Die Produktionsverlagerungen deutscher Automobilhersteller in den Osten Europas erscheinen vielen als ökonomische Erfolgsstory – doch hinter diesem Wandel verbirgt sich eine Dynamik, die bereits aus der Textilbranche und dem Fall Nokia bekannt ist: ein globaler Standortwettbewerb, der immer neue Billiglohnländer sucht. Steuern wir auf ein neues „race to the bottom“ zu, dessen soziale und wirtschaftliche Folgekosten systematisch ausgeblendet werden?
Die Geschichte der Globalisierung ist voller Beispiele für Branchen, die den Weg des geringsten Widerstands gehen. Angetrieben von Kostendruck und Aktionärsinteressen entstehen tiefgreifende Verlagerungsprozesse, die sowohl alte Industrieregionen ausbluten lassen als auch in den Zielländern Krisenpotenzial bergen. Was sich lange Zeit in der Textilindustrie abspielte und mit Nokia in Bochum seinen symbolischen Höhepunkt fand, droht nun zum roten Faden der europäischen Automobilindustrie zu werden.
Die Logik dahinter scheint zwingend: Sobald Löhne, Abgaben oder Umweltstandards an einem Standort steigen, lockt der nächste billigere Produktionsstandort. Produzenten und Zulieferer wandern in die nächste „Peripherie“, koste es die alte Heimat Marktstabilität, Innovationskraft und soziale Sicherheit. Der Wettbewerb um Investitionen befeuert einen Abwärtsstrudel, in dem Länder ihre Standards unterbieten, um begehrte Industriearbeitsplätze zu sichern.
Doch der Preis solcher Verlagerungsketten ist hoch: Empirisch zeigen sich nachhaltige Standortvorteile meist als Illusion. Die kurzfristigen Effekte von Wachstum, Beschäftigung und Modernisierung werden durch wachsende Abhängigkeit von einigen Großunternehmern und große soziale Unsicherheiten überlagert. Lohnvorteile schmelzen im Takt steigender Ansprüche dahin, sodass das Spiel schnell von vorn beginnt – wie ein Perpetuum Mobile des Standortwettbewerbs.
Die Bilanz ist ernüchternd. Nur wenige Regionen profitieren auf Dauer; für viele entsteht eine gefährliche Unsicherheit – sowohl für die Industriestandorte in Deutschland als auch für die Zwischenziele entlang der Wertschöpfungskette. Das „race to the bottom“ ist kein theoretisches Konstrukt, sondern bittere, europäische Realität.
Eine ökologische Wende bietet dabei keine nachhaltige Lösung für das Standortdilemma. Im Gegenteil: Strengere Umweltauflagen und ambitionierte CO2-Ziele haben die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland weiter geschwächt. Die Abwanderung der Industrie beschleunigt sich, weil Unternehmen Standorte suchen, wo der regulatorische und kostenseitige Druck geringer ist. Das Argument, dass neue „grüne“ Jobs in größerem Umfang entstehen, hält einer empirischen Überprüfung nicht stand – zumindest nicht, wenn man nur jene Stellen zählt, die ohne staatliche Subventionen, Förderprogramme und Umverteilungsmechanismen existieren. Die Folge: Ein erheblicher Teil der neuen Arbeitsplätze ist weniger Resultat privatwirtschaftlicher Innovation als Ergebnis öffentlicher Transfers. Gleichzeitig entstehen Strukturverluste und soziale Verwerfungen, für die die ökologische Transformation nun nur als ein weiterer Brandbeschleuniger einer ohnehin schwelenden Standortkrise wirkt.
Die zentrale Frage bleibt: Wie kann eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch tragfähige Industriepolitik aussehen, die diese Spirale durchbricht, Innovation und Beschäftigung nicht nur kurzfristig sichert, sondern langfristig in der Region und im Unternehmen hält? Es braucht mehr als den nächsten Billiglohn-Deal – und mehr als idealistische Versprechen einer „grünen“ Arbeitsgesellschaft. Es braucht endlich eine echte industriepolitische Strategie, die Wertschöpfung, Mitbestimmung und Nachhaltigkeit auf europäischer Ebene miteinander versöhnt.
Quellen:
Produktionsverlagerung der Zulieferer der Automobilindustrie: Fokus Mittel- und Osteuropa (MOE)
Nach Produktion kommt Forschung und Entwicklung: Mittel- und Osteuropa als Ziel für
Auslandsinvestitionen in der Automobilindustrie
Gibt es einen europaspezifischen Entwicklungsweg in der Automobilindustrie?
Umzug nach Rumänien. Rechnet Nokia falsch?
Verlagerung nach Mittelosteuropa und Wandel der Arbeitsmodelle in der Automobilindustrie
Deutsche Firmen streben wieder nach Osteuropa
Produktionsverlagerungen: Wo und warum?