem, sondern die Unfähigkeit, angemessen damit umzugehen. Die Monarchie scheiterte nicht, weil sie endlich war, sondern weil sie jede Reform verweigerte. Die Revolution scheiterte nicht, weil sie zu mutig war, sondern weil sie zu utopisch dachte.
II.
Die Bundesregierung streitet, die Opposition inszeniert ihre Empörung, Experten mahnen zur Eile. Aber unter all dem Lärm schwelt eine tiefere Wahrheit: Deutschland hat nicht nur Angst vor seiner eigenen Zukunft – es hat auch verlernt, besonnen mit Wandel umzugehen.
Die Debatte kennt nur noch zwei Extreme. Auf der einen Seite: jene, die jede Veränderung als Bedrohung begreifen, die an Verbrennungsmotoren und Sparkassen festhalten, als wäre es 1995. Auf der anderen Seite: jene, die einen radikalen Umbau fordern, die alles auf eine Karte – Dekarbonisierung, Digitalisierung, Transformation – setzen, als gäbe es nur einen richtigen Weg in die Zukunft.
Beide Positionen sind gefährlich. Karl Popper warnte in seiner „Offenen Gesellschaft und ihre Feinde“ eindringlich vor solchen holistischen Ansätzen. Seine Stückwerk-Sozialtechnik – die schrittweise, überprüfbare, korrigierbare Veränderung – ist das Gegenteil der großen utopischen Entwürfe, die behaupten, die eine richtige Lösung zu kennen. Popper erkannte: Wenn eine Gesellschaft alles auf einen radikalen Umbau setzt, wenn sie ihre Zukunft nach einem ideologischen Masterplan gestaltet, verliert sie ihre Anpassungsfähigkeit. Sie wird verwundbar für Irrtümer, blind für Nebenwirkungen, taub für Einwände.
Genau das droht Deutschland heute. Wenn die Dekarbonisierung zum Selbstzweck wird, wenn Klimapolitik ideologisch statt pragmatisch betrieben wird, wenn jede Technologie, die nicht ins Weltbild passt, von vornherein ausgeschlossen wird – dann ersetzt man eine Erstarrung durch eine andere. Man tauscht das nostalgische Festhalten gegen den utopischen Umbau. Beides vermeidet, was Max Weber als unverzichtbar ansah: Augenmaß.
Diese fehlende Mäßigung zeigt sich in der deutschen Energiepolitik ebenso wie in der Verkehrswende. Statt verschiedene Wege auszuprobieren, Fehler zu korrigieren und aus Erfahrungen zu lernen, wird ein Pfad für alternativlos erklärt. Wer Zweifel äußert, gilt als Bremser. Wer nach Kosten fragt, als unsozial. Wer auf technologische Offenheit pocht, als Lobbyist der alten Industrien.
So entsteht eine neue Form der Lähmung – nicht durch Beharrung, sondern durch ideologische Verengung.
III.
Besonders deutlich wird diese Polarisierung beim deutschen Mittelstand. Jahrzehntelang galt er als Erfolgsmodell: inhabergeführt, regional verwurzelt, sozial verantwortlich. Der „Hidden Champion“ war das deutsche Pendant zum Silicon-Valley-Startup – nur solider, bescheidener, nachhaltiger.
Heute spaltet sich die Bewertung in zwei Lager. Die einen verklären den Mittelstand zur letzten Bastion deutscher Wirtschaftstugenden, verteidigen jedes Familienunternehmen gegen jede Kritik, sehen in regionaler Verankerung einen Wert an sich. Diese Romantisierung ignoriert reale Probleme: zu wenig Investition in Digitalisierung, Scheuen vor Risiken, Beharren auf überholten Geschäftsmodellen. Wenn Tradition zum Argument gegen Innovation wird, wenn Familienbesitz fast feudale Züge annimmt, wird Bewahren zur Blockade.
Die anderen hingegen verdammen den Mittelstand pauschal als nicht zukunftsfähig, als Hort der Rückständigkeit, als Reformbremser. Diese Sichtweise übersieht, dass gerade die Vielfalt mittelständischer Strukturen – ihre regionale Verwurzelung, ihre langfristige Perspektive, ihre soziale Verantwortung – Stärken sein können, wenn sie richtig eingesetzt werden.
Was fehlt, ist der differenzierte Blick. Der Mittelstand ist weder zu retten noch abzuwickeln – er muss sich wandeln. Manche Familienunternehmen zeigen bereits, wie das geht: Sie digitalisieren konsequent, investieren in neue Technologien, öffnen sich für externe Expertise. Andere verharren in alten Mustern. Beide gleichzusetzen wäre falsch.
Die Herausforderung liegt nicht darin, eine Wirtschaftsstruktur gegen eine andere auszutauschen, sondern darin, Anpassungsfähigkeit zu ermöglichen: weniger Bürokratie, mehr Risikokapital, bessere Rahmenbedingungen für Innovation – aber auch die Erwartung, dass Unternehmen diese Chancen nutzen, statt auf staatliche Rettung zu warten.
Weder die nostalgische Verklärung noch die pauschale Verdammung des Mittelstands helfen weiter. Was zählt, ist die Bereitschaft zum Wandel – und die Fähigkeit, diesen Wandel ohne ideologische Scheuklappen zu gestalten.
IV.
Deutschland steht an einer Schwelle. Nicht zwischen Untergang und Aufstieg, nicht zwischen Stillstand und radikaler Transformation – sondern zwischen Ideologien, die beide ihre Gefahren bergen.
Der Vergleich mit Stefan Zweigs Epoche ist instruktiv, aber nicht auf die Weise, wie er oft verstanden wird. Zweig beschrieb nicht einfach das Ende einer Welt, sondern auch die Unfähigkeit, angemessen darauf zu reagieren. Die untergehende Monarchie klammerte sich an ihre Privilegien. Die aufstrebenden Revolutionäre träumten von radikalen Umstürzen. Was fehlte, war der Mittelweg: behutsamer, aber entschlossener Wandel.
Genau diesen Mittelweg braucht Deutschland heute. Nicht das Festhalten an jedem Verbrennungsmotor, aber auch nicht das ideologische Verbot aller Alternativen zur E-Mobilität. Nicht die Verklärung jedes Familienunternehmens, aber auch nicht deren Verdammung als „feudale Strukturen“. Nicht die Verweigerung der Energiewende, aber auch nicht ihre Umsetzung als alternativloser Masterplan ohne Augenmaß für soziale Kosten und technologische Realitäten.
Poppers Stückwerk-Sozialtechnik zeigt den Weg: Veränderungen, die schrittweise erfolgen, deren Wirkungen überprüfbar sind, die korrigiert werden können, wenn sie nicht funktionieren. Das ist weniger heroisch als der große Wurf, weniger befriedigend als die radikale Geste – aber es ist nachhaltiger, weil es lernfähig bleibt.
Eine offene Gesellschaft, wie Popper sie verstand, zeichnet sich nicht durch den Mut zu radikalen Umbrüchen aus, sondern durch die Bereitschaft, Experimente zu wagen und aus Fehlern zu lernen. Sie setzt nicht alles auf eine Karte, weil sie weiß: Die Zukunft ist ungewiss, und niemand – keine Partei, keine Expertenkommission, keine Bewegung – kennt die eine richtige Antwort.
Was Deutschland braucht, ist nicht mehr Mut zur Radikalität, sondern mehr Mut zur Differenzierung. Mut, verschiedene Technologien parallel zu erproben. Mut, regionale Unterschiede zuzulassen statt auf zentralistische Einheitslösungen zu setzen. Mut, Kompromisse nicht als Schwäche zu sehen, sondern als Zeichen politischer Reife.
Max Weber prägte den Begriff des „Augenmaßes“ in der Politik – jene Tugend, die zwischen Prinzipientreue und Pragmatismus vermittelt, die große Ziele mit der Realität der Mittel versöhnt. Deutschland hat diese Tugend in seiner besten Zeit verkörpert: in der sozialen Marktwirtschaft, die weder reiner Kapitalismus noch Planwirtschaft war. Im Grundgesetz, das Freiheit und Sicherheit austariert. In der Wissenschaftskultur, die Grundlagenforschung und Anwendung verbindet.
Diese Tradition des Augenmaßes gilt es wiederzubeleben – gegen beide Extreme: gegen die nostalgische Erstarrung ebenso wie gegen den ideologischen Radikalismus.

