Obwohl die Automatisierung in vielen Bereichen Einzug hält und Abläufe dadurch effizienter werden, schlägt sich das in den Produktivitätsstatistiken kaum bis gar nicht nieder. Das ist nicht neu. Vor etlichen Jahren fasste der Wirtschaftsnobelpreisträger Robort Solow die Situation in die Worte: „Computer finden sich überall – außer in den Produktivitätsstatistiken.“ Seitdem wird das Produktivitätsparadoxon der IT (kontrovers) diskutiert.

Es war jedoch nicht immer so, dass die Automatisierung von Tätigkeiten mit geringer Qualifizierung zu einer sinkenden oder stagnierenden gesamtwirtschaftlichen Produktivität geführt hat. Sie lässt sich immer dann beobachten, so Daron Acemoglu und Simon Johnson in ihrem Buch Macht und Fortschritt. Unser 1000-jähriges Ringen um Technologie und Wohlstand, wenn der Fokus auf der Maschinenintelligenz und nicht auf der Maschinennützlichkeit gelegt wird.

Die Einführung neuer Technologien bedarf für ihren Erfolg eines entsprechenden Narrativs, das sich wiederum  auf eine großartige Vision stützt. So geschehen beim Bau des Suez-Kanals. Dessen Erbauer Ferdinand de Lesseps musste zuvor große Widerstände in seinem Heimatland Frankreich und im Ausland überwinden, bevor er sein Werk beginnen und vollenden konnte. Das Großprojekt war ein phänomenaler Erfolg, der weltweit Beachtung fand. Seine Erfahrungen versuchte de Lesseps 1:1 auf den Bau des Panama-Kanals zu übertragen. Obwohl die Ausgangslage hier aus geographischen und geologischen Gründen eine völlig andere war, ließ sich de Lesseps in seinen Planungen davon nicht beeinflussen. Sein Fortschrittsglaube und Optimismus waren so groß, dass er davon überzeugt war, jedes Hindernis mit entsprechendem Einsatz an Mensch und Material aus dem Weg räumen zu können. Das Projekt scheiterte dennoch. Auf der Strecke blieben tausende Arbeiter, die beim Bau ihre Gesundheit oder ihr Leben ließen.

Lesseps‘ Grundhaltung war in mancher Hinsicht bemerkenswert modern. Mit seiner Vorliebe für Großprojekte, seiner optimistischen Einstellung zur Technologie, seinem Glauben an die Macht der Privatinvestoren und seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal all derer, die keine eigene Stimme hatten, würde er gut in die Vorstandsetagen vieler heutiger Unternehmen passen.

Mit den heutigen Unternehmen meinen die Autoren in erster Linie die großen Technologiekonzerne wie Google, Amazon, Apple und Facebook. Durch ihre Macht können sie den gesellschaftlichen Diskurs über die Folgen der Einführung neuer Technologien in ihrem Sinne beeinflussen. Das mündet dann häufig in einer „Visionsfalle“.

Sobald sich eine Vision durchgesetzt hat, kann sich nur noch schwer von ihren Fesseln befreien, weil die Menschen ihren Lehren in der Regel Glauben schenken. Und selbstverständlich wird es noch viel schlimmer, wenn sich eine Vision jeglicher Kontrolle entzieht, Selbstüberschätzung fördert und alle verblendet.

Der Weg, den neue Technologien einschlagen, ist keinesfalls vorgezeichnet. Ihrem Wesen nach sind sie anwendungsoffen. Es gibt daher keinen Mangel an überzeugenden Narrativen, die alternative Entwicklungspfade unterstützen können. Zur Wahl stehen immer zahlreiche mögliche Verwendungen, mit z.T. sehr unterschiedlichen Konsequenzen – vor allem für die gesamtwirtschaftliche Produktivität und die Entstehung neuer oder den Verlust bestehender Tätigkeiten. Produktivitätszuwächse als Folge der Einführung arbeitssparender Verfahren kamen in der Geschichte oft nur einer kleinen Elite zugute, wie im Mittelalter als die Kirche und der Adel das wirtschaftliche Leben der Menschen bestimmten.

Diese schwierige Zeit für die gewöhnlichen Menschen hatte ihren Ursprung darin, dass die kirchliche und aristrokratische Elite die Technologien und die wirtschaftlichen Abläufe so strukturierte, dass es für den Großteil der Bevölkerung schwierig wurde, Wohlstand zu erwerben. Die alltägliche Kontrolle über die Bevölkerung unter Einsatz der Überzeugungskraft stützte sich auf fest verwurzelte religiöse Glaubenssätze, die durch Eingriffe der Gerichte sowie durch Zwang ergänzt wurden.

Heute hat eine blinde Technologiegläubigkeit von vielen Besitz ergriffen. Der Vorstellungen werden in einem nicht unerheblichen Maß von großen digitalen Plattformen geformt. Da sie auf einen großen Bestand an Daten zugreifen können, welche die Nutzerinnen und Nutzer hinterlassen, sind sie in der Lage, deren Verhalten in die gewünschten Bahnen zu lenken. Soshana Zuboff spricht in dem Zusammenhang von einem „Überwachungskapitalismus“[1]Banking im Überwachungskapitalismus. Besonders extrem ist diese Form der ständigen Überwachung und Lenkung in China mit dem Sozialkreditsystem.

Die Geschichte lehrt uns, dass wir die Vorstellungen davon, was als Fortschritt zu beachten ist und was nicht, stets sorgfältig prüfen sollten – insbesondere, wenn mächtige Personen bemüht sind, uns für eine bestimmte Vision zu gewinnen.

Die neue Supertechnologie, welche einen Produktivitätsschub bislang ungekannten Ausmaßen herbeiführen soll, ist die Generative Künstliche Intelligenz bzw. die Künstliche Intelligenz an sich. Zwar ist es gelungen, ein breites Spektrum an Routineaufgaben durch Künstliche Intelligenz (z.B. RPA) zu erledigen; von einer Revolution kann indes keine Rede sein. Bis heute ist es den Methoden der Künstlichen Intelligenz nicht möglich, den Menschen zu ersetzen. Das liegt vor allem daran, dass ihnen die soziale Komponente fehlt und sie sich nicht oder nur sehr schwer auf veränderte Umweltbedingungen/Situationen einstellen können. Kurzum: Ihnen fehlt die soziale und situative Intelligenz[2]Bislang hat der Befund von Hubert Dreyfus Bestand: „Meine Vermutung lautet nach wie vor, dass die KI-Verfahren sich in isolierten Bereichen bewähren werden, aber dort versagen müssen, wo es … Continue reading.

Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass viele Unternehmen ungeachtet der Ausbreitung von KI-Technologien in zunehmendem Maße Arbeitskräfte mit sozialen statt mathematischen oder technischen Kompetenzen suchen. Ursache dieser wachsenden Nachfrage nach sozialen Kompetenzen ist die Tatsache, dass weder traditionelle digitale Technologien noch KI wichtige Aufgaben erledigen können, die mit sozialer Interaktion, Anpassung, Flexibilität und Kommunikation verbunden sind.

Solange der Schwerpunkt der Entwicklung auf der Maschinenintelligenz liegt, die den situativen und sozialen Aspekt der menschlichen Kognition und dynamische Verhaltensänderungen nicht umfassend verstehen und nachvollziehen kann, werden die Defizite der KI, wie in Form der Überanpassung (Overfitting), zu unbefriedigenden Ergebnissen führen[3]„.. die Überanpassung bleibt ein Stachel im Fleisch statistischer Methoden, weil sie in einer grundlegenden Weise mit den Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen KI-Hypes zusammenhängt: Dem … Continue reading.

Um die Produktivität zu erhöhen und dabei neue Tätigkeiten zu schaffen, ist eine stärkere Berücksichtigung der Maschinennützlichkeit nötig. So können neue Technologie dazu beitragen, bessere Informationen und Plattformen für die Zusammenarbeit und Entwicklung neuer Tätigkeiten zu liefern und dadurch die Produktivität der Arbeitskräfte zu erhöhen. Beispielhaft dafür ist das Industrielle Metaversum. Diesen Effekt gab es bereits in der Vergangenheit, als im Zuge der Elektrifizierung die Ingenieure und Angestellten an Einfluss gewannen, indem sie Fabriken und den Produktionsprozess restrukturierten, was sich wiederum positiv auf die Produktivität und die Arbeitsbedingungen auswirkte.

Diese Angestellten erneuerten die Fabrik und machten sie effizienter. Dies hatte eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften zur Folge – nicht nur nach Angestellten, sondern auch nach Arbeitern, die ganz neue Aufgaben übernahmen.

Damit jedoch die Produktivität ihre Sogwirkung ausüben kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Die Grenzproduktivität der Arbeitskräfte muss steigen und diese müssen sich in einer ausreichen starken Verhandlungsposition befinden.

Die Autoren nennen als lobendes Beispiel die Mitbestimmung und die duale Ausbildung in Deutschland.

Schlussbetrachtung

Die Autoren legen überzeugend dar, weshalb die derzeitige Fixierung auf Digitalisierung und Künstliche Intelligenz die Ungleichheit in der Gesellschaft verstärkt. Produktivitätssteigerungen, so sie überhaupt gegeben sind, fallen einem kleinen Personenkreis zu. Mit immer neuen Versprechen, dass die neuen Technologien unser aller Los verbessern werden, locken Investoren, Startup-Unternehmer und Berichterstatter die Menschen in eine Visions-Falle. Ohne Gegenwehr, ohne das Aufzeigen alternativer Wege, wie neue Technologien zum Nutzen und zum Wohle möglichst vieler Menschen beitragen können, wird selbst eine deutlich steigende Produktivität nicht zu mehr Wohlstand für alle führen. Die Zukunft ist keineswegs vorbestimmt. Ein Technologie-Determinismus existiert nicht. Es liegt an uns, an der Gesellschaft, welchen Weg wir einschlagen wollen. Ob das von Acemoglu und Johnson vorgelegte Rahmenprogramm (z.B. Subventionen für Technologien, die den Arbeitsanteil erhöhen und die menschliche Arbeitskraft ergänzen, Zerschlagung der Tech-Konzerne, Investitionen in Arbeitskräfte) das geeignete Mittel ist, sei dahin gestellt.

Unstrittig sollte indes sein, dass Technologien nicht sich selbst überlassen werden dürfen und ihre Verwendung gesellschaftlichen Entscheidungen unterliegen sollte.

Den Autoren kommt das Verdienst zu, den Zusammenhang zwischen technologischem Fortschritt und des ihn begleitenden gesellschaftlichen Wandels anschaulich dargestellt zu haben.

References

References
1 Banking im Überwachungskapitalismus
2 Bislang hat der Befund von Hubert Dreyfus Bestand: „Meine Vermutung lautet nach wie vor, dass die KI-Verfahren sich in isolierten Bereichen bewähren werden, aber dort versagen müssen, wo es um das Verstehen natürlicher Sprachen, das Erkennen gesprochener Texte, das Verstehen von Geschichten und um Lernen geht – also um Bereiche, deren Struktur die Struktur unserer alltäglichen physikalischen und gesellschaftlichen Welt widerspiegelt“, in: Die Grenzen künstlicher Intelligenz. Was Computer nicht können. Sog. LLM basieren nicht auf dem Verstehen, sondern auf statistischen Wahrscheinlichkeiten
3 „.. die Überanpassung bleibt ein Stachel im Fleisch statistischer Methoden, weil sie in einer grundlegenden Weise mit den Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen KI-Hypes zusammenhängt: Dem Fehlen einer Theorie der Phänomene, die modelliert werden sollen“.